Was hätte Charb gesagt?

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Die Debatte um Charlie Hebdo geht weiter. Die Mitarbeiter fühlen sich von den Erwartungen der Öffentlichkeit zunehmend unter Druck gesetzt…

Von Bernhard Schmid
Jungle World v. 28. Mai 2015

Charlie Hebdo kommt nicht zur Ruhe. Seit dem blutigen Attentat und dem zwölffachen Mord im Januar dieses Jahres ist das Interesse der Öffentlichkeit immens, fast täglich gerät die wöchentlich erscheinende Satirezeitung in die Schlagzeilen. Häufig geschieht dies wegen der Gefährdung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mitte vergangener Woche berichtete die Tageszeitung Le Parisien unter Berufung auf polizeiliche Quellen, dass eine Woche zuvor zwei verdächtig wirkende Personen in der Nähe der Privatwohnung von Chefredakteur Laurent Sourriseau (Riss) gesichtet worden seien. Die Meldung beruhte auf Aussagen von Anwohnern und Polizisten, denen zufolge am 12. Mai ein etwa 30jähriger Mann beobachtet wurde, wie er sich auf verdächtige Weise längere Zeit in der Nähe des Mehrfamilienwohnhauses aufhielt. Er fotografierte dessen Eingangsbereich mit einem Smartphone, bevor er sich auf ein Motorrad schwang und davonfuhr. Am darauffolgenden Tag fotografierte ein ungefähr gleichaltriger Mann das Haus.

Sourriseau, der bei dem Anschlag im Januar durch eine Kugel im Schulterbereich verletzt wurde und nach wie vor zu Reha-Behandlungen ins Krankenhaus muss, steht seitdem unter Polizeischutz. Die Beamten nahmen deswegen die Personalien der beiden Personen auf und luden sie zu einem Gesprächstermin vor, bei dem sie abstritten, einander zu kennen oder fotografiert zu haben. Der zuerst aufgetauchte junge Mann weist etwa 20 Vorstrafen auf und ist den Polizeidienststellen aufgrund seiner kleinkriminellen bis kriminellen Karriere bekannt. Der andere jedoch hat eine Akte mit dem Vermerk »S« für Sûreté de l’Etat (Staatsschutz) und wird der radikalislamistischen Szene zugerechnet. Das Vorkommnis beweist: Die Gefahr ist nicht vorüber.

Sich mit dem Ausspruch »Ich bin Charlie« zu bekennen, war zu Anfang dieses Jahres in Frankreich quasi zu einer Mode geworden. Die Aufschrift zitierte zahlreiche Facebook-Seiten oder Eingangstüren von Geschäften, darunter viele Druckereien und Buchhandlungen. Solidarisch zeigte sich auch ein Teil der Lehrerschaft an einer Oberschule in Saint-Maur-des-Fossés, einem Vorort südöstlich von Paris, die am Donnerstag voriger Woche die Arbeit niederlegte, nachdem einer ihrer Schüler bedroht worden war. Der 17jährige Louis erhielt seit Januar insgesamt sieben handfeste Drohungen, nachdem er als Redakteur der Schülerzeitung La Mouette baîllonnée eine Sonderausgabe zu Charlie Hebdo verantwortet hatte. Der Name der Zeitschrift Die geknebelte Möwe nimmt auf den der Wochenzeitung Le Canard enchaîné (Die gefesselte Ente) Bezug. Kurz nach Erscheinen der Sonderausgabe erhielt er über die Postadresse der Schulzeitung einen Brief mit einem Hakenkreuz. Der Brief enthielt einen Miniatursarg und Todesdrohungen. Weitere Schreiben folgten, zwei davon enthielten Kugeln für Schusswaffen. Es ist derzeit noch nicht klar, von wem die Briefe stammen. Die Polizei gibt an, die Sache »sehr ernst zu nehmen«. Sie ermittelt durch Anhörungen von Schülern und Lehrpersonal und nahm DNA-Proben.

Bedroht worden war im Februar auch die Charlie Hebdo-Redakteurin Zineb al-Rhazoui. Die 33jährige ist Religionssoziologin und zählt in ihrem Herkunftsland Marokko zum progressiven Lager. Sie bezog gegen den Zwang zur Einhaltung des Fastenmonats Ramadhan ebenso öffentlich Stellung wie gegen fundamentalistische Lehrinhalte oder Predigten und protestierte auch gegen die Monarchie. 2010 musste sie fliehen und fand zunächst in Slowenien Aufnahme. Zwischenzeitlich nach Marokko zurückgekehrt, wo im Zuge der Umbrüche in Nordafrika auch eine starke Protestbewegung entstanden war, ging sie schließlich nach Frankreich. Seit etwa zwei Jahren arbeitet sie für Charlie Hebdo.

Das Attentat vom Januar überlebte sie, weil sie sich damals im Urlaub befand und der tödlich endenden Redaktionskonferenz nicht beiwohnte. Kurze Zeit nach dem Massaker erhielt auch sie Todesdrohungen. Diese betrafen auch ihren Mann, der daraufhin seinen Job aufgeben musste. Al-Rhazoui gilt Jihadisten als besonders hassenswert, da sie als muslimisch erzogene Frau eine »Verräterin« und »Abweichlerin« vom Glauben sei. Das Ehepaar übernachtet aus Sicherheitsgründen nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung, sondern mietet sich in Hotels ein.

Mitte Mai geriet die Redakteurin erneut in die Schlagzeilen, weil bekannt wurde, dass al-Rhazoui eine disziplinarrechtliche Vorladung von der Leitung der Redaktion erhalten hatte. Tatsächlich war sie zu einem Gespräch einberufen worden, bei dem über ihre mögliche Kündigung diskutiert werden sollte. Die Leitung hat dieses Vorhaben, das in der Öffentlichkeit vielfach kritisiert wurde, inzwischen wieder fallengelassen. Die Kündigungsdrohung wurde in eine Abmahnung umgewandelt.

Al-Rhazoui selbst gibt dazu an, man werfe ihr Unregelmäßigkeiten im Arbeitsrhythmus vor, die jedoch unvermeidlich seien, weil sie im Hotel leben müsse und unter großem psychischem Druck stehe. Die Verlagsleitung verhalte sich, als ob sie in einer anderen Welt lebe, und bringe kein Verständnis für ihre Situation auf. In Le Monde erklärte Chefredakteur Sourissau, es gebe keinerlei inhaltliche Differenzen, es gehe tatsächlich nur um Betriebsabläufe. Die schwierige Situation der Mitarbeiterin rechtfertige es nicht, dass al-Rhazoui nicht zu Redaktionsterminen erscheine oder Abgabetermine für Artikel nicht einhalte. Das sei auch vor dem 7. Januar kaum anders gewesen.

Während Sourriseau von inhaltlicher Übereinstimmung spricht, bezeichnete al-Rhazoui die Chefredaktion und das Management als »Oligarchie«. Das Verhalten der Vorgesetzten sei anmaßend. Andernorts versucht man, ideologische Differenzen in den Konflikt hineinzuinterpretieren. Auf einer Facebook-Seite unter dem ideologischen Titel »Stoppt die Shoah in Palästina« wurde behauptet, al-Rhazoui solle »wegen palästinasolidarischer Positionen gefeuert« werden. Solidarisch mit Palästina positionierte sie sich zwar in der Vergangenheit tatsächlich, doch dürfte es falsch sein, politische Differenzen als Auslöser für den Streit zu suchen. In zahlreichen Interviews bekräftigte al-Rhazoui unterdessen ihre Kritik am Fundamentalismus: »Das Problem in Europa ist, dass man immer sofort zu hören bekommt: Islamophobie! Was bitte ist das für ein intellektueller Schwindel, der uns glauben machen will, die legitime Kritik an einer Religion sei so etwas wie Rassismus?«

Die allgemeine Anspannung, die öffentliche Aufmerksamkeit und der psychische Druck, unter dem die Redaktionsmitglieder produzieren, sind Faktoren, die bei der Betrachtung der Auseinandersetzung berücksichtigt werden müssen. Ein anderer prominenter Mitarbeiter der Zeitung hat aus dieser Situation berufliche Konsequenzen gezogen. Renald Luzier (Luz), einer der bekanntesten Zeichner von Charlie Hebdo, kündigte sein Ausscheiden aus der Redaktion für September an. In mehreren Interviews nahm er Stellung zu seinen Beweggründen. Das ausführlichste Gespräch gewährte er der Tageszeitung Libération, in deren Räumlichkeiten die Satirezeitung seit dem Anschlag produziert wird.

Er beklagt einen Zustand des Ausgebranntseins. Es fehle ihm an Inspiration; zur aktuellen politischen Situation in Frankreich falle ihm derzeit nicht mehr viel ein. Auch deshalb nicht, weil er sich regelmäßig die Frage stelle, »was wohl Charb, Wolinski, Tignousse, Honoré und die anderen dazu sagen würden«, und in einen fiktiven Dialog mit den Ermordeten trete. Deswegen wolle er nach neuen Perspektiven suchen. Ganz Frankreich diskutiere inzwischen über die Pläne der Redakteure. So musste Luzier private Äußerungen zu seinem Rückzug in der Internetzeitung Mediapart wiederfinden. Das alles könne er nicht länger ertragen. Charlie Hebdo sei zu einem Glashaus geworden, in dem er nicht mehr arbeiten könne.

Eine, die ihm diesen Rückzug übelnimmt, ist Jeannette Bougrab. Die Tochter eines Harkis, also eines im Kolonialkrieg auf französischer Seite kämpfenden Algeriers, hatte 2010 eine vom damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy geförderte politische Karriere gemacht. In den Wochen nach dem Attentat inszenierte sie sich als die hinterbliebene, trauernde Freundin des getöteten Chefredakteurs Stephane Charbonnier, doch dessen Familie sowie Redakteure der Zeitung dementierten, dass tatsächlich eine engere Verbindung zwischen beiden bestanden habe. Bougrab, die ebenso karriereorientiert wie empfindsam ist, hat diese Episode bislang noch nicht verwunden.

Luzier warf sie mit scharfen Worten vor, zu desertieren, worauf dieser in seinem Interview ebenso hart antwortete: »Ich hole mir einen darauf runter, was diese dumme Ziege behauptet.« Viele, fügte er hinzu, wollten nun, dass man bei Charlie Hebdo »den Mad Max gebe«. »Wir sind aber nicht Mad Max«, sagt Luzier.

Auch die Diskussion um die Finanzen der Zeitung geht weiter. Zum Jahresende wird Charlie Hebdo zum ersten Mal in der Geschichte des Verlags einen Jahresüberschuss erwirtschaftet haben. Zehn bis 15 Million Euro sind auf der Habenseite, ein Drittel davon geht an das Finanzamt. 4,3 Millionen an eingegangenen Spenden werden an die Opfer und Hinterbliebenen des Anschlags ausgezahlt. Einer Steuerbefreiung für den Spendenzweck hat das französische Finanzamt vor Kurzem zugestimmt.

Fortgesetzt wird auch die Debatte, die der Publizist Emmanuel Todd ausgelöst hat. Er spekuliert in seinem Buch »Qui est Charlie?« darüber, welche Bevölkerungsgruppen nach dem Mordanschlag an den Trauermärschen teilgenommen haben. Jüngste Zahlen, die nach repräsentativen Befragungen im März vor Kurzem durch die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) vorgelegt wurden, widerlegen Todds holzschnittartige Interpretationen. Todd hatte behauptet, besonders Landstriche und Gesellschaftskreise mit konservativer, katholischer und antirevolutionärer Tradition hätten sich mit Charlie Hebdo solidarisiert, nicht aber antiklerikale Gruppierungen. Muslime seien ebenso ausgeschlossen gewesen wie der Front National, und weil Letzterer nicht dabei gewesen sei, seien auch die Arbeiter nicht dabei gewesen. Todd wurde daraufhin in der vergangenen Woche von Premierminister Manuel Valls öffentlich kritisiert, vom FN-Politiker Florian Philippot hingegen verteidigt.

Die CNCDH gibt nun an, gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung seien Katholiken auf den Solidaritätskundgebungen unterrepräsentiert gewesen. Menschen mit arabischem und afrikanischem Migrationshintergrund seien bei den Protesten sogar überrepräsentiert gewesen. 30 Prozent der Befragten hätten angegeben, nach dem 7. Januar an irgend­einer Form von Protest teilgenommen zu haben. Weitere 35 Prozent hätten sich dies vorstellen können, seien aber nicht dazu gekommen oder hätten keine Gelegenheit dazugehabt. 33 Prozent dagegen äußerten sich ablehnend. Personen mit höherem Bildungsabschluss nahmen durchschnittlich eher an den Protesten teil als Menschen mit einem besonders niedrigen. Doch 50 Prozent der Protestierenden waren Arbeiter und einfache Angestellte.