Eine Erinnerung an Frankie Felsen (22.9.1959 – 29.05.2015), Wanderer zwischen Israel und Deutschland…
von Uri D.
Frankie Felsen lebt nicht mehr. Ich glaub es nicht. Und doch ist es wahr. Am 29. Mai ist er in einem Kölner Krankenhaus in Folge einer schweren Krankheit verstorben. Für mich war er ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Frankie war wie nur Wenige ein Wanderer zwischen Israel und Deutschland. Voller Ambivalenz. Ironie. Selbstdistanz. Und Optimismus.
Frankie musste viel ertragen. Ich glaube, mehr als ein Mensch erleben sollte. Aber ich bin mir sicher: Frankie hat dies sehr anders gesehen. Er war mit sich selbst zufrieden, mit seinen beengten Wohnverhältnissen, seinem geringen Einkommen. Frankie war ein wirklicher Mensch. Ein Luftmensch in bester jüdischer Tradition.
Nun, wo ich nach seinem Dahingehen noch mehr über sein Leben als jüdisches Kind in Deutschland erfahren habe, merke ich: Ich glaube ich habe „dies“ von Anfang an gespürt. Unsere Lebensverläufe waren sich sehr ähnlich, trotz aller scheinbaren Differenzen. Frankie betrachtete das Leben voller Ironie und Sanftmut. Mit seinen blauen Augen, seinem zerfurchten, hageren, wachen Gesicht, seiner hochkonzentrierten Aufmerksamkeit. Für mich war er seelisch ein Bruder. Sogar ein älterer Bruder.
Ich mochte ihn immer sehr, sein Lächeln, seine Ironie, vor allem sein außergewöhnliches Wissen. Über Israel. Über Deutschland. Und den Rest sowieso. Das Furchtbare und das Hoffnung Zulassende.
Frankie war schlank, präsent, ironisch, witzig, schlagfertig. Differenzen, Meinungsverschiedenheiten weicht er nicht aus, wenn er dies für bedeutsam erachtet. Gelegentlich kommt es bei historisch-politischen Themen zu heftigeren Auseinandersetzungen, er lässt dies zu, wenn er es für notwendig, für unvermeidlich hält. Aber selbst in solchen Situationen wird er sehr rasch wieder ruhig, ironisch, baut Brücken. Ich selbst, so möchte ich hinzufügen, hatte nie Differenzen mit ihm. Ich genoss seine Anwesenheit, seine Schnelligkeit, sein Wissen, seine Anteilnahme an Überlebensgeschichten.
Er war nicht stromlinienförmig, redete den Menschen nicht nach dem Mund. Vielleicht war das manchen zu unbequem. Er verstand sehr viel von den Schwierigkeiten, als Israeli, als Jude in Deutschland zu leben. Zwischen beiden Ländern, beiden Traditionen, beiden Kulturen zu leben. Innerlich zutiefst zerrissen. Und innerlich vereint.
Frankie Felsen, 1959 geboren, war ein Kind der Shoah. Nicht im „herkömmlichen“ Sinne. Und doch war er zutiefst von der Shoah geprägt. Er wusste dies. Frankie war Angehöriger der Second Generation der jüdischen Überlebenden. Und machte nicht viel Worte darum. Als Jude lebte er in Frankfurt am Main und Düsseldorf, in den Ferien war er seit seiner frühen Kindheit regelmäßig in Israel. Dort hörte er viel Jiddisch und lernte schnell Hebräisch. Dann, mit 18 machte er Alija und diente drei Jahre in der israelischen Armee, es folgte ein Studium in Tel Aviv, Sprachwissenschaften. Dort knüpft er Freundschaften, die bis heute angehalten haben. Tel Aviv, dann wieder München, Berlin, Köln. Zwischendurch immer und immer wieder Tel Aviv, der Strand, die Lebenszugewandtheit, die Wärme, die Vertrautheit.
„Ich fliege morgen nach Köln“, meinte Frankie. Der Koffer ist schon gepackt. Dann verschiebt er den Flug. Und verschiebt ihn noch einmal. Irgendwann fliegt er doch, zurück nach Köln. Er wollte nicht – und „musste“ doch. Frankie ist unentrinnbar zerrissen, zerrissen bis zum Schluss.
Er starb ein Jahr nach David Gall, seinem langjährigen Freund, an der gleichen Krankheit. Nach Davids Tod war er verzweifelt. Barbara schickt mir Fotos: Frankie am Strand von Tel Aviv. Er schaufelt Sand in eine Tüte. Für das Grab seines Freundes David in München.
Frankie lebte in drei Sprachen – und in zahlreichen Dialekten. Sicher. Vertraut. Wie nur Wenige. Er war ein wirklicher Sprachkünstler, voller Anspielungen, Ironie. Die Sprache war sein Zuhause, sein unerschütterliches Universum. Frankie hat nie eine angemessene Stelle für seine vielfältigen Talente gefunden, auch nicht an einer Universität. Vielleicht wollte er sich nicht an einen Ort binden. Viele Menschen, die früh schwere Verluste erlebt haben, gehen so mit dem Leben um. Ein Misstrauen bleibt. Eine Kreativität und Freiheit erwächst hieraus. Einen Teil seines Geldes verdiente Frankie mit Übersetzungen. Und er war ein bekannter Hebräischlehrer in Köln und Umgebung. Häufig traf er seine Schüler in einem zentral gelegenen Cafe. Eine Sprache lehren – dies war für Frankie vor allem eine Begegnung, eine Chance, ein seelisches Abenteuer.
Frankie konnte stundenlang, in wechselnden Dialekten, die unglaublichsten Geschehnisse und Erlebnisse erzählen. Er war ein genialer, lebensbejahender Unterhalter, der ganze Abende mit seinen Geschichten alleine zu füllen vermochte.
Ruth meint: Wenn Frankie diese kleine Erinnerung an ihn lesen könnte, würde er wohl mit ungläubiger Ironie und Bescheidenheit reagieren: „Frankie würde beschämt grinsen und in kölschem Tonfall sagen: `Och, isch binnet doch nur, hörma.´“
Sommer 2014. Es ist Krieg in Israel, mal wieder. Frankie war nie unkritisch, was die Entwicklung in Israel betrifft. „Ich bin eigentlich kein politischer Mensch, auf jeden Fall kein Politiker“, meinte er einmal. Ich glaube, in der Tiefe seiner Seele verstand er sich zeitlebens als israelischer Linker. Seine Partei war die linksliberale Meretz-Partei. Und zugleich konnte er bei innerisraelischen Diskussionen auch „rechte“ Positionen einnehmen. In Deutschland hingegen verstummte er zunehmend mehr, sprach über politische Dinge nur noch in privaten Kreisen. Das nicht-Wissen, der unterschwellige Antisemitismus, der regelrechte Hass auf Israel im Deutschland des Jahres 2014 erschreckte ihn. Er nahm ihn sehr bewusst wahr.
In Tel Aviv ist er frei von diesen Belästigungen. Im Sommer 2014 ist Frankie wieder bei seiner Freundin Barbara in Tel Aviv. Sie kennt nur wenige Mitbewohner persönlich. Das Haus hat einen gutausgebauten Bunker. Der Iron Dome bewahrt sie vor dem Schlimmsten. Dennoch: Regelmäßig, beim Bombenalarm, müssen sie innerhalb von 90 Sekunden, teilweise im Schlafanzug, in den Schutzraum flüchten.
Barbara schickt mir mehrere Fotos aus dem Bunker: Ich sehe einen gebückt stehenden Frankie mit seinem Rucksack, zusammen mit vier jüngeren Frauen und Männern, manche sitzend und manche stehend, die meisten mit einem Handy in der Hand, und einen Hund. Frankie ist, wie immer, höchst kommunikativ – selbst in der Situation der massiven Bedrohung. Seine Kontaktfreudigkeit ist beeindruckend. Er quatscht mit allen Nachbarn, direkt, unkompliziert, lebendig, lockert die angespannte Situation auf. Seitdem kennen er und Barbara all ihre Nachbarn, Vertrautheit und Fröhlichkeit stellt sich zwischen ihnen ein. Diese wird auch durch die Raketenangriffe, den Terror der Hamas und weiterer extremistischer Gruppierungen aus dem Gazastreifen nicht zerstört.
Einige Wochen später kehrt Frankie wieder nach Köln zurück. Er ist noch empfindsamer, verwundbarer, nachdenklicher geworden. Die durch den „Gaza-Krieg“ 2014 ausgelösten und verstärkten Traumatisierungen lassen sich nicht mehr verdrängen. Nun muss Frankie niemanden mehr schützen, der äußere Druck, die Bedrohung, fallen weg. Ruth und Burkhard, sehr liebe Freunde, bieten ihm an, in ihrer sehr schön gelegenen, hellen Wohnung im „multikulturellen“ Kölner Eigelsteins zu wohnen. Das Licht, möglicherweise sogar der nahegelegene Rhein, lassen die Erinnerung an sein Tel Aviv lebendig bleiben.
April 2015: Ich treffe Frankie mehrmals bei einem Stammtisch bei einem gemeinsamen Freund, Olek. Im äußersten Süden von Köln. Ich glaube, dass Frankie im Kontakt mit seinem Jugendfreund Olek wieder an ihre zionistische Jugendzeit im Umfeld der Düsseldorfer und der Kölner Jüdischen Gemeinde anknüpft. An diesem Stammtisch nehmen Freunde teil, die dem in Deutschland wieder verstärkt aufkommenden Antisemitismus etwas entgegensetzen wollen. Frankie nimmt lebhaft an den Diskussionen teil – sofern sie nicht zu kleinkariert werden. Bei unserem letzten Treffen erschrecke ich mich. Ich hatte zuvor gehört, dass Frankie sehr krank sei. Von seiner Krankheit selbst hatte ich immer gewusst, Einzelheiten kannte ich nicht. Frankie sah sehr verändert aus, aschfahl, sein Gesicht war etwas eingefallen. Dennoch blieb er auch an diesem Abend gutgelaunt. Gegen Ende des Abends, es war schon weit nach 23 Uhr, spreche ich ihn im Zweiergespräch direkt darauf an. Frankie weicht nicht aus, berichtet von seinen geringen Lebensaussichten. Er versuche, so rasch wie möglich noch nach Tel Aviv zu kommen, zu Verwandten, die Ärzte sind, müsse vorher aber noch einige Dinge klären. Wenn er es schaffe, könne er noch mit viel Glück 10 Jahre leben.
Burkhard, ein Freund aus Köln, schreibt wenige Tage nach Frankies Tod:
„Liebster Frankie!
Du hast das Leben so geliebt, das Dich oft so hart geprüft und am Ende so bitter verraten hat. Du wolltest 120 Jahre alt werden – am Ende hat es Dir nicht einmal die Hälfte geschenkt. Du hattest noch so viele Pläne, warst bis zum Schluss so voller Zuversicht. Du hinterlässt eine lange, tiefe Spur. Du weißt, als Atheist glaube ich nicht an ein Leben nach dem Tod – nie habe ich mir mehr gewünscht, dass ich irre und Du jetzt ein besseres Leben im Paradies hast.“
Barbara: „Wer wird mit mir…“
„Frankie, wer wird stundenlang mit mir sitzen und sich über Gott und die Welt unterhalten?
Wer wird morgens ungeduldig darauf warten, dass ich endlich aufwache?
Wer wird mit mir durch Tel Aviv spazieren und immer wieder Neues entdecken?
Wer wird abends mit mir telefonieren und alles erfahren wollen, was ich tagsüber erlebt habe?
Wer wird Jiddisch mit mir sprechen und mich „Schlejmalina“ nennen?
Wer wird den Shoah-Überlebenden mit so viel Liebe und Empathie begegnen?
Wer wird kiloweise Käse von Köln nach Tel Aviv schleppen für Weihnukka?
Wer wird uns so zum Lachen bringen, dass Yvonne fleht: „Frankie, hör auf, ich mache in die Hose!?“
Schön geschriebener Nachruf, Uri. Nur, dass es ein Nachruf ist, ist nicht schön.
Kommentarfunktion ist geschlossen.