Rechts-Rechts-Regierungskoalition in Belgien

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Nazisprüche ohne Ende, harte soziale Einschnitte und erste heftige Proteste…

Von Bernard Schmid, Paris

Antinational geht auch anders – anders als das, was man in Deutschland (seit 1990) allgemein unter diesen Begriff fasst. Auf den ersten Blick klingt es durchaus originell, wenn ein frischgebackener Staatssekretär für Migrations- und Asylpolitik in der Presse mit den Worten zitiert wird: „Ich hasse meine Nationalität.“ Die Nachricht entpuppt sich jedoch schnell als negativ. Denn zwar äußerte der am Samstag, den 11. Oktober dieses Jahres gemeinsam mit dem Rest der neuen Regierung, welcher er angehört, vereidigte Staatssekretär Theo Francken tatsächlich wörtlich: „Ik haat mijn nationaliteit“. Das war in der vergangenen Legislaturperiode, als Francken noch als Abgeordneter im belgischen Bundesparlament saß.

Belgienhasser.. doch völkischer Flame

Doch der schlechte Teil der Information folgt auf dem Fuße. Denn wenn Theo Francken die belgische Staatsangehörigkeit „hasst“, dann vor allem deswegen, weil er – und einige Andere mit ihm – statt des mehrsprachigen belgischen Bundesstaats lieber ein rein niederländischsprachiges, völkisch durchorganisiertes Flandern entstehen sähen. Der Rest des 1830 als Pufferstaat zwischen der britischen und der französischen Einflusssphäre in Europa gegründeten Königreichs, also das französischsprachige Wallonien sowie die gemeinsame Hauptstadt Brüssel, dürften dann eben gucken, wo sie bleiben.

Es ist also beileibe kein Vertreter des Multikulturalismus, der in der Person von Theo Francken auf dem Sitz des Staatssekretärs für Migration und Asyl Platz genommen hat. Im Gegenteil. Immer mehr Einzelheiten kamen rund um die Ernennung des neuen Regierungsmitglieds ans Tageslicht. So hatte Francken in einer E-Mail im Mai 2007 behauptet, wenn es zu Aggressionen gegen Schwule in Brüssel komme, dann „hat das nichts mit uns zu tun“, wobei mit „uns“ wahlweise Belgier oder auch Flamen gemeint waren, sondern damit, dass zu viele „marokkanische Deppen“ im Land lebten. Er fügte hinzu: „Alle Moslems raus aus Brüssel? Das wäre amüsant.“[1]

An anderer Stelle hatte Theo Francken in jüngerer Vergangenheit auch ausgeführt, „Kongolesen, Algerier und Marokkaner“ seien „keine Bereicherung für Belgien“[2]. Vor diesem Hintergrund kündigte die kongolesische Gemeinschaft in Belgien an, eine Kampagne – mit einem „Aktionstag“ als Höhepunkt – gegen den frisch ernannten Staatssekretär Theo Francken durchzuführen[3]. (Die heutige „Demokratische Republik Kongo“/RDC, früher einmal Belgisch-Kongo und zwischen 1972 und 1997 Zaire, war die wichtigste Kolonie des Königreichs Belgien.)

Doch es kam noch dicker. Am selben Wochenende (11/12. Oktober 14), an dem die neue Regierung ihren Amtseid beim belgischen König Philippe ablegte, begab Theo Francken sich zu einer Geburtstagsfeier, an der rund 20 illustre Gäste teilnahmen – unter ihnen noch weitere Parteifreunde Franckens. Es handelte sich um den neunzigsten Geburtstag des flämischen Politikers Bob Maes[4]. Der Greis gehört heute zwar derselben Partei an wie Francken selbst und noch weitere Gäste an, also der 2001 entstandenen „Neuen flämischen Allianz“ (N-VA), für welche seine Tochter Liève im belgischen Senat sowie im flämischen Regionalparlament sitzt. Bob Maes begann seine Karriere jedoch wesentlich früher.

Staatssekretär zu Besuch beim Naziopa

Während des Zweiten Weltkriegs, dessen Ausgang er im Alter von 16 erlebte, gehörte er unter anderem der „Nationalsozialistischen Jugend Flanderns“ (NSJV) an. Als Jugendsünde oder Verirrung in jungen Jahren betrachtet hat er dies zu keinem Zeitpunkt, denn er setzte seinen Kampf für germanisch-völkische Ideale und den flämischen Nationalismus in seinem späteren Leben zunächst bruchlos vor. Bekannt wurde Maes vor allem dadurch, dass er 1949/50 den Vlaamsen Militante Orden (VMO) gründete, eine paramilitärische rechtsextreme Organisation, die für eine Unabhängigkeit Flanderns und eine Amnestie aller flämischen NS-Kollaborateure eintrat. Diese löste er im Juni 1971 auf. Fortan war der stinkende Naziopa, pardon; war der werte Herr nur noch bei der flämisch-nationalistischen Volksunie aktiv, deren Führung er seit ihrer Gründung 1954 parallel zu seinen militanten Aktivitäten angehört hatte – es handelte sich um eine breite Sammlungspartei des Jammerflamentums, die damals ein Spektrum von der rechten Mitte bis hin zu militanten Faschisten umfasste. Aus ihren Trümmern entstand 2001 die aktuelle belgische Regierungspartei N-VA; und aus einer Abspaltung von ihr ging 1977/78 der neofaschistische Vlaams Blok hervor, der heutige Vlaams Belang („Flämisches Interesse“).

In den letzten Jahren hat der Aufstieg der N-VA, die als eine Variante der völkisch-konservativen Rechten – ähnlich der ungarischen Regierungspartei FIDESZ – gelten darf, den neofaschistischen Vlaams Belang zunehmend marginalisiert und nahezu zu einer Splitterpartei herabgestuft. Noch bei den Europa- und Regionalparlamentswahlen 2004 hatte der VB, zu dessen dauerhaften Verbündeten etwa der französische Front National und die deutsche Partei „Pro NRW“ zählen, in Nordbelgien, also dem flämischen Landesteil, 23 respektive 24 Prozent der Stimmen erhalten. Bei der diesjährigen Europaparlamentswahl stürzte der VB hingegen im niederländischen „Wählerkolleg“ – die Stimmabgabe erfolgt nach Sprachgruppen getrennt – noch 6,76 Prozent, das ergab landesweit nur 4,3 Prozent. Zeitgleich vollzog sich der Aufstieg der „Neuen Flämischen Allianz“ unter ihrem Anführer Bart de Wever.

Abgespeckt doch hässlich: Parteichef de Wever

Der 43jährige amtiert seit 2012 als Bürgermeister von Antwerpen. Dort hatte der Vlaams Belang ihm eine örtliche Koalition angeboten, mit dem Argument, dass die rechtsextreme Partei „über lange Jahr gesät hat, was die N-VA und Bart de Wever nun ernten können“, so ihr früherer Chef Filip Dewinter. De Wever entschied sich jedoch für eine Rathauskoalition mit den flämischen Christdemokraten und Liberalen. Im selben Jahr hatte er über 42 Kilogramm auf einen Schlag abgenommen, was seine Ambitionen unterstreichen sollte, zum politischen Karrieresprung durchzustarten.

Nunmehr scheint er weitgehend am Ziel seiner Träume. Noch nicht, was das politische Fernziels seiner Partei betrifft, den belgischen Bundestaat „verdampfen“ zu lassen, während der VB verbalradikal „Belgien bersten“ lassen möchte. Aber auf Bundesebene darf die flämisch-nationalistische Partei nun mitregieren. Und da ihr unter anderem das Innenministerium überantwortet wurde, unterstehen nunmehr 90 Prozent der belgischen Bundesbeamten der Partei, die dieses aus dem Süden der einstmaligen „Spanischen Niederlande“ gebildete Land am liebsten alsbald aufspalten würde. Ihr unterstehen nunmehr auch Armee, Polizei sowie Geheimdienste.

„Die Schwedische“

Der Regierungseintritt der N-VA wurde dadurch möglich, dass die flämischen und die wallonischen Wirtschaftsliberalen – in Gestalt der französischsprachigen Partei MR („Reformbewegung“) und der niederländischsprachigen Open VLD, welche ungefähr mit der deutschen FDP vergleichbar wären, falls diese denn Erfolg hätte – sowie flämische Christdemokraten sich dazu entschlossen, eine „rein wirtschaftsorientierte Regierung“ zu bilden. Diese hört nun auf den Namen „Die Schwedische“, denn die Koalition vereinigt die Parteifarben blau für die Wirtschaftsliberalen und gelb bei den flämischen Nationalisten sowie die Christdemokraten der CD&V mit einem Kreuz als Erkennungszeichen.

Es war eine Richtungsentscheidung, die zum Ausschluss der Sozialdemokratie aus dem neuen Kabinett führte. Bislang hatte diese, unter dem französischsprachigen Premierminister Elio Di Rupo, eine Regierung gemeinsam mit Christdemokraten und Liberalen beider Sprachgruppen gebildet. Doch dann entschlossen sich führende Politiker und Wirtschaftskreise, mit dem großkoalitionären Konsens müsse nun endlich Schluss sein. Angeführt wird die neue Regierung vom erst 38jährigen Premierminister Charles Michel vom Mouvement Réformateur (MR).

Seitdem hat sich das Land wesentlich stärker polarisiert als zuvor. Es begann bei der ersten Sitzung des Parlaments nach der Regierungsbildung, die am Montag, den 14. Oktober 14 stattfand[5]. Abgeordnete der Oppositionsparteien empörten sich über Aussprüche mehrere Regierungsmitglieder. Dazu zählten nicht nur vergangene Zitate des berüchtigten Theo Francken, sondern auch ein frischer Ausspruch des neuen Innenministers Jan Jambon von der N-VA. Er hatte gemeint, erklären zu müssen, flämische NS-Kollaborateure hätten „gute Gründe gehabt“, womit er die angebliche oder damals auch tatsächliche Benachteiligung Flanderns gegenüber dem damals reicheren und heute ärmeren Südbelgien meinte. Bei der ersten Parlamentssitzung ging es deswegen drunter und drüber, und der Fraktionsvorsitzende der N-VA Hendrik Vuye monierte ein „Treiben wie im Kindergarten“.

Sein Parteichef Bart de Wever weilte zu dem Zeitpunkt in China. Als er bei seiner Rückkehr aus dem Flugzeug stieg, war sein erster Kommentar, zwar sei die NS-Kollaboration flämischer Nationalisten „ein Fehler“ gewesen, aber dieser sei nun einmal vielen Leuten unterlaufen: „Joseph Ratzinger war Hitlerjunge, François Mitterrand war Kollaborateur.“ De Wever beendete den Austausch mit dem Journalisten Tim Pauwels, indem er das Thema vom Tisch wischte: „Darf ich mich bitte um die Probleme dieses Jahrhunderts kümmern, statt um die des vergangenen Jahrhunderts?“ Die Vorgänge im Parlament charakterisierte er als „Fischmarkt“.

Regierungserklärung: Rechts marsch!

Inhaltlich bringt die Regierungsvereinbarung viel Erwartbares, etwa den Bau zusätzlicher Plätze in Abschiebegefängnissen. Theo Francken hatte im April dieses Jahres von der damaligen Regierung gefordert, Abschiebegefangene neben dem Inland auch in den benachbarten Niederlanden unterzubringen. Nunmehr versicherte er aber scheinbar beruhigend: „Es geht darum, kriminelle illegale Ausländer abzuschieben und nicht gut integrierte, die in Bereichen beschäftigt sind, in denen wir Arbeitskräftemangel haben“. Aber auch manches eher Unerwartete steht im Koalitionsvertrag.

In der Vereinbarung zur Innenpolitik, die von Amnesty international und der Liga für Menschenrechte (LDH) als „beunruhigend“ bezeichnet wird, findet sich ein vage gehaltenes Kapitel zur „Bekämpfung von Radikalisierung“. Damit sind zwar auch Jihadisten gemeint, aber mutmaßlich beileibe nicht nur, lässt sich die Interpretation dieses Begriffs doch ganz im Sinne der berüchtigten so genannten „Extremismustheorie“ ziemlich weit ausdehnen. Da kam es doch sozusagen wunderbar passend, dass die beiden völkischen Innenpolitiker – sofern die Nachricht denn tatsächlich zutrifft – Theo Francken und Jan Jambon Ende Oktober „nach eigenen Angaben“ Todesdrohungen von radikalen Islamisten bekommen haben sollen[6]. Nun ja: vielleicht stimmt’s, vielleicht stimmt auch kein Wort daran…

Am selben Ort findet sich im Koalitionsvertrag auch eine Passage, die explizit Armeeeinsätze im Inneren zur Unterstützung der Polizei vorsieht. Ferner soll es zusätzliche Haftplätze geben, wobei Bart de Wevers Vorschlag aus dem Wahlkampf, gleich ein ausgelagertes belgisches Gefängnis in Marokko zu errichten, nicht durchkam.

Dies Alles droht allerdings, vor allem im flämischen Landesteil durchaus stellenweise populär zu sein. Rassismus ist dort in Teilen der Gesellschaft fest verankert. Kritische Stimmen behaupten, Tierschutz sei dort ein Anliegen, das allemal erst genommen würde als die Menschenrechte von Migranten[7]… Und ein Test hat ergeben, dass es in Flandern sowie zum Teil auch in Brüssel (bei manchen Taxigesellschaften) einwandfrei möglich ist, ein Taxi beim Anbieter zu reservieren unter der ausdrücklichen Maßgabe, es müsse einen „weißen Fahrer“ aufweisen[8]. Was natürlich auch in Belgien illegal ist und einen Verstoß gegen einschlägige gültige Antidiskriminierungsvorschriften darstellt.  Besonders in Flandern hat jedoch die so genannte „nationale Identität“ sehr lange Zeit hindurch die sozialen Widersprüche überdeckt und zugekleistert, so dass impliziter und auch expliziter Rassismus die Atmosphäre nachhaltig vergiften konnte.

Dazu trug ein geschichtlich begründetes, aber längst überholtes Benachteiligungsgefühl im flämischen Landesteil bei, aber auch die historische Schwäche der Arbeiterbewegung in Flandern (wo die Sozialdemokratie in der jüngeren Geschichte nie über einen Fünfzehn-Prozent-Anteil hinauskam). Die belgische Bourgeoisie war historisch derart strukturiert, dass französischsprachige Kreise den Ton angaben und Flämisch als Sprache von „Bauerntrotteln“ durchging; es war im Jahr 1917 in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, wo erstmals flämische Soldaten sich gegen diese reale Benachteiligung erhoben. Seit den 1960er und 1970er ist jedoch Flandern, das heute auch der bevölkerungsreichere Landesteil ist (und rund 60 Prozent der Einwohner/innen Belgiens stellt), längst der wohlhabendere und wirtschaftlich dynamischere Teil Belgiens geworden, infolge von Umstrukturierungen und dem Niedergang von Kohle- und Stahlindustrie. Materiell ist also das permanente flämische Gejammere über die eigene Lage seit Jahrzehnten unbegründet. Hinzu kommt jedoch auch, dass die belgische Bourgeoisie historisch für ein Modell optiert hatte, bei dem es in Flandern keine größeren industriellen Konzentrationen gab, sondern nur über ländliche Zonen und kleinere Städte verstreute Klein- und „mittelständische“ Betrieb: Dies sollte das Aufkommen einer Arbeiterbewegung, durch geographische Zersplitterung der Arbeiterschaft, im nördlichen Landesteil verhindern. Die historische Rache dafür ist nun, dass der Nationalismus in Flandern (neben bürgerlich-liberalen Kräften) eine politisch und sozial dominierende Position gewonnen hat und bis heute einnimmt.

Den dicksten Bock zum Gärtner berufen

Zum Leiter des Antidiskriminierungszentrums (Centre interfédéral d’égalité des chances, ungefähr „bundesweites Zentrum für Chancengleichheit“) erhob die Koalitionspartei N-VA eines ihres Mitglieder, den Juraprofessor und Verfassungsrechtsexperten Matthias Storme, der als ausgewiesener Gegner jeglicher Diskriminierungsbekämpfung gilt. 2004 musste er seinen damaligen Platz in der Parteiführung der N-VA räumen, weil er infolge der damaligen höchstrichterlichen Verurteilung des rechtsextremen Vlaams Blok – die Partei war als rassistisch beurteilt und deswegen von der Parteienfinanzierung ausgeschlossen worden, weshalb sie sich flugs umbenannte und in den Vlaams Belang umwandelte – erklärt hatte, dieses Urteil verpflichte ihn moralisch quasi zu einer Stimmabgabe für diese neofaschistische Partei.  Am 27. Oktober d.J. zitiert die belgische Zeitung De Morgen ihn ferner mit der früher getätigten Äußerung, es sei „ein Grundrecht, zu diskriminieren“[9]. In einem Presseinterview vom 06. November 14 bekräftigt Storme seine Position. „In Belgien verwechselt man“, ihm zufolge, „Recht mit Moral“. Aber, fährt er fort, „ein Arbeitgeber muss frei sein, seine Angestellten ganz nach seinen Interessen auszuwählen, weil er sonst die Konsequenzen ertragen muss[10].

Soziales: Streik, Streik, Streik!

In sozialer und wirtschaftspolitischer Hinsicht droht an vielen Stellen ein rabiater Kahlschlag. Die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen sind in weiten Bereichen von der früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher, deren Name nun in der Presse immer wieder fällt, inspiriert worden. In Teilen der flämischen Gesellschaft ist dies jedoch durchaus populär, ist man doch dort der Auffassung, die Wallonen und die Ausländer würden schon zahlen. Da der südliche Landesteil aufgrund seiner sozialen Struktur, mit dem Niedergang der früheren in Wallonien ansässigen Schwerindustrie, bislang mehr Leistungen aus der Kranken- und der Arbeitslosenkasse bezieht als das dank Häfen und Dienstleistungsindustrie relativ boomende Flandern, sollten die armen Schlucker nun ruhig zur Kasse gebeten werden.

Am 05. November 14 berichteten die beiden Zeitungen Het Nieuwsblad und De Standaard, Langzeitkranke erhielten ab Anfang 2015 künftig bis zu 269 Euro im Monat weniger, da es ihnen künftig nicht länger erlaubt wird, den Bezug von Arbeitslosengeld mit einer Leistung der Krankenkasse zu kombinieren. Die belgische Linkspartei PTB – eine früher einmal maoistische Formation, die in den letzten Jahren einen Öffnungsprozess durchlaufen hat und derzeit ein relativ breites Echo genießt; von ihr kam auch die Information über den Besuch von Staatssekretär Francken beim Naziopa Bob Maes  – publizierte bereits am 15. Oktober diese Jahres Zahlen zu den eingeleiteten „Reformen“ bei den Pensionen. Dieses bedeuteten bis zu 300 Euro monatlich weniger für Rentnerinnen und Rentner. Zudem soll das gesetzliche Renteneintrittsalter angehoben werden, auf 66 im Jahr 2025 und dann zügig weiter auf 67 binnen Ablauf von fünf Jahren (also bis 2030).

Als Erste protestierten Beamte dagegen, die mit am härtesten von den neuen Rentenregelungen getroffen werden, und Polizisten traten während der Herbstferien am Flughafen von Brüssel in einen Bummelstreik bzw. leisteten „Dienst nach Vorschrift“. Bei der staatlichen Bahngesellschaft SNCB wurde beschlossen, Teilnehmer/innen an „wilden Streiks“ – denn die ersten Arbeitsniederlegungen fanden ohne Unterstützung durch einen der gewerkschaftlichen Dachverbände statt[11] – in einem beschleunigten Verfahren mit Disziplinarstrafen zu belegen[12]. Wie am 22. Oktober 14 durch die Zeitung L’Echo bekannt wurde, sollen solche Sanktionen künftig innerhalb von zehn Tagen verhängt werden.

Am 06. November 14 fanden dann in weiten Bereichen, etwa sämtlichen öffentlichen Verkehrsbetrieben, massiv befolgte Streiks statt. Am selben Tag riefen die beiden wichtigsten Gewerkschaftsdachverbände, die sozialdemokratisch geführte FGTB mit gut einer Million Mitgliedern, aber auch der ansonsten eher zahme christliche Gewerkschaftsbund CSC mit nominell 1,7 Millionen Beitragszahler/inne/n[13], zu einer Demonstration in der Hauptstadt Brüssel. Dazu kamen rund 120.000 Menschen. Gemessen an der Einwohner/innen/zahl des Landes ist dies mit einem Protestzug von über einer halben Million Menschen in Paris oder knapp eine Million in Berlin vergleichbar. Die Demonstration wurde vielfach als „historisch“ bezeichnet[14].

Am Rande der Demonstration schepperte es im Laufe des Nachmittags auch tüchtig, jedenfalls für belgische Verhältnisse; zwei Autos wurden umgeworfen, Mülltonnen in Brand gesetzt, und Wurfgeschosse flogen auf die Polizei. Dafür machten die Medien zum Teil „Anarchisten“ verantwortlich. So sehr viele militante Anarchos gibt es freilich in Belgien überhaupt nicht (in Brüssel gibt es jedoch eine sich als „autonome“ bezeichnende Szene, die überwiegend aus Antiimps der Uralt-Schule besteht). Allerdings ergibt sich aus vielen Berichten auch, dass militante Rechtsextreme ihrerseits eine Rolle bei den Ausschreitungen spielten, an denen sich insgesamt 1.000 bis 2.000 Personen beteiligt haben sollen[15]. Bei ihnen spielten Hafenarbeitermilieus aus Antwerpen eine wichtige Rolle, unter denen der Vlaams Belang traditionell stark verankert ist. Möglicherweise will die extreme Rechte also ihre nationalistischen Konkurrenten einer Bewährungsprobe aussetzen und sie zu einer autoritäreren Politik zwingen. Die antifaschistische Webseite Resistances.be berichtete, einige dieser Hafenarbeiter hätten am Rande der Demonstration marokkanischstämmige Einwohner von Brüssel sowie einen politischen Flüchtling aus Lateinamerika körperlich angegriffen[16]. Auch Angehörige der „Autonomen Nationalisten Flandern“ sowie der in Brüssel und Wallonien ansässigen, „national-solidaristischen“ Gruppierung namens Nation wurden demnach gesichtet.

Bei der belgischen Staatsbahn läuft seit dem 07. und noch bis zu diesem Sonntag, den 23. November weiterhin ein genereller Streikaufruf einer Gewerkschaft, die dadurch Arbeitsniederlegungen rechtlich abdeckt und ihnen ihren „wilden“ Charakter nimmt. Am Montag, den 24. November 14 wird in vier Provinzen Belgiens – Lüttich, Luxemburg, Limburg und Antwerpen – erneut zum Streik geblasen. Im Vorfeld kursieren wilde Gerüchte, die offenkundig durch die politische Rechte in die Welt gesetzt wurden, dabei wird sogar mit „möglichen Toten“ bei angeblich bevorstehenden Auseinandersetzungen gedroht[17].  Und am 15. Dezember d.J. soll es sogar einen Aufruf zum Generalstreik von drei Gewerkschaftsdachverbänden geben[18].

Ein Kommentator in der französischsprachigen Brüsseler Zeitung Le Vif-L’Express sieht die „Gefahr eines gespaltenen Landes: Marx kontra Thatcher“ heraufziehen[19]. Wenn dem nur so wäre, dann müsste man sich darüber jedoch höchst erfreuen zeigen, auch wenn die Vision eines in derart breiten Kreisen geteilten Marxismus doch sehr optimistisch ausfällt. Besser als die ewige Teilung in Sprachgruppen –  in nunmehr triumphierende Jammerflamen, Wallonen, Brüsseler und deutschsprachige Ostbelgier/innen – wäre es allemal. Auf diese Weise könnte das Land endlich eine Zukunft finden.

[1] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/petits-cons-marocains-un-e-mail-douteux-de-francken-refait-surface-une-elue-ecolo-porte-plainte/article-normal-317087.html?utm_source=Newsletter-18/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[2] Vgl. http://brf.be/nachrichten/national/814096/

[3] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/la-communaute-congolaise-appelle-a-une-journee-d-action-nationale-contre-theo-francken/article-normal-323221.html?utm_source=Newsletter-31/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[4] Vgl. bspw. http://www.levif.be/actualite/belgique/theo-francken-etait-present-a-l-anniversaire-du-fondateur-de-la-milice-d-extreme-droite-vmo/article-normal-316559.html?utm_source=Newsletter-14/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBAVULV&M_BT=1804051092693  oder, mit Foto und auf Flämisch, unter http://www.knack.be/nieuws/belgie/francken-en-weyts-op-viering-ex-vmo-leider-bob-maes-en-dan/article-normal-436521.html

[5] Vgl. u.a. http://www.levif.be/actualite/belgique/un-gros-chahut-ouvre-une-legislature-de-confrontations/article-normal-316615.html?utm_source=Newsletter-14/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBAVULV&M_BT=1804051092693

[6] Vgl. http://www.europeonline-magazine.eu/todesdrohung-gegen-belgischen-innenminister_361371.html

[7] Vgl. wörtlich unter http://www.levif.be/actualite/belgique/les-flamands-eprouvent-manifestement-plus-d-empathie-pour-les-animaux-que-pour-les-immigres/article-normal-322855.html?utm_source=Newsletter-29/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[8] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/les-flamands-eprouvent-manifestement-plus-d-empathie-pour-les-animaux-que-pour-les-immigres/article-normal-322855.html?utm_source=Newsletter-29/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[9] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/un-adversaire-de-la-loi-anti-discrimination-nomme-administrateur-du-centre-pour-l-egalite-des-chances/article-normal-322457.html?utm_source=Newsletter-27/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[10] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/matthias-storme-en-belgique-on-confond-la-morale-et-le-droit/article-normal-324037.html?utm_source=Newsletter-06/11/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBAVULV&M_BT=1804051092693

[11] Vgl. http://www.lavenir.net/article/detail.aspx?articleid=DMF20141020_00546362

[12] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/la-sncb-accelere-les-sanctions-pour-les-participants-a-des-greves-sauvages/article-normal-321829.html?utm_source=Newsletter-22/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[13] Vgl. dazu ein ein gemeinsames Interview mit ihrem jeweiligen Generalsekretär/sekretärin: http://www.levif.be/actualite/belgique/qu-ils-essaient-de-toucher-au-statut-des-syndicats/article-normal-323771.html?utm_source=Newsletter-05/11/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[14] Vgl. etwa http://www.levif.be/actualite/belgique/une-manifestation-historique/article-normal-324135.html?utm_source=Newsletter-07/11/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[15] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/des-militants-d-extreme-droite-ont-infiltre-la-manifestation/article-normal-324149.html?utm_source=Newsletter-07/11/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBAVULV&M_BT=1804051092693

[16] Vgl. http://resistancesnews.be/spip/spip.php?article165

[17] Vgl. dazu als Widerhall in der belgischen Presse: http://www.levif.be/actualite/belgique/la-declaration-gouvernementale-represente-un-danger-pour-les-droits-democratiques/article-opinion-350819.html?utm_source=Newsletter-13/11/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[18] Vgl. dazu einen Überblick: http://www.levif.be/actualite/belgique/actions-syndicales-qui-fera-la-greve-quand-et-pourquoi/article-normal-321873.html?utm_source=Newsletter-22/10/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693

[19] Vgl. http://www.levif.be/actualite/belgique/marx-contre-thatcher-le-danger-d-une-belgique-divisee/article-opinion-323971.html?utm_source=Newsletter-06/11/2014&utm_medium=Email&utm_campaign=Newsletter-RNBDAGLV&M_BT=1804051092693