Gespräch zweier Sex-Experten am Rand des Gemeindetages in Berlin…
Der Auftritt von Ruth Westheimer war eine humorvolle Veranstaltung. Seit Jahrzehnten spricht „Dr. Ruth“, wie die deutsch-amerikanische Sexualtherapeutin genannt wird, in Radioshows, mehr als 450 Fernsehsendungen und unzähligen Büchern über Sex. Auf dem Gemeindetag traf sie nun den deutschen Buchautor Gerhard Haase-Hindenberg, der mit den Bestsellern „Sex im Kopf“ und „Die enthemmten Deutschen“ (beide ROWOHLT) auf sich aufmerksam machte zu einem Gespräch:
In deinem Buch ‚Himmlische Lust’ schreibst du, dass deine orthodox jüdische Familie, in der du in Frankfurt aufgewachsen bist, „mehr in der europäischen, als in der jüdischen Kultur verwurzelt“ war. Du wärst, so deine These, „dem Sex gegenüber offener und neugieriger gewesen“, wenn deine „Haltung stärker jüdisch als europäisch beeinflusst gewesen“ wäre…
Richtig. Irgendwann habe ich mich, als ich schon in Amerika lebte, mal gefragt, warum es mir im Radio und in den Büchern und später auch in über 450 Fernsehsendungen sehr viel leichter fällt, offen über Sex zu sprechen, als jenen, die einen amerikanisch-puritanischen Hintergrund hatten. Und da habe ich mal ein bisschen nachgeforscht und fand heraus, dass es wohl daran liegt, dass ich sehr jüdisch bin, wenngleich nicht mehr orthodox wie in meiner Kindheit. Auch in Gesprächen mit Jonathan Mark…
…deinem Co-Autor beim Buch ‚Himmlische Lust’…
…wurde mir klar, dass ich deshalb so frei darüber sprechen kann, weil in der jüdischen Religion der Sex nie eine Sünde war.
Verstehe ich das richtig: Du hast schon Radio- und sogar auch schon Fernsehsendungen zum Thema Sex gemacht, bevor du überhaupt begonnen hast, nach den Gründen für deine Unbefangenheit zu suchen, um sie schließlich in deinem Jüdischsein zu entdecken?
Ja, wirklich erst sehr spät.
Lebst du in New York ein sehr jüdisches Leben?
Nun, ich bin Mitglied in zwei Synagogen – die eine ist konservativ und die andere ist eine Reformsynagoge. Das hat einen Vorteil. Wenn ich in der einen nicht bin, denkt man, ich sei in der anderen und umgekehrt. In Wirklichkeit kann ich ins Theater gehen oder zu einem philharmonischen Konzert. (lacht) Tatsächlich bedeutet mir das Judentum sehr viel. Ich war eine Weile auch noch in einer sehr frommen Synagoge, aber die wurde geschlossen. Es gab nicht genügend Leute, die dort hingingen.
Ich kann die These absolut unterschreiben, wonach das Judentum sexualfreundlich ist. Ich denke, dass hierin auch die Erklärung zu suchen ist, weshalb so viele Sexualtherapeuten – von Sigmund Freud über Magnus Hirschfeld bis zu dir – jüdisch waren und sind.
Ich weiß nicht, wie jüdisch Magnus Hirschfeld war. Wichtig an ihm war sicher, dass er homosexuell gewesen ist und sich offen dazu bekannt hat. Das war damals sehr selten. Und Freud …
…war nahezu anti-religiös!
Mit ihm hab ich große Probleme, obwohl er auf manchen Gebieten ein Genie war. Aber vielleicht hätte er mal einen Kurs bei mir besuchen sollen, denn in Bezug auf die weibliche Sexualität war er ein Ignorant. Der hat vielen Frauen für deren ganzes Leben Probleme bereitet, weil er gesagt hat, dass wer die Klitoris berühren muss, um einen Orgasmus zu kriegen, eine unreife Frau sei. Eine „reife Frau“ sei demnach nur eine Frau, die einen vaginalen Orgasmus bekommen kann. Das ist natürlich Quatsch.
Sigmund Freud hätte nur die Schriften des Rabbiners Mosche ben Nachman, genannt Ramban, lesen müssen. Das war einer der bedeutendsten jüdischen Religionsgelehrten im 13. Jahrhundert. In seinem heiligen Brief „Igereth Hakodesch“, schreibt er, dass ein Ehemann mit seiner Frau könne „in jeder beliebigen Weise verfahren und jedes Organ ihres Körpers nach Wunsch küssen und Geschlechtsverkehr auf natürliche und unnatürliche Weise haben“…
Das war doch für die damalige Zeit enorm. Ich zitiere diesen Rabbiner auch immer, weil ich zeigen will, wie gescheit die Weisen waren, um den Sex nicht langweilig werden zu lassen. So wie es langweilig ist, wenn der Geschlechtsakt immer nur in der gleichen Position stattfindet und immer am selben Tag, selbst wenn es der Freitagabend ist.
Wobei ich mich immer gefragt habe, was unter einer „unnatürlichen Weise“ gemeint ist?!
Nun, zum Beispiel der Geschlechtsakt von hinten, wobei darunter nicht anal zu verstehen ist. Der Vorteil bei dieser Stellung ist, dass der Mann beim Einführen seines Glieds die Klitoris sehr intensiv berührt und die Frau zum Orgasmus bringen kann. Ich fordere bei meinen Vorträgen oft die Paare auf, beim nächsten Geschlechtsakt eine Position einzunehmen, in der sie noch nie zuvor jemals Verkehr hatten.
Gibst du mir recht, wenn ich darin einen talmudischen Hinweis sehe, dass Sex eben nicht nur zum Zwecke der Fortpflanzung, sondern auch zum Vergnügen da ist?
Unbedingt! Es steht ja auch geschrieben, dass der Ehemann selbst nach der Menopause seiner Frau weiterhin die Verpflichtung hat, sie zu befriedigen.
Also in einer Lebensphase, in der die Frau gar nicht mehr schwanger werden kann?!
Genau! Und das ist sehr wichtig. Im Judentum wird Sex also auch zum Zwecke der Lust betrieben.
Es wäre ja auch ein Widerspruch, dass zwar an jedem Shabbes, an dem die Frau „rein“ ist, der Geschlechtsakt stattfinden soll – also etwa drei Mal im Monat –, gleichzeitig aber soll dies nur zum Zwecke der Fortpflanzung geschehen…
Diejenigen, die den Sex ausschließlich als Mittel zur Kinderzeugung verstehen, argumentieren mir ein bisschen zu sehr katholisch. Für die jüdische Religion stimmt das nicht.
Lass mich noch mal zu Rabbiner Mosche ben Nachman kommen. Er versteht den Sex als spirituellen Akt, nämlich als Teilhabe an der Welt und direkte Eintrittskarte in die Wohnung G’ttes! Das Judentum kennt also – im Gegensatz zu den beiden anderen Offenbarungsreligionen – einen positiven religiösen Aspekt der Sexualität?!
Keine Frage – zu 100 Prozent richtig. Das muss unbedingt noch weiter gelehrt werden, denn dazwischen gab es ja eine Zeit, in der man nie über Sexualität gesprochen hat und das hat auch die Juden bedrückt. Plötzlich dachten viele von ihnen, dass Sex etwas Schmutziges sei über das man nicht spricht. Also lass uns betonen, ohne die anderen Religionen zu diskriminieren, dass unsere Religion dem sexuellen Bereich sehr positiv gegenübersteht.
In der Tora finden wir sogar Beispiele für Verfehlungen. Für Ehebruch etwa bei David und Batseba – der Frau eines seiner Offiziere…
Ich habe ein großes Problem mit der Batseba. Sie hat nackt auf dem Dach gebadet, obwohl sie genau gewusst hat, dass König David sie sehen kann.
Also ist die Frau schuld?
Auch, aber nicht alleine…
Ganz bestimmt nicht. Nachdem David mir ihr geschlafen und sie dabei geschwängert hat, versucht er ihrem Ehemann das Kind unterzuschieben. Als das misslingt, gibt David den militärischen Befehl, Batsebas Gatten im Krieg gegen die Ammoniter so einzusetzen, dass er ums Leben kommt.
Ich verstehe gar nicht, warum wir König David so verehren. Für mich ist das eine ganz schlimme Sache. Es gibt andere Geschichten in der Tora, die mir besser gefallen – zum Beispiel die von Ruth und Naomi.
Es ist ein Beispiel für außerehelichen Geschlechtsverkehr, da Naomi ihre Schwiegertochter Ruth ins Schlafgemach von Boas schickt…
Aber Boas war ein Witwer und Ruth eine Witwe. Naomi wusste schon was sie tut. Sie wusste, wenn Boas erwacht und Ruth zu seinen Füßen liegt, wird er erregt sein, mit ihr schlafen und sie dann heiraten.
Deren Ururenkel Salomon soll in seinem Leben mit 1000 Frauen geschlafen haben…
Das halte ich für unmöglich. Der hatte im Leben keine 1000 Erektionen gehabt… (kichert) Aber es ist ganz gut, dass die Schriften ein bisschen übertreiben. Denn dann können wir darüber lachen und das ist wichtig. Denn wenn etwas mit Humor gelehrt wird, merken sich die Schüler das leichter.
Du schreibst in einem deiner Bücher, dass die Tora nicht nur Fehler, Abweichungen und Schwächen beschreibt, sondern sie auch wieder vergibt. Ist für dich ein außerehelicher Geschlechtsverkehr ein Fehler, eine Abweichung oder eine Schwäche?
Alles drei. Ich weiß natürlich, dass das passiert. Dennoch bin ich altmodisch und empfehle, das Beste mit einem festen Partner zu machen. Benützt eure Fantasie und ich sage speziell zu Frauen: Ihr könnt euch meinetwegen vorstellen, dass eine ganze Fußballmannschaft mit euch im Bett ist, aber haltet den Mund.
Du schreibt in einem deiner Bücher: „Die schwierigste Hürde, die ein Patient in der Therapie zu überwinden hat, ist, zu lernen, sich mit den Brüchen und dunklen Flecken seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, den Sünden von gestern.“ Ist dieser Hinweis auch für nicht-jüdische Patienten hilfreich?
Ganz bestimmt! Wenn etwas für Juden richtig ist, können das Nicht-Juden auch erlernen. Die anderen Religionen können von uns Juden lernen, wie man zusammen lebt und bis ins hohe Alter weiter sexuell tätig sein kann. Ich sagte ja vorhin, dass der Mann nach der jüdischen Religion auch dann noch immer verpflichtet ist, seinen Verpflichtungen gegenüber der Frau nachzukommen.
Es gibt also für alle möglichen sexuellen Erscheinungen Beispiele in der Tora, die Rabbiner, Tora-Gelehrten und Kabbalisten erklären teils erstaunliche Sexualpraktiken als g’ttgefällig – lediglich unsere homosexuellen Männer haben schlechte Karten. Sie müssen mit jener Bibelstelle Levitikus 18,22 leben, die ihre Sexualität als „Gräuel“ bezeichnet!?
Das ist sehr traurig, Es gibt zum Beispiel Synagogen, in denen nur verheiratete Männer den Tallit tragen dürfen. Wenn man also nun in diese Synagoge kommt und einen Beter ohne Tallit sieht, der nicht mehr ganz jung ist, steht sofort die Frage, weshalb er nicht verheiratet ist.
Inzwischen können ja auch homosexuelle Männer untereinander heiraten…
…aber nicht in der jüdischen Religion nur im Zivilleben. Man sagt in Amerika dann nicht mehr „partner“, sondern „husband“. Im Übrigen habe ich immer gesagt, wenn die orthodoxen Rabbiner sich auf diese Stelle bei Leviticus beriefen, dass man damals wie heute gar nichts über die Ursachen der Homosexualität weiß. Davon unabhängig aber bin ich überzeugt, und das sage ich schon seit vielen Jahrzehnten, dass man jeden Menschen, egal welcher sexuellen Orientierung, respektieren muss. Punkt!
Nun würde ich gern auf Umstände zu sprechen können, die ich für mein Buch „Die enthemmten Deutschen“ recherchiert habe. Inzwischen sind – hierzulande mehr als in den USA – Pornographie, Sexclubs für verschiedene Präferenzen, Gangbang-Parties und Parkplatzsex gesellschaftsfähig geworden. Es gibt keinen spirituellen Hintergrund dabei, nicht mal einen romantischen, sondern nur die pure Lust. Die Sexualtherapeuten sind schon froh, wenn es unter allen Beteiligten einvernehmlich zugeht. Ist das eine Entwicklung die dich beunruhigt?
Ganz bestimmt. Vor allem beunruhigt es mich, dass es die Familie auseinander bringt. Allerdings bin ich nicht gegen Scheidung, in der jüdischen Religion ist das möglich. Was mich viel mehr dabei beunruhigt, ist, dass wir wieder mehr AIDS-Kranke sehen oder andere Geschlechtskrankheiten erleben werden. Deshalb sage ich immer: „Versucht das Beste aus der Beziehung mit eurem Partner zu machen.“
Nun sagten mir während meiner Recherche viele, dass ihre Ehe gerade dadurch gerettet wurde, dass sie auf Partys gegangen sind, wo man auch andere Sexualpartner unter Aufsicht des Ehepartners ausprobieren und dabei sogar Lust empfinden kann…
Also, ich bin nicht dafür, weil das vielfach zur Eifersucht führt. Denn es besteht ja die reale Gefahr, dass der Sex mit jemand anderem besser ist. In dieser Beziehung habe ich meine Meinung nie geändert – ich war immer altmodisch. Und deshalb halte ich es für besser, wenn zwei Leute an ihrer Beziehung arbeiten. Na und wenn alle Stricke reißen, bleibt immer noch die Scheidung.
Und vielleicht sollte man mal wieder im 1. Buch Mose das 19. Kapitel lesen: die Geschichte vom Untergang der Städte Sodom und Gomorra!
(lacht) Zum Abschluss meiner Vorträge erzähle ich manchmal den Witz, in dem der Rabbinerstudent am Shabbes-Abend unterm Bett vom Rabbi liegt, der natürlich mit der Gattin den Geschlechtsakt vollzieht. Als der Rabbi seinen Schüler erwischt, sagt der: „Rabbi, was Sie hier tun, ist eine Mizwa der Tora und die Tora muss ich von Ihnen lernen!“
Gerhard Haase-Hindenberg hält auf Anfrage Vorträge zum Thema „Sex und Judentum“. Kontakt: haase-publizist@versanet.de
Bild oben: (c) Crispin McAllister
Der Beitrag erschien zuvor in der Jüdischen Rundschau.
Ein schönes und humorvolles Interview über eine ziemlich aufregende Sache im Leben. Danke für die inspirierenden Ausführungen.
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