„Der Schraubstock um unsere Gemeinschaft zieht sich immer enger“

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In Frankreich ist nach dem Macheten-Angriff auf einen jüdischen Lehrer eine innerjüdische Debatte über das Tragen der Kippa entbrannt. In Marseille häufen sich Messerattacken gegen Juden. Präsident Hollande: „Es ist unerträglich, dass man seine Religion verbergen muss“…

Aus Paris Danny Leder

Gewaltakte gegen Juden beschäftigen wieder die französische Öffentlichkeit. Seit über einem Jahrzehnt verdüstern Beschimpfungen, Drohungen und gelegentlich auch tätliche Angriffe seitens Jugendlicher aus muslimischen Familien oder junger, extremistischer Islam-Konvertiten den Alltag jüdischer Gläubige namentlich in volkstümlichen Vierteln und Vororten. In einigen Fällen mutierten die Nahbereichspeiniger der Juden zu dschihadistischen Attentätern, wie etwa im März 2012, als der franko-algerische Al Kaida-Killer, Mohamed Merah, in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer ermordete, oder als im Januar 2015 der franko-ivoresische Anhänger des „Islamischen Staats“, Amedy Coulibaly, in einem koscheren Supermarkt am Pariser Stadtrand vier Kunden erschoss.

Aber zuletzt war der Eindruck entstanden, die besondere Bedrohung der Juden sei zurückgegangen, weil sich die Angriffsprojekte der Dschihadisten auf immer mehr Ziele ausdehnten: Kirchen, Fabriken, Militärbasen und schließlich, bei den Gemetzeln im vergangenen November, das Fußballstadion und die Kneipen der Multikulti-Viertel von Paris.

Jetzt ist aber wieder klar geworden, dass die Juden Frankreichs – rund eine halbe Million Menschen mit mehrheitlich nordafrikanischen Familienwurzeln, die größte jüdische Bevölkerung Europas – an vorderster Stelle in der Gefährdungsskala durch den Dschihadismus stehen. Am Montag wurde in Marseille ein jüdischer Lehrer, der eine Kippa trug, auf dem Weg zu seiner Schule hinterrücks von einem Jugendlichen mit einer Machete angegriffen. Wie durch ein Wunder glitt die hoch gefährliche Scheide mehrmals an der Kleidung des Lehrers ab, er konnte schließlich seine Tasche zum Schutz hochhalten. Dann wurde der Angreifer von Passanten in die Flucht geschlagen, von Mopedfahrern verfolgt und von der Polizei festgenommen. „Ich sah mich schon geköpft“, erklärte der leicht verletzte Lehrer anschließend.

Täter bedauert, dass sein Opfer überlebte

Der 16 jährige Täter, der aus einer vor fünf Jahren eingewanderten, bisher völlig unauffälligen türkischen Familie stammt, erklärte bei seiner ersten Einvernahmen, er habe diese Tat „im Namen Allahs“ und in Übereinstimmung mit dem „Islamischen Staat“ (IS) begangen. Er bedauere, dass sein Opfer nicht gestorben sei, und versprach, er werde „das nächste Mal Polizisten erschießen“. Über die Mehrheit der französischen Muslime sagte der Bursch, sie hätten durch ihre Passivität „den Islam entehrt“. Der französischen Armee warf er vor, sie würde „die Juden schützen“.

Weder seine Eltern noch seine Klassenkameraden in einer berufsbildenden Oberschule hatten Anzeichen einer Radikalisierung bemerkt. An der Schule galt er allerdings als Einzelgänger. Die ersten Erhebungen deuten auf eine Radikalisierung durch Internet-Lektüre der IS-Propaganda.

Die Staatsanwaltschaft schlägt Alarm

Im Anschluss an diesen Angriff enthüllte die Staatsanwaltschaft, dass in den letzten Wochen in Marseille ein „rasanter Anstieg“ der Verfahren wegen Aufhetzung, rassistischer Todesdrohungen und Terror-Verherrlichung verzeichnet wurde. Es wurden zwar auch gegen Muslime gerichtete Taten registriert, darunter eine Attacke auf eine Frau, die ein islamisches Kopftuch trug: sie wurde geschlagen, und ihr wurden mit einem Cutter Stichwunden zugefügt. Aber der „überwiegende Teil der Vorfälle“, so die Justizbehörden, richtete sich gegen Juden.

Schon am 18.November, also nur fünf Tage nach den Pariser Anschlägen, war ein jüdischer Lehrer von drei jungen Angreifern misshandelt und mit einem Messer verletzt worden. Wiederum in Marseille waren bereits im Oktober ein Rabbiner und drei weitere Personen vor einer Synagoge bei einem Messeranschlag verletzt worden.

„Wir fühlen uns immer mehr bedrängt, der Schraubstock um unsere Gemeinschaft zieht sich immer enger“, klagte die Regional-Vorsitzende des Rats der jüdischen Institutionen (CRIF), Michèle Teboul. In Marseille leben rund 70.000 Juden unter insgesamt 850.000 Einwohnern.

Der Vorsitzende des „Consistoire Israelite“ von Marseille, Zvi Ammar, empfahl nun den Gläubigen aus Sicherheitsgründen „die Kippa nicht mehr auf der Straße zu tragen, bis wieder bessere Tage kommen. Die Wahrung von Menschenleben hat heiligen Vorrang“.

Oberrabbiner: Unter keinen Umständen verzichten

Der französische Oberrabbiner, Haim Korsia, widersprach aber dieser Empfehlung: „Ich verstehe diese Haltung, aber wir sollten nicht klein beigeben und unter keinen Umständen auf die Kippa verzichten. Jeder muss das Recht haben, sein Judentum so zu leben, wie er es versteht.“ Dafür rief der Oberrabbiner die Fans des Fußballklubs „Olympique Marseille“ dazu auf, aus Solidarität beim nächsten Match Kopfbedeckungen zu tragen. Tatsächlich häufen sich angesichts dieser Bedrohung Angebote von Nicht-Juden, die Kippa zu tragen.

Gleichzeitig nahmen mehrere prominente Politiker Stellung, allen voran Staatschef Francois Hollande, der bei einer eigens einberufenen Pressekonferenz erklärte: „Es ist unerträglich, dass in unserem Land Bürger wegen ihrer Religion eingeschüchtert, beleidigt, geschlagen werden. Es ist unerträglich, dass man seine Religion verbergen muss.“ Schon zuvor hatte Premierminister Manuel Valls (und das nicht zum ersten Mal) beteuert: „Frankreich wäre nicht Frankreich ohne den Juden“.

In der französischen Mehrheitsgesellschaft, und das gilt auch für die meisten Wähler und Aktivsten des „Front National“, war der Antisemitismus noch nie so gering und bedeutungslos wie heute. Die Politiker stehen den bedrohten Juden entschlossen zur Seite. Die Behörden ahnden jede anti-jüdische Drohung aufs schärfste. Ein Gymnasiast wurde zu einer zehn-monatigen Haftstrafe verurteilt, weil er bei einem Diskussionstag an seiner Schule nach den Anschlägen von Paris erklärt hatte, er wolle „die Juden, die hinter diesen Attentaten stecken, über den Haufen schießen“.

Fakt ist auch, dass nach den Anschlägen vom November in Paris keine Sympathie-Bewegungen für die Attentäter an Schulen bekannt wurden und auch keine negationistischen Verschwörungstheorien verzapft wurden – im Gegensatz zu den Anschlägen auf das linke, anti-religiöse Satireblatt „Charlie Hebdo“ und auf den jüdischen Supermarkt „Hypercacher“ im Januar des Vorjahrs, als danach, stellenweise, muslimische Schüler die Trauerminuten für die Terroropfer an Schulen störten und manchmal Verständnis für die Morde an den Karikaturisten (die, unter anderem, auch Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatten) signalisierten.

Rätsel um gewaltsamen Tod eines jüdischen Gemeinderats

Unterdessen wurde der Pariser Vorort Creteil von der Nachricht über den bisher ungeklärten Tod eines Gemeinderats und leitenden Angehörigen der örtlichen jüdischen Gemeinde erschüttert. Der 73 Jährige Alain Ghozland wurde am Dienstag (12. Januar) in der Wohnung seiner 102 jährigen Mutter tot aufgefunden, nachdem sich seine Freunde darüber gewundert hatten, dass er zwei Abende hintereinander nicht zum Gebet in der Zentralsynagoge von Creteil erschienen war, was für ihn völlig ungewöhnlich war.

Laut ersten Informationen aus Behördenkreisen trug Ghozland Blutergüsse im Gesicht, die Schränke der Wohnung waren gelehrt worden. Die Bankomat-Karte und der Wagen des Opfers waren unauffindbar. Von den möglichen Tätern und ihren Motiven war am Mittwoch noch nichts bekannt.

Die – bedeutende – örtliche jüdische Gemeinde, und nicht nur sie, ist umso beunruhigter, als in Creteil bereits im Dezember 2014 ein jüdisches Paar in der elterlichen Wohnung von drei jungen Kriminellen gefangen genommen worden war, wobei die Frau sexuell misshandelt wurde. Die Täter, die bald darauf festgenommen wurden, waren davon überzeugt gewesen, dass sie in der Wohnung auf „viel Geld“ stoßen würden, weil „Juden ihr Geld nicht auf die Bank bringen“, wie ihr Rädelsführer erklärte. Dieser Überfall hatte damals bereits eine massive Reaktion von Politikern und Würdenträgern diverser Religionsgemeinschaften ausgelöst.