Neben der Spur

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Der Hamburger Filmemacher Karl-Heinz Dellwo hat einen außergewöhnlichen, 81-minütigen Dokumentarfilm über die Jugendlichen aus dem Heim Putenhof im Wendland gedreht…

Gaston Kirsche

Früh am morgen, draußen ist es noch dunkel. Ein Schild vor einem Bauernhofgelände ist zu sehen: Putenhof. Drinnen frühstücken Jugendliche, an mehreren Tischen verteilt. Zuvor waren sie zu sehen, wie sie Schweine, Pferde, andere Hoftiere versorgen. „Über ein Jahr habe ich beobachtet, wie die Jugendlichen hier leben“ ist eine Stimme aus dem Off zu hören. Eine eindringliche Stimme, die Worte sind sorgsam gewählt. Karl-Heinz Dellwo, Regisseur und Kameramann von „Neben der Spur“, spricht selbst seinen Kommentar: „Hier sind wie in anderen Heimen Jugendliche, die unterschiedlich in ihrer Kindheits- und Jugendentwicklung gestört wurden. Und doch trägt jeder sein Potenzial mit sich, verzerrt, verschlossen, oftmals missachtet und niedergedrückt. Es dabei zu belassen, wäre nur der Akt eines gesellschaftlichen Verrats, der jeden einzelnen einschließt.“

Neben_der_Spur_Putenhof

Klar, ruhig und prägnant sind auch die Bilder des Filmes – außer, die Handkamera geht mit einem Jugendlichen mit. Leicht verwackelte Bilder sind aber die Ausnahme, der Film hat es nicht nötig, mit dem Verzicht auf Stativ und längere Totalen Authenzität und Nähe vorzugaukeln. Wenn die Jugendlichen in Nahaufnahme interviewt werden, wird ihnen Zeit gelassen, Worte für die Antworten zu finden: „Ich bin hier, weil ich gern was mit den Pferden mache, habe früher schon zwei Jahre voltagiert, auf Pferden gestanden und so“ erklärt Yvonne auf die Frage, was ihr am Putenhof gefällt. Gero erklärt, wie er sich gegenüber dem Jugendamt dafür entschieden hat, auf dem Putenhof leben zu wollen, nachdem er sich alles einen Tag angeschaut hatte. „Atem holen können von der verinnerlichten Ausweglosigkeit“ kommentiert Dellwo das Leben auf dem Putenhof. Die Jungen und Mädchen zwischen 12 und 17 sind sehr unterschiedlich, können sich verschieden gut ausdrücken, haben ihre ganz persönliche Geschichte an Vertrauensverlusten, Konflikten, Brüchen.

Ähnlich wie die Jugendlichen werden die ErzieherInnen gezeigt, als gleichberechtigte Gesprächspartner, wie Doris Winkel, die erklärt: „Viele kommen sozial verwahrlost her“. Oder Jürgen Winkel, der mit seiner Frau zusammen mit 20 Jugendlichen auf dem Putenhof lebt: „Wir wollen hier mit den Jugendlichen zusammen leben“. An den zahlreichen Konflikten wird deren Lösung oder friedliche Austragung erlernt. Jürgen Winkel besteht einerseits auf Regeln für den Putenhof, ist andererseits nicht selbstherrlich, sondern selbstkritisch: „Auch ich war mal das schwarze Schaf. Auch ich mache Fehler.“ Auf die Jugendlichen wird sehr individuell eingegangen. Das Scheitern der Jugendlichen wird nicht als individuelle Schuld gezeigt, sondern als soziales Problem. Durch das lange, geduldige Beobachten und Kennenlernen öffnen sich die Jugendlichen vor der Kamera, teilen sich mit.

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Die Versorgung der Hoftiere spielt eine große Rolle für die Jugendlichen. Sie erfahren unmittelbar die Bedürfnisse der Tiere und entwickeln daraus Verantwortungsgefühl und eigene Kompetenzen. Sie bauen gemeinsam mit einem Berufsschullehrer einen Offenstall für die Pferde und erfahren durch die praktische Arbeit den Sinn der sich daraus ergebenen Konstruktionsberechnungen in der Lüchower Berufsfachschule.

Eine besondere Intensität erreicht der Film beim dokumentieren eines Workcamps von einem Teil der Putenhof-Jugendlichen auf dem Gelände des ehemaligen KZ Theresienstadt in Tschechien. „Was aber ist Theresienstadt? Folter, Mord, Rassismus, Niedertracht und Heimtücke. Freude und Lust am Leid des anderen, gepaart mit Sehnsucht nach Herrenmenschentum – einer der Orte einer nicht sozialisierten Nation – einer der Orte unzähliger, ungesühnter und jahrzehntelang auch in der Nachkriegszeit noch gedeckter Verbrechen“, so Dellwo.

Mehrmals im Jahr fahren seit 16 Jahren Freiwillige vom Putenhof nach Terezin. Jeden Sommer arbeitet eine Gruppe vom Putenhof in einem Workcamp an der Erhaltung der Gedenkstätte mit. Sie konfrontieren sich dort unmittelbar mit dem deutschen Nationalsozialismus. Kommentar von Dellwo: „Der Film beschäftigt sich mit dem Leben auf dem Putenhof und zeigt wie Jugendliche, die gesellschaftlich fast als chancenlos festgelegt sind, mit einfühlender Intensität auf diesen Ort reagieren und selber von der Hoffnung geprägt sind, nicht untergehen zu müssen.“ Alle Gebäude dort sind erhalten, die Erschießungsmauer, die Baracken für je 400 bis 500 Häftlinge, die Unterkünfte der SS. Ruhige Bildsequenzen zeigen die einzelnen Orte der Gedenkstätte, auch die Gräberfelder. „Wenn ich hier die Gräber sehe, es sind so viele“, erklärt ein Junge: „Nächstes Jahr komme ich wieder und kann sehen, wie die Rosen blühen, die wir auf den Gräbern pflanzen“, überlegt er sichtlich bewegt. Ein anderer Junge meint: „Wenn jemand sagt, ich bin ein Nazi, da bin ich jetzt viel empfindlicher als früher“. Ein Mädchen schildert, wie Häftlinge in einen sumpfigen Graben getrieben und gezwungen wurden, auf Leben und Tod miteinander zu kämpfen, sich gegenseitig totzuschlagen. Jürgen Winkel, der Leiter vom Putenhof, erklärt den Jugendlichen, welche Ausmaße das KZ hatte: 140.000 Leute sind nach Theresienstadt deportiert worden, von denen 88.000 in die Vernichtungslager transportiert wurden. Über 8000 Kinder unter 15 Jahren mussten im KZ Theresienstadt versuchen zu überleben. Die Jugendlichen vom Putenhof sind in Terezin durch ihre Einsätze für den Erhalt der Gedenkstätte bekannt und geachtet.

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Durch die gezeigte entschiedene, unmittelbar geäußerte Empathie der Jugendlichen mit den Opfern im KZ Theresienstadt wirken die Bilder wie sie Feiern, Fußballspielen in der Nähe des KZ selbstverständlich und keineswegs als Gegensatz. Die emotionale und körperliche Schwere ihrer Gedenkstättenarbeit braucht einen Ausgleich. Und der gehört bei diesem Film, der den ganzen Alltag dokumentieren soll, dazu. „Kein Jugendlicher ist einfach. Diese hier besonders nicht. Nur – was sollte ihr Fehler sein, wo sie zuallererst nur das Unglück hatten, mit schlechten Karten in der Hand geboren zu werden?“ fragt Dellwo aus dem Off. Dellwo ist ein sensibles Sicheinlassen auf die Jugendlichen und ihre BetreuerInnen gelungen. Vielleicht hat es ihm geholfen, dass er selbst harte Erfahrungen mit gesellschaftlicher Ausgrenzung machen musste. Mit 21 wurde er 1973 bei einer Hausbesetzung in der Hamburger Ekhofstraße bei der Räumung durch ein Mobiles Einsatzkommando der Hamburger Polizei verhaftet, angeklagt und zu einer einjährige Haftstrafe verurteilt, die er vollständig absitzen musste. Mit 23 legte sich Karl-Heinz Dellwo, mittlerweile Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF), mit dem Staat an, besetzte mit einem bewaffneten Kommando die Botschaft der BRD in Schweden, nahm die dort anwesenden als Geiseln und forderte die Freilassung von Gefangenen aus der RAF. Die BRD war unnachgiebig, die Botschaft wurde gestürmt, am Schluß waren zwei Botschaftsmitarbeiter und zwei Mitglieder des RAF-Kommandos tot. Dellwo musste für zwanzig Jahre ins Gefängnis, unter verschärften Haftbedingungen. Bei einer Filmvorführung in Celle, wo Karl-Heinz Dellwo während seiner langjährigen Haft im Hochsicherheitstrakt eingesperrt war, sass auch der damalige Leiter der Justizvollzugsanstalt Celle, Paul Kühling, im Publikum. „Ich habe ihn bleibend in Erinnerung”, erklärte Dellwo laut der Celleschen Zeitung dazu. Als er damals mit dem Hubschrauber im Celler Gefängnis verlegt wurde, habe Kühling ihn mit den Worten begrüßt: „Sie werden hier nie wieder rauskommen.” 1995 wurde er entlassen, arbeitete die Zeit in der RAF kritisch auf. Neun Jahre später gründete er die kleine Produktionsfirma Bellastoria. „Neben der Spur“ ist sein dritter Film.

„Die Jugendlichen kommen in ihrer eigenen Sprache zu Wort, mit ihren Vorstellungen – das hat mir gut gefallen. Und der Film hat starke, wunderbare Bilder,“ so Jens Meyer vom Hamburger 3001-Kino gegenüber dem Autor. Dellwo hat Meyer den Film schon im Rohschnitt gezeigt. „Den Film haben wir ins Programm genommen, weil er uns gefällt“ betont Jens Meyer. Nach den wenigen Kinoaufführungen – im Wendland, in Celle und in Hamburg – gibt es jetzt die Möglichkeit, den Film als DVD zu erwerben.

Neben der Spur. Regie: Karl-Heinz Dellwo, BRD 2006, 81 Minuten, Farbe, DVD. Der Film kann bei der Produktionsfirma Bellastoria erworben werden. Preis: 20 Euro inclusive Versandkosten. Bestellung möglich im Online-Shop von Bellastoria: https://shop.laika-verlag.de/shop/sonstiges/neben-der-spur

Der Film ist in den Bestand der Stiftung Deutsche Kinemathek, Potsdamer Str. 2, 10785 Berlin übernommen worden und kann dort gesichtet werden: bibliothek@deutsche-kinemathek.de

2 Kommentare

  1. Eigene Blödheit: ersetze erste zwei Sätze:

    „Vielleicht hat es ihm geholfen, dass er selbst harte Erfahrungen mit gesellschaftlicher Ausgrenzung machen musste.“

    Die gesellschaftliche Ausgrenzung erfolgte lt Artikel durch eine Haftstrafe mit 21.

    Sry, zu schnell geschrieben.

  2. Vielleicht können manche Sarkasmus nicht erkennen, daher:

    „Auch ich war mal das schwarze Schaf. Auch ich mache Fehler.“

    sagt der zu zweimal lebenslänglich verurteilte RAF Mann. Zwei Menschen wurden getötet.

    “ Mit 23 legte sich Karl-Heinz Dellwo, mittlerweile Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF), mit dem Staat an, besetzte mit einem bewaffneten Kommando die Botschaft der BRD in Schweden, nahm die dort anwesenden als Geiseln und forderte die Freilassung von Gefangenen aus der RAF. Die BRD war unnachgiebig, die Botschaft wurde gestürmt, am Schluß waren zwei Botschaftsmitarbeiter und zwei Mitglieder des RAF-Kommandos tot.“

    Weder legt sich sich ein Terrorist an, noch besetzte er, noch weniger war die UNNACHGIEBIGE BRD Schuld am „Schluß waren zwei Botschaftsmitarbeiter… tot“

    „Eine besondere Intensität erreicht der Film beim dokumentieren eines Workcamps von einem Teil der Putenhof-Jugendlichen auf dem Gelände des ehemaligen KZ Theresienstadt in Tschechien. „Was aber ist Theresienstadt? Folter, Mord, Rassismus, Niedertracht und Heimtücke. Freude und Lust am Leid des anderen, gepaart mit Sehnsucht nach Herrenmenschentum – einer der Orte einer nicht sozialisierten Nation – einer der Orte unzähliger, ungesühnter und jahrzehntelang auch in der Nachkriegszeit noch gedeckter Verbrechen“, so Dellwo. “

    Ab und zu glaubt man, den 01. April auf den 04. verlegen zu können.

    Stattdessen gibt es diesen Film wirklich.

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