Die Lyrikerin, Essayistin und Erzählerin Esther Dischereit gehört zu den bedeutenden zeitgenössischen jüdischen Stimmen in der deutschen Literatur. Zu ihren Themen zählen auch Rassismus, Ausgrenzung und Rechtsextremismus. Für das Werk „Blumen für Otello“ besuchte Dischereit regelmäßig die Sitzungen des Bundestagsuntersuchungsausschusses zu den NSU-Morden. Seit 2012 ist sie Professorin für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Im Interview erzählt sie über ihren Weg zur Literatur und den Prozess des Schreibens …
Interview: Timo Brandt, Fixpoetry
Foto: © Bettina Straub
Bis heute sind drei belletristische Prosabände von dir im Suhrkamp-Verlag erschienen: „Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte“ (1988), „Merryn“ (1992) und „Der Morgen an dem der Zeitungsträger. Erzählungen“ (2007). Wie würdest du heute auf ihre Entstehungsgeschichten zurückblicken? Was thematisieren sie und welchen Ehrgeiz hattest du beim Schreiben?
Zu „Joëmis Tisch“. Eine jüdische Geschichte. Ich mußte das schreiben. Wie jemand mit Watte vor dem Mund. Ein Buch, in dem die sog. zweite Generation nach der Shoah sichtbar wird, bruchstückhaft, zögernd, wie verschwindend unter der Zeugenschaft der überlebenden Generation. Es spielt in einem Deutschland nach 1945, in dem die Stimmen der Mehrheit die Existenz jüdischen Lebens übertönen und die Perspektive ehemaliger Täter*innen und Mit-Täter*innen die beherrschende ist. Es macht der Ich-Erzählerin deutlich Mühe, festzustellen, was Jüdisch-Sein bedeuten könnte.
„Merryn“, eine Bewegung fort von einem Wir und hin zu einem literarischen Ich. Weiterhin angebunden an eine suchende Bewegung, in der eine junge Frau feststellen möchte, wer sie eigentlich ist und warum sie an diesen oder jenen Ort geraten ist.
„Der Morgen an dem der Zeitungsträger“: Es geht hier um die Frage der Vergangenheits- oder Geschichtslosigkeit – kann es sie geben – und darum, wie die Projektion des Fremd- und Andersseins funktioniert. Täglich steht eine Frau hinter ihrer Wohnungstür und lauscht. Hier experimentierte ich mit der Frage, was schreibt, wenn nichts schreibt. Schreiben als verselbständigte Form, die sich davon lösen könnte, etwas zu transportieren. Die Zweckhaftigkeit des Sprechens tritt zurück oder tritt ein in den Fluß von Wörtern und Worten, die eine Bewegung erzeugen, gleichgültig, ob ich sie als Erzählerin darum gebeten habe oder nicht. Es geht hierbei auch immer wieder um Inhalte, die nicht ausgesprochen werden, aber vorhanden sind. Wie sind sie schreibbar und wie schreiben sie sich sozusagen trotzdem ein und fort. Ein Buch, in dem ich auf etwa achtzig Seiten eine Novelle schrieb, von der ich nicht sagen kann, wodurch sie sich eigentlich fortbewegte. Andere Erzählungen in diesem Band wie zum Beispiel „Mit Eichmann an der Börse“ haben bereits einen nahezu kanonischen Status erreicht.
Bei den Essaybänden „Übungen jüdisch zu sein“ und „Mit Eichmann an der Börse“ ging es im Wesentlichen darum, mich in eine Debatte einzumischen. Allerdings würde ich „Übungen jüdisch zu sein“ heute wahrscheinlich nicht mehr schreiben können. Ich schrieb gegen etwas, gegen die Lüge, gegen die Verkleisterung, gegen Philo- und Antisemitismus. Gegen Ausdrucksformen, die mir wehtaten. Mit der Zeit bin ich sowohl dickhäutiger als auch dünnhäutiger geworden. Ich stelle fest, dass die Aktualität dieses Buches ungebrochen ist, und ich werde in den USA und Deutschland oft gebeten, hieraus zu lesen. Ich tue das. Es ist merkwürdig, wie sehr der Stoff mir nahe bleibt. Einige Stücke hieraus sind in die englische Sprache übersetzt worden.
Ich bleibe diesem Diskurs, den ich hier begonnen habe, verbunden. Mein Schreiben hat sich verändert. Ich führe die Fragen, die mich hier bewegt haben, in anderer Form, auf anderen Gebieten, weiter: Minoritäten, Diversität, Anti-Islamismus und andere Diskriminierungen, die dem Begriff „Race“ zuzuordnen sind.
Was liest du gerade? Oder welches Buch liest du immer wieder? (+ deine Impressionen dazu?)
Ich lese gerade Saul Friedländer „Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben.“ Ein Buch, das die Anfänge der Gründung des israelischen Staates mit einem scharfen Blick für die Folgen, die die Palästinenser zu tragen hatten und tragen, verbindet. Friedländers Beobachtungen der „Bewältigungsdiskurse“ in der Bundesrepublik Deutschland geben mir das Gefühl, in jenen Zeiten, in denen ich „Joëmis Tisch“ schrieb – oder „Übungen jüdisch zu sein“ – doch nicht so seltsam allein gewesen zu sein. Das ist mir wichtig, auch wenn ich das jetzt erst erfahre. Es scheint Saul Friedländer nicht immer schon klar gewesen zu sein, dass er sich als Historiker einmal ganz und gar auf die Holocaust-Forschung konzentrieren würde.
Außerdem fand ich hier eine sehr interessante Anmerkung darüber, wie jemandem jeglicher Heimatgedanke fremd bleiben kann.
August Schmölzer: Der Totengräber im Buchsbaum. Dieses Buch schenkte mir eine Professorin der Universität von Virginia in den USA. Das Prosawerk eines Autors, der sehr stark vom Film geprägt ist. Beeindruckend, deutlich, parteiisch, nicht so ein Geknödel. Hier wird die persönliche Verantwortung auf Unterlassung und Teilnahme an den Verbrechen einer Nation verhandelt.
Wie begann deine eigene literarische Karriere? Hast du in Literaturzeitschriften veröffentlicht, bist du viel auf Lesungen gegangen oder gab es in deiner Umgebung Schreibgruppen oder ein anderes literarisches Umfeld? Gab es einen literarischen Initialmoment?
Ich habe wahrscheinlich ein- oder zweimal im Hessischen Literaturboten veröffentlicht, einmal in einer Zeitung (Kindergeschichten), bevor „Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte“ erschien. Ein Buch, das mitbestimmend wurde für die Rezeption deutsch-jüdischer Gegenwartsgeschichte. Es war die erste literarische Veröffentlichung der sogenannten Jüngeren Jüdischen Literatur in deutscher Sprache. Ich ging niemals auf Lesungen, es gab keine Schreibgruppen, zu denen ich Zugang gehabt hätte. Ich arbeitete als Schriftsetzerin und Mitglied des Betriebsrats und in Kommissionen der Gewerkschaft und hatte mit Kind keine Zeit für irgendwas. Die Aufmerksamkeit für meine Arbeit begann mit einer Einladung in die USA 1991, damals durch Sander L. Gilman.
Das literarische „Initial“moment entstand wahrscheinlich dadurch, dass ich die kommunistische Organisation, der ich seit 1969/70 angehört hatte, verließ und damit begann, meine ideologischen Bindungen zu zertrümmern. Ich las Mlynas, Lew Kopelew, Kołakowski, Emma Goldmann, Viktor Serge, Adam Michnik, Voslensky und viele andere. In diesem Zusammenhang begann mein literarisches Schreiben.
Glaubst du es gibt in der Literatur so etwas wie Zeitgeist? Oder gibt es größere Gewissheiten/Richtungen/Aspekte, die unverrückbar (für dich) sind?
Die Kritiker*innen kennen sich besser aus mit dem Zeitgeist. Und was er gerade beinhaltet. Vor einiger Zeit gab es das Setting: ein Mann trifft zwei Frauen. Politische Themen waren zu dieser Zeit eher verpönt und wurden als Betroffenheit denunziert. Das ändert sich gerade.
Dokumentarisches oder Semi-Dokumentarisches tritt in den Vordergrund. Auch das ist ein Zeitgeist-Phänomen.
Dass Theaterregisseur*innen den Text als Teppich betrachten, auf dem sich ihr Können entfaltet, ist ebenfalls ein Phänomen des Zeitgeistes, und zwar auf deutschsprachigen Bühnen. Die Wertschätzung gegenüber dem geschriebenen Werk hat sich verändert.
Manchmal scheint es so, als hätte ich den Zeitgeist getroffen. Ich kann mich aber beim Schreiben nicht dazu bringen, daraufhin zu arbeiten. Sonst bringe ich nichts zustande. Ich bin ja in gewisser Beziehung als gesamte Person Ausdruck eines Zeitgeistes. Mit „Blumen für Otello – Über die Verbrechen von Jena“, einem Buch, in dem ich mich mit den Verbrechen des NSU beschäftige, begann ich in einer lyrischen und erzählenden Weise zu schreiben, die zur damaligen Zeit eher nicht „paßte“. Ein Schreiben über einen nicht abgeschlossenen Prozeß, den der „Zeitgeist“ in der Bewertung und Bedeutung der rechtsextremistisch motivierten Straftaten für unser aller Zusammenleben noch unterschätzte.
In der künstlerischen Auseinandersetzung führte dieser Zustand zu Produktionen, die überwiegend dokumentarisch angebunden sind. Ich wollte dem Rechnung tragen, aber unbedingt gleichzeitig an der lyrischen Sprache der Klage festhalten. Und daran, dass wir in eine Tragödie eingetreten sind.
Ich bin diesen und sozialen Themen verbunden, auch wenn ich über eine grünstichige Rose und die Fahrradfahrerin mit eisreifigen Fingern schreibe. Ich meine hier meine Gedichtbände: „Als mir mein Golem öffnete“, „Rauhreifiger Mund“ und „Im Toaster steckt eine Scheibe Brot“. Es interessiert mich, über die Mühsal des Alltäglichen zu schreiben, darüber, dass einer am Abend seinen Zaun streicht und nichts wichtiger ist als das, wie Williams C. Williams in einem Gedicht anmerkt. Wie schreibe ich über jemanden, der arm ist oder heruntergekommen oder ein bißchen blöd.
„Großgesichtiges Kind“ spielt in weiten Teilen in Krankenanstalten und in einer Psychiatrie.
Ist Zweifel produktiv oder destruktiv, wenn es um das eigene Schreiben geht?
Ich kann das nicht beantworten. Ich zweifelte oft, und wenn ich nicht als Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe hätte und auch Roman Gleissner als Erstleser hätte ich womöglich aufgehört zu schreiben. Ich brauche den Disput mit ihnen. Manche Sachen kann ich nur mit Mona Körte besprechen. Über der Arbeit „Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus“, die auf Grundlage der Eichengrün-Sound-Installation in Dülmen (Dtld.) zur Ehrung der ehemaligen jüdischen Bürger*innen entstanden war, war mir oft elend zumute und ich war voller Zweifel. In meinen Augen mußte die Arbeit vor diesen Bürger*innen Bestand haben, so als würden sie als Lebende mir gegenübertreten. Ich konnte mich nicht vergewissern und wußte, dass ich die Verantwortung trage. Auch wollte ich die Arbeit nicht mit jemandem „abstimmen“. Mein Auftrag war selbst gewählt. Wenn die Arbeit veröffentlicht ist, dann habe ich mich entschieden.
In gewisser Beziehung hat sich dieses Problem mit der Arbeit „Blumen für Otello – Über die Verbrechen von Jena“ wiederholt. Ich hatte diesen Text niemandem „vorlegen“ wollen. Das hätte für die künstlerische Arbeit große Einschränkungen mit sich gebracht. Außerdem sind die Betroffenen, was die erlittenen Verdächtigungen, die Trauer und Nachwirkungen betrifft, leider Expert*innen. Das Verlangen nach ihrer „Mitwirkung“ aber wollte mir auch wie eine erneute Zumutung vorkommen. Nachdem ich die Klagelieder einem engen Vertrauten einer betroffenen Familie vorgelesen hatte, der selbst Türke ist, und sah, dass er weinte, überwand ich den Zweifel an dieser Arbeit. Die Türkischen Gemeinden Deutschlands, insbesondere der Türkische Bund Berlin-Brandenburg boten den Raum, um die Premiere der Klagelieder aufzuzeichnen. Diese Unterstützung bestärkte mich.
In welcher literarischen Form fühlst du dich am wohlsten? Arbeitest du viel mit Notizen?
Ich arbeite mit Imagination, persönlichen Erfahrungen, mit Notizen, mit allem Möglichen, manchmal mit Gegenständen, einem Foto, mit Recherche und Sachliteratur. Oft muß ich zu einem bestimmten Ort gehen, ein bestimmtes Theaterstück ansehen … Und ich arbeite auch mit Unkenntnis. Damit meine ich einen Zustand, der es mir ermöglicht, mich zu wundern.
Gerade schreibe ich kleine Stücke, Fetzen, die ich Splinters nenne. Etwas anderes kann ich mir nicht als die richtige Form vorstellen, um diesen lähmenden Zustand zu beschreiben, der die USA vor den Wahlen befallen hat. Dieses Schauspiel, das sich täglich entrollt, unerbittlich, und dem eigentlich niemand mehr zuschauen möchte.
Wenn etwas meine Neugier oder mein Interesse geweckt hat, dann ergibt sich die Form. Es kann ein Gedicht sein, ein Fetzen, eine Geschichte, ein Essay, ein Hörstück – es kann auch sein, ich beginne ein Hörstück zu schreiben, aber am Ende habe ich mich herausgeschrieben und es ist vielleicht eine Geschichte geworden.
Wahrscheinlich schreibe ich gerade wieder an einem größeren Stück. Ich weiß es nur noch nicht. Ich glaube aber schon, dass ich bereits schreibe. Gerade liegt da ein begonnenes Stück über ein sehr kleines Dorf, Tür an Tür leben hier Aussteiger, Alteingesessene, Wochenendhäusler. Mal sehen, wohin mich dieses Dorf führen wird.
Außerdem: Da ist noch das Drehbuch, das ansteht; ein Filmprojekt, Fiktion, in dem es um Rassismus geht.
Seit 1991 haben dich einige Gastdozenturen und Symposien öfter in die Vereinigten Staaten von Amerika geführt? Welche Eindrücke hattest du von den universitären und literarischen Kontexten dort? Auch jetzt bist du gerade wieder in den USA gewesen, wenige Tage vor der Wahl zum neuen Staatsoberhaupt, welches diesmal auch eine Präsidentin sein könnte? Wie würdest du die aktuelle Stimmung und Lage des Landes aus deiner Sicht beschreiben?
An den Universitäten herrscht ein sehr offenes Klima gegenüber Gegenwartsliteratur. Die Lehrenden und Studierenden wollen mit den Literat*innen sprechen, sie sehen, diskutieren, und nicht nur Papers über uns schreiben. Das ist in Deutschland und Österreich anders. Ich bin sehr gerne in den USA unterwegs. Der empathische Raum, der mir hier begegnet, für die Themen, die mich bewegen, ist ein anderer als in Deutschland. Die USA gehörten zu den Alliierten, zu den Befreiern und nicht zu den Besiegten. Die Leute, die in ihren Familien über D-Day erzählen hörten, sprechen mit mir anders als diejenigen, die in ihren Familienerzählungen von Stalingrad redeten. Außerdem gibt es hier ein jüdisches Leben, das in anderer und selbstverständlicher Weise öffentlich sichtbar ist. Das tut im Gegensatz zur Erfahrung des ständigen Marginalisiert-Seins wie in Deutschland manchmal gut. Wenn ich im Zusammenhang des Buchs „Blumen für Otello Über die Verbrechen von Jena“ von institutional collusion spreche, dann weiß das Publikum hier, worum es geht. Der Diskurs über Rassismus in öffentlichen Einrichtungen wird bereits geführt.
Die Stimmung in den USA jetzt vor der Wahl?
Hoffentlich ist es bald vorbei. Und welche Schande es ist, dass eine Figur wie Donald Trump überhaupt so weit kommen konnte. Viele Menschen sind sehr besorgt, weil sie befürchten, dass mit diesem Wahlkampf nicht nur die Präsidentschaft entschieden wird, sondern die Demokratie beschädigt wurde, und dass das Land insgesamt daran Schaden nehmen wird.
–> Die Schriftsetzerin des kollektiven Gedächtnisses: Die Schriftstellerin Esther Dischereit im Porträt