Unterwegs als sicherer Ort

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Auf Spurensuche in Shanghai

Hongkou, das jüdische Ghetto im japanisch besetzten Shanghai während des Zweiten Weltkrieg ist für die überwiegende Mehrzahl der Menschen von heute ein vergessener Ort. Aber als die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft 1997 ein Forum zu diesem Flüchtlingslager mit überlebenden Juden und chinesischen Dissidenten veranstaltete, wußten die Organisatoren selber nicht, was sie damit auslösten. Am Ende gab es sogar die Verurteilung eines deutschen Nazitäters, ein Buch und – unabhängig davon – einen spannenden Dokumentarfilm mit dem Kölner Autor Peter Finkelgruen…

Von Hajo Jahn
Erstmals veröffentlicht 2007

Zunächst aber entstand eine heftige Diskussion unter den jüdischen Teilnehmern, die aus ganz Deutschland, Kanada, USA, Israel und Tschechien nach Wuppertal eingeladen worden waren. Wuppertal ist die Geburtsstadt der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler. Weil deren Bücher verbrannt, ihre Theaterstücke verboten, ihre Zeichnungen aus der Berliner Nationalgalerie als „entartet“ entfernt wurden, und die Vertonungen ihrer Gedichte durch Paul Hindemith und andere „undeutsche“ Komponisten während der NS-Zeit nicht aufgeführt werden durften, kämpft die „politische“ Literaturgesellschaft für ein „Zentrum der verfolgten Künste“.

Der Weg zu dieser Einrichtung, die nun im Solinger Museum Baden langsam realisiert wird, und die im Internet unter www.exil-archiv.de ständig wächst, führte über solche Foren wie die „Shanghai-Veranstaltung“ 1997, weil der Brunnen der Gegenwart und Zukunft gespeist wird aus der Quelle der Vergangenheit.

„Nur“ wegen abweichender Meinung belangt

Was die Mehrheit der Überlebenden, überwiegend in Shanghai im Ghetto geborenen Teilnehmer damals zunächst heftig störte, war die Tatsache, dass auch chinesischer Dissidenten eingeladen worden waren – Dichter wie Else Lasker-Schüler, Künstler, die als Exilanten aus dem Koffer leben wie die Eltern jener Forums-Teilnehmer, die ihren anfänglichen Protest damit begründeten, dass Juden noch so laut hätten „Heil Hitler“ schreien können, ohne deshalb vor den Gaskammern bewahrt zu werden.
Verfolgt, nur weil sie Juden waren. Chinesische Dissidenten aber würden in der Volksrepublik doch „nur“ wegen ihrer abweichenden Meinung belangt, nicht weil sie Chinesen, Buddhisten oder Konfuzianer seien…

Der Wortführer der Protestgruppe war zu jener Zeit Geiger bei den Berliner Philharmonikern. Er wurde nachdenklich nach dem Diskussionshinweis, dass er mitmache in jenem Klangkörper, der von Goebbels und der NSDAP vor der Pleite gerettet wurde, dass sich Dirigent Wilhelm Furtwängler mit den Nazis arrangierte und dass sein Nachfolger Herbert von Karajan gleich zweimal in die Nazipartei eingetreten war, erst in Österreich, später in Deutschland.

Keineswegs Themen von gestern

Akzeptiert wurde schließlich auch das Argument, dass den kommenden Generationen das Entstehen und Funktionieren von Diktaturen nur vermittelt werden könne, wenn deutlich werde, dass es sich dabei keineswegs um Themen von gestern handle. Deshalb sei die Einladung der Kollegen von Else Lasker-Schüler an Dichter, die in Paris und London Zuflucht gefunden hatten, nicht nur richtig, sondern auch notwendig. Journalisten, Schriftsteller und andere Intellektuelle würden verfolgt werden, solange es machtgeile Poltiker gibt. (Was sich etwa in Putins Russland nicht erst seit dem Mord an Anna Politkowskaja schrecklich bewahrheitet.)

„Flucht in die Freiheit“ hieß jenes Lasker-Schüler-Forum 1997, an dem sich auch der Kölner Schriftsteller Peter Finkelgruen beteiligte, der als Mitglied des „Exil-PEN“ die Grundidee der Veranstalter unterstützte, die Verfolgung von heutigen Regimegegnern wie den chinesischen Dichtern in das Else Lasker-Schüler-Forum einzubeziehen. Just zum Zeitpunkt des Forums war ein WDR-Film mit und über Peter Finkelgruen gedreht und später gesendet worden.

Vom SS-Wachtmann Malloth zu Tode geprügelt

„Unterwegs als sicherer Ort“ hieß die Dokumentation eines bemerkenswerten deutschen Schicksals: Peter Finkelgruen war im Ghetto Hongkou am 9. März 1942 zur Welt gekommen. Seine Eltern waren aus Prag geflüchtet. Die Großeltern, die aus Deutschland in die zunächst noch freie Tschechoslowakei emigriert waren, betrieben am Wenzelsplatz ein Geschäft. Großvater Martin, ein deutscher Jude, wurde von seiner „arischen“ Frau versteckt, nachdem die Wehrmacht das kleine tapfere Land überfallen hatte. Übrigens war es der spätere Präsident des bundesdeutschen Arbeitgeberverbandes Hans-Martin Schleyer, der zu jener Zeit die „Arisierung“ der jüdischen Unternehmen und Geschäfte besorgte.

[youtube]https://youtu.be/z2CfnmGdRV0[/youtube]

Peter Finkelgruens Großvater wurde verraten und in Theresienstadt von dem SS-Wachtmann Anton Malloth zu Tode geprügelt. Obwohl der in Abwesenheit dafür in der CSSR zum Tode verurteilt wurde, konnte Malloth herrlich und in Freuden eine von Deutschland gezahlte Rente in einem erstklassigen Altersheim bei München verzehren, während mit Einkommen aus seinem Besitz in Südtirol alten SS-Kameraden unter die Arme gegriffen wurde. Bei dem späteren Else-Lasker-Schüler-Forum „Letzte Enklave der Poesie“ über das Ghetto-Konzentrationslager Theresienstadt konnte ein Augenzeuge gefunden werden, der Anton Malloth beobachtet hatte und gegen ihn aussagen konnte. Diese Aussage führte endlich zu einer Überstellung des NS-Verbrechers nach Tschechien und zu seiner Haftverurteilung.

Peter Finkelgruens langjähriger Kampf

Peter Finkelgruens langjähriger Kampf, ausgetragen in Reportagen und Buchveröffentlichungen, hat lange gedauert. Sein Vater war wegen der unsäglichen Bedingungen noch in Hongkew, seine Mutter kurz nach der Rückkehr in Prag an Erschöpfung gestorben. Daraufhin machte sich die Großmutter mit dem Waisenjungen auf nach Israel. Doch die blonde Deutsche war so kurz nachdem millionenfachen Judenmord der Nazis herzlich unwillkommen. Und Peter Finkelgruen wollte nach all dem nicht noch durch Vorweisen einer vorhandenen oder nichtvorhandenen Vorhaut beweisen, dass er Jude war.

Der Weg zurück nach Westdeutschland war vorgezeichnet, auch wenn sein Kampf um die Verurteilung des Mörders seines Großvaters bei den deutschen Behörden kaum auf Interesse und noch weniger auf Unterstützung stieß. Der erwachsene Peter Finkelgruen hat sich bei den Aufnahmen zum Film des Kölner Filmemachers Dietrich Schubert in Shanghai in der winzigen Wohnung erinnern können, wie die einzige Dusche für ihn und seine Leute der Regen im Freien war. Dass aber Erinnern über einzelne Menschen und ihre Schicksale hinausgehen kann, haben die Else-Lasker-Schüler-Foren in Jerusalem, Breslau und Prag eindrucksvoll bestätigt. In Polen und Tschechien fanden diese einwöchigen Veranstaltungen während der dort heftig geführten Diskussionen um das „Vertreibungszentrum“ des Bundes der Vertriebenen statt. Die Idee eines „Zentrums der verfolgten Künste“ wurde als politisch korrekt aufgefasst, sonst hätten nicht der ehemalige polnische Außenminister Bartoszewski, Lech Walesa und Vaclav Havel als Teilnehmer bzw. Schirmherren zur Verfügung gestanden. Sie waren auch mit dem Argument gewonnen worden, dass die Vertreibung mit der Verfolgung der Künstler und Intellektuellen 1933 begonnen hat – was nach 1945 passierte, war die Folge.

Peter Finkelgruen – Shanghai, Prag, Israel und Köln