Das tatsächliche Ausmaß des – beeindruckenden – Wahlerfolgs des Front National (FN) muss zwar relativiert werden. Dennoch kündigt er für alle progressiven Kräfte nichts Gutes an, während die etablierten Parteien ihr selbstverschuldetes Desaster ausbaden. Die Regierung des rechten Sozialdemokraten Manuel Valls kommt unterdessen nur auf einen Einfall: Steuersenkungen, Steuersenkungen, Steuersenkungen! Eine rechte Antwort auf das Desaster einer rechtssozialdemokratischen Regierungspolitik, die niemanden zur Zustimmung treibt…
Von Bernard Schmid, Paris
Bei den Europaparlamentswahlen in Frankreich erhielt die Flaschensammlung rund um Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls einen monumentalen Fußtritt. Das HÄTTE aus linker Sicht vielleicht eine gute Nachricht sein können. Es hätte, wenn denn als Alternative zu ihrer rein kapitalfreundlichen Politik etwa linke Alternativen gestärkt worden wären. Oder falls zumindest anderweitig tatsächliche oder vermeintliche Wahlalternativen, seien sie grün oder piratig oder sonst etwas, aus – wie auch immer diffus ausfallendem – Protest gegen die Regierungspolitik gestärkt worden wären.
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Als glänzender Sieger aus der französischen Wahl zum Europaparlament geht der rechtsextreme Front National (FN) hervor. Laut dem vorläufigen amtlichen Endergebnissen erhielt er 24,85 % der abgegebenen Stimmen. Damit wurde die neofaschistische Partei zur stärksten Kraft und erhielt allein 24 Sitze, von insgesamt 74, welche Frankreich zustehen.
Andere politische Kräfte
In Frankreich kann der FN triumphieren. Die stärkste Partei auf der bürgerlichen Rechten, die wirtschaftsliberal-konservative UMP (eine Partei ungefähr vergleichbar mit der deutschen CDU/CSU, in jüngerer Zeit mit erstarktem national-reaktionären Flügel), schnitt mit 20,79 % erheblich schwächer ab. Die gemeinsame Liste der regierenden Sozialdemokraten und der linksliberal-bürgerlichen ,Radikalen Partei der Linken‘ (PRG; ihr Name bezieht sich auf den als ,Radikalismus‘ bezeichneten antiklerikalen Liberalismus im 19. Jahrhundert) erhielt nur 13,98 % der Stimmen. Damit unterbot die regierende französische Sozialdemokratie ihren Tiefenrekord von der Europaparlamentswahl im Juni 1994, mit damals 14,49 % der Stimmen.
Nur leider gewann auch keinerlei Alternative links von ihr hinzu. Die ,Linksfront‘ (der ,Front de gauche‘ – FdG, also der seit 2009 existierende Zusammenschluss aus französischer KP und der ,Linkspartei‘ – dem Parti de Gauche, PG -, einer Abspaltung von der Sozialdemokratie) erhielt nur 6,34 %. Dadurch sank sein Stimmenanteil noch gegenüber der Europarlamentswahl vom Juni 2009, der ersten, zu welcher das Linksbündnis antrat; damals erhielt es 6,48 % der abgegebenen Stimmen. Auch die nicht etablierte, außerinstitutionelle radikale Links konnte wirklich überhaupt nicht punkten. Die Liste der ,Neuen Antikapitalistischen Partei‘ (des NPA) mit ihrer Gallionsfigur Olivier Besancenot etwa erzielte im Wahlkreis von Paris plus Umland dieses Mal nur 0,8 % der Stimmen. Nicht einmal die nur leicht links von der Sozialdemokratie stehenden, doch immerhin Anfang April d.J. aus der Regierung ausgetretenen Grünen konnten sich halten. Nachdem ihre Liste im Juni 2009 in Frankreich noch stattliche 16,3 % der Stimmen erzielte, erhielten sie dieses Mal nur noch 8,91 %. Und dies, obwohl Europaparlamentswahlen – aufgrund des ausgeprägt „pro-europäischen“ Charakters dieser Partei sowie der Tatsache, dass die EU-Wahl in Frankreich als einzige nach dem reinen Verhältniswahlrecht abläuft – die mit Abstand günstigsten für die Ökopartei darstellen.
Die Ursachen für das Desaster der stärksten etablierten Parteien sind ausschließlich hausgemacht. Seitens der Sozialdemokratie liegt sie in der vollkommen rechtslastigen, rein kapitalfreundlichen Regierungspolitik. Diese kann nun wirklich niemanden begeistern: Wirtschaftsliberale Wähler/innen stimmen gleich direkt für den Bürgerblock, und der extremen Rechten wird der Ausdruck sozialen Veränderungswunschs als (demagogisches) Wahlargument zum Billigstpreis überlassen.
Die UMP wiederum stolpert über die tiefen Spaltungslinien und Gräben, die ihr Lager derzeit durchziehen. Da wäre ihre inhaltliche Gespaltenheit bezüglich der EU-Integration versus Rückkehr zum guten alten Nationalstaat – ihr vormaliger Regierungssprecher Laurent Wauquiez etwa outet sich einem jüngst publizierten Buch als EU-Feind und fordert eine von 28 auf nur noch sechs Mitglieder radikal geschrumpfte Union, weswegen Ex-Außenminister Alain Juppé ihn umgehend zum Austritt aus der Partei aufforderte. Und da wäre vor allem auch ihr innerparteilicher Streit rund um haarsträubende Korruptionsaffären. Die Kommunikationsfirma Bygmalion, angeleitet von persönlichen Freunden des amtierenden UMP-Vorsitzenden Jean-François Copé, hatte sich Summen in mehrfacher Millionenhöhe in die Tasche gesteckt dafür, dass sie ein paar Stühle, Räume und Mikrophone für Parteiveranstaltungen anmietete. Der Skandal war schon vergangene Woche voll ausgebrochen. Noch in der Nacht nach dem Wahlabend spitzte er sich erneut zu. Die konservative, UMP-nahe Tageszeitung ,Le Figaro‘ titelte kurz vor Mitternacht auf ihrer Webseite: „UMP: Der Krieg ist erklärt“, und Ex-Premierminister François Fillon kündigte im Laufe des Abends seine Abspaltung und die Gründung einer eigenen Partei an. Diese Situation dürfte aus Sicht des FN höchsterfreulich ausfallen, scheint sie ihm doch zu garantieren, auf längere Sicht stärkste Kraft auf der politischen Rechten zu bleiben…
Was die linken (potenziellen) Stimmalternativen betrifft, so konnten sie sich in ihrer Mehrheit nicht klar genug von Regierung und sozialdemokratischer „Realpolitik“ im Namen der Kapitallogik abgrenzen. Im Vorfeld der diesjährigen französischen Kommunalwahlen vom 23. und 30. März 14 hatte die ,Linksfront‘ sich auf das Heftigste darüber zerstritten, wie man sich gegenüber der Sozialdemokratie positionieren sollte. Die französische KP (welche eher den rechteren Flügel im Bündnis darstellt) hatte sich im Laufe des Winters 2013/14 dazu entschieden, in rund einem Drittel der Kommunen – darunter besonders sichtbare Städte wie Paris – keine eigene Liste aufzustellen, sondern schon im ersten Wahlgang gemeinsam mit der Sozialdemokratie anzutreten. Dadurch wurde das „Oppositions“profil, das die „Linksfront“ auf frankreichweiter Ebene an den Tag zu legen versucht, gehörig verwischt. Auch wenn andere Fraktionen der heterogen zusammengesetzten Links-Allianzen gleichzeitig eigene Listen unabhängig von der Sozialdemokratie aufstellten, was freilich zum Eindruck nachhaltiger Zerstrittenheit führte. Und was die radikale Linke betrifft (alle Listen links von der etablierten ,Linksfront‘ erzielten am Sonntag zusammen nur 1,6 % in Frankreich, gegenüber rund sechs Prozent bei der letzten EP-Wahl im Juni 2009), so konnte sie ebenfalls nicht punkten. Verantwortlich dafür ist u.a. ein Versuch, sich als „politischen Ausdruck der sozialen Kämpfe“ zu profilieren – in einem Augenblick, wo soziale Kämpfe in Zeiten der Krise fast inexistent sind, u.a. auch aufgrund der dämpfenden Politik der Mehrzahl der Gewerkschaftsapparate.
Vorläufige Bewertung des FN-Ergebnisses
Den Triumph des Front National gilt es nun nicht zu überzeichnen: Die rechtsextreme Partei erhielt an diesem Sonntag rund 4,7 Millionen Stimmen. Hingegen erzielte ihre Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen am 22. April 2012 ihrerseits über sechs Millionen Stimmen. Der Front National (FN) profitierte – was seinen Prozentanteil betrifft – stark von der hohen Wahlenthaltung, die genau 57 Prozent betrug; auch wenn die Beteiligung mit 43,0 % leicht höher ausfiel als noch im Juni 2009 (damals 40,63 %).
Bei Europaparlamentswahlen zu punkten, ist nicht unbedingt die leichteste Übung für den FN, aufgrund seines „europafernen“, gegenüber der EU distanzierten bis feindlichen Charakters. Auch wenn gleichzeitig der Wahlmodus nach dem Verhältniswahlrecht die Stimmabgabe für den FN erleichtert – anders als bei Anwendung des Mehrheitswahlrechts (wie bei den Wahlen zur Nationalversammlung) besteht hier für FN-Wähler/innen quasi keinerlei Risiko, eine „verlorene Stimme“ abzugeben.
In diesem Falle hat es besonders der Front National vermocht, seine Wähler/innen/schaft zu motivieren und an die Urnen zu bringen. Ihr versprach die rechtsextreme Partei keinerlei „konstruktives“ Verhalten im Europaparlament: Marine Le Pen kündigte eine reine Blockadepolitik an, „um das verrückte Vorrücken der EU-Integration aufzuhalten“ (01.05.14). In der Praxis entschieden sich jedoch, laut Ergebnissen von Befragungen der Wählerschaft, zwei Drittel der FN-Anhänger/innen „infolge von innenpolitischen Erwägungen“ zu ihrer Stimmabgabe, und ein Drittel „infolge von europapolitischen Erwägungen“. Im Durchschnitt der französischen Gesamtwählerschaft lagen die Proportionen ungefähr umgekehrt.
Im Übrigen betrieb der FN einen Wahlkampf gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Ein Thema, das er in seinem Wahlkampfmaterial fälschlich mit einer tunesischen (statt einer türkischen) Flagge illustrierte. Lächerlichkeit tötet nicht.
Die Ressentiments gegen einen, bislang rein hypothetischen, Beitritt der Türkei zur EU nutzte im Übrigen auch die UMP als Wahlkampf„argument“. Ähnlich, wie Politiker der UMP ebenso wie jene des FN gegen ein angeblich „für Einwanderung durchlässiges Europa mit löcherigen Grenzen“ und das, laut ihrer Darstellung angeblich zu permissive, Schengen-Abkommen von rechts her Front machten.
Dieses beim Front National „klassische“, zu seinen politischen Geschäftsgrundlagen zählende Thema – „Einwanderung“ – sprach Jean-Marie Le Pen in der letzten Wahlkampfwoche anlässlich einer Veranstaltung in Marseille mit Aufsehen erregenden Worten an. Der Parteigründer und Spitzenkandidat in der Wahlregion Südostfrankreich behauptete, aufgrund der Demographie Afrikas und Asien laste „ein gewaltiger Immigrationsdruck auf unserem Land“, und fügte hinzu: „Doch Herr Ebola könnte dieses Problem in drei Monaten lösen!“ ((Vgl. http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/couacs/2014/05/21/25005-20140521ARTFIG00054-monseigneur-ebola-la-solution-de-jean-marie-le-pen-face-a-l-immigration.php )) Dabei spielte er auf den gleichnamigen, meist tödlichen – jedoch nicht sonderlich ansteckenden – Virus an, der besonders in Zentral- und Westafrika wütet. Zu Anfang dieses Jahre hatte eine Ebola-Epidemie in Guinea und Mali rund 100 Personen getötet; sie wurde jedoch kurz darauf unter Kontrolle gebracht. Das Aussprechen solcher „Lösungen“ regt laut Auffassung zahlloser Kritiker/innen genozid-ähnliche Fantasien bei den aufnahmebereiten Zuhörern an. Deswegen bekam der Front National in den letzten drei Tagen vor der Europaparlamentswahl nochmals spürbaren Gegenwind in Frankreich (bereits zuvor hatten Auftritte von Marine Le Pen u.a. in Rouen und Le Havre Gegendemonstrationen hervorgerufen). Allerdings hatten die Aussprüche Jean-Marie Le Pens, der an gezielte Provokationen gewöhnt ist, zugleich eine Funktion für die extreme Rechte: Sie dienten als „Stachel“, der dafür sorgte, dass seine Partei im Gespräch blieb und sich vom vermeintlichen Konsens-Einerlei aller übrigen politischen Kräfte sichtlich abhob.
Gleichzeitig sorgte der FN auch am Wahlsonntag tagsüber – während weder Wahlkampf stattfinden, noch (provisorische) Ergebnisse vorab verkündet werden dürfen – dafür, dass man über sie sprach: Am Sonntag tagsüber wetterte sie lautstark gegen einen angeblichen „großflächigen Wahlbetrug“ der Regierung zu ihren Lasten, weil in manchen Wahlbüros (u.a. im dritten Pariser Bezirk) keine Stimmzettel des FN in den Wahlbüros ausgelegt worden seien. In Frankreich wählt man nicht auf einem einheitlichen Stimmzettel durch Ankreuzen wie in Deutschland, sondern durch Auswählen eines unter mehreren bereit liegenden Stimmbulletins, die durch die Parteien selbst in Eigenverantwortung und –finanzierung gedruckt werden. Mehrere Webseiten machten am Sonntag vorübergehend auf ihren Titelseiten mit den Agenturmeldungen dazu auf, unter anderem das (von Millionen Menschen genutzte) Portal von Orange.fr; die extreme Rechte hielt sich also tüchtig im Gespräch, während gleichzeitig allen Parteien die Fortführung des Wahlkampfs verboten blieb.
Die absolute Stimmenzahl des FN ist also zu relativieren. Doch besonders negativ erscheint zugleich, dass die höchsten Prozentanteile für die rechtsextreme Partei bei der jüngeren Generation – 30 % bei den unter 30jährigen – sowie in der Arbeiterschaft mit 43 % der abgegebenen Stimmen (nicht jedoch der Wahlberechtigten) zu verzeichnen waren. Die Partei von Marine Le Pen bezeichnet sich nun lautstark als „erste Partei Frankreichs“ – obwohl sie es bislang nur bei einer relativ atypischen Europaparlamentswahl und nicht bei einer nationalen Wahl schaffte, zur stärksten Kraft zu werden – und hatte bereits im Vorfeld Plakate mit einem entsprechenden Aufdruck herstellen lassen. Folglich trat Marine Le Pen in der Wahlnacht mit dieser Aufschrift („Erste Partei Frankreichs“) im Hintergrund vor die Kameras. Und sie wird nun versuchen, mit aller Kraft die neu gewonnene „Glaubwürdigkeit“ als ernstzunehmende politische Kraft zu nutzen, um einen schlagkräftigen Apparat (wieder) aufzubauen. Nachdem der im Zeitraum 1995 bis 1998 zu seiner maximalen Entfaltung gelangte Kaderstamm und Parteiapparat durch die Parteispaltung unter Bruno Mégret 1999 weitgehend zerstört worden war – wovon die Partei sich bis heute nicht wirklich erholt hat.
Vorläufiger Ausblick
Präsident François Hollande hielt am Montag früh einen speziellen „Krisengipfel“ im Elyséepalast zum Wahlausgang ab. Sein Premierminister Manuel Valls kündigte zuvor an, inhaltliche Änderungen an der Regierungspolitik werde es „nicht geben“, der so genannte „Reformkurs wird fortgesetzt“, punktum. Als einzige scheinbare Richtungsänderung verkündete er eine „Fortsetzung und Ausweitung von Steuersenkungen“, nachdem er drei Tage vor der EP-Wahl eine Senkung der Einkommenssteuer für die unteren Steuerklassen angekündigt hatte. Steuersenkungen statt Lohnerhöhungen: eine klassisch bürgerliche (aber keinesfalls linke) Antwort, eine die Finanzen der öffentlichen Hand austrocknende und die Verteilung Kapital/Arbeit nicht antastende Richtungsentscheidung.
Es bleibt also bei derselben rechtslastigen Politik. Kein Trost. Nur: Würden heute Parlament und/oder Präsident gewählt – Marine Le Pen forderte in der Wahlnacht eine Parlamentsauflösung, welche jedoch vom Regierungslager sofort abgelehnt wurde -, käme alles noch schlimmer. Die Sozialdemokratie käme nicht einmal in die Stichwahl um die Präsidentschaft, welche zwischen Nicolas Sarkozy und Marine Le Pen ausgetragen würde…
Könnte es sein, dass die „progressiven“ Kräfte, gar nicht so progressiv sind? Könnte es sein, dass sich Frankreich nicht gründlich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat? Zum Beispiel mit der Tatsache, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung lange Zeit für Petain begeisterte?
Haben nicht gerade einige dieser „Progressiven“ die Fixierung auf Roma von M le Pen übernommen? Als ob das, das wichtigste Problem wäre.
Unterschätzen nicht einige „Progressive“ die Tatsache, dass viele mit arabisch-muslimischen Hintergrund extrem antisemitische Medien aus den Ursprungsländern konsumieren?
Betreiben nicht die „Progressiven“ eine total falsche Beschäftigungspolitik? Und so könnte man die Fragen fortsetzen…
Progressiv, was soll das denn in der Politik sein ;
das ist doch wohl eher reaktionär.
Die FN Gefolgschaft strich den Antisemitismus aus ihrer
offiziellen Rhetorik, Feindbild wurden andere Minderheiten.
25% das ist eine Realität.
Nur das ist auch ein Ergebnis des Versagens der Politik.
EU Feindlichkeit + Migrations Ängste, eine tödliche Melange
für eine pluralistische Gesellschaft, vor allem in Zeiten
des knappen Geldes; da kann man nichts mehr mit Geldern über-
tünchen, die fehlen und Reformen aller Hollande sind ein Witz.
Kommentarfunktion ist geschlossen.