Das Internationale Kinderzentrum Aglasterhausen 1945-48…
Von Jim G. Tobias
Seit rund 80 Jahren betreut die evangelische Diakonie auf dem Schwarzacher Hof im Landkreis Neckar-Odenwald geistig und körperlich behinderte Menschen. Bis heute hat sich die Einrichtung von einer einfachen Pflegeanstalt zu einem modernen Rehabilitationszentrum für behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene entwickelt. Doch während des nationalsozialistischen Terror-Regimes wurden auch aus dieser beschützenden Anstalt über 200 Heimbewohner abgeholt und im Rahmen der verbrecherischen Euthanasie, T4-Aktion genannt, in den Gaskammern von Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ermordet.
Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus beschlagnahmten die US-Militärbehörden, offensichtlich aufgrund der Verstrickungen des Hauses in das NS-Vernichtungsprogramm, den Schwarzacher Hof und übergaben ihn der Hilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitations Administration (UNRRA). Ab September 1945 verwandelte sich der Gebäudekomplex in das International Children’s Center Aglasterhausen. Der Name wurde gewählt, weil sich in der nur wenige Kilometer entfernten Gemeinde Aglasterhausen die Bahnstation befunden hatte.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit irrten Tausende von rassisch oder politisch verfolgten Jungen und Mädchen, entweder Waisen oder Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches umher. Darunter waren zahlreiche jüdische Kinder und Jugendliche. Die meisten von ihnen wurden in den weit über zwei Dutzend Children’s Centers untergebracht, wie sie etwa im bayerischen Indersdorf, im hessischen Lindenfels, im schwäbischen Dornstadt, in Hamburger Ortsteil Blankenese oder eben auf dem Schwarzacher Hof eingerichtet wurden. Während viele dieser Heime ausschließlich jüdische Jungen und Mädchen beherbergten, stand Aglasterhausen allen von den Nationalsozialisten Verfolgten offen. Im Herbst 1945 bezogen die ersten 15 Schutzsuchenden, die Mehrheit von ihnen polnische Juden, das Kinderzentrum. Wenige Tage später folgten 25 nichtjüdische Polen und neun Jungen aus Estland. Bis Weihnachten 1945 stieg die Anzahl der „unbegleiteten Kinder“, so der von den UN-Mitarbeitern verwandte Terminus, auf knapp 150 Personen. Bis September 1947 nahm das Zentrum rund 600 Jugendliche und Kinder aus fast allen Nationen Europas auf – Jugoslawen, Franzosen, Belgier, Holländer, Polen, Russen, Tschechoslowaken und Norweger. Im Mai 1948 lebten insgesamt 138 Bewohner auf dem Hof, darunter 55 jüdische Mädchen und Jungen.
Ein Mediziner, zwei Krankenschwestern und zahlreiche Pflegerinnen versorgten die Kinder.
Bis über das Rote Kreuz und verschiedene andere nationale und internationale Hilfsorganisationen Angehörige oder Adoptiveltern gefunden werden konnten, versuchten die UN-Mitarbeiter die teilweise schwertraumatisierten Kinder und Jugendlichen ins Leben zurückzuführen. Unter der Leitung von UNRRA Direktorin Rachel Greene Rottersmann und ihren 40 Kollegen erhielten die kleinen und größeren Bewohner alle nur erdenkliche Hilfe, sei es medizinische Versorgung, ausreichend Nahrung und Kleidung sowie Geborgenheit, Zuneigung, pädagogische und soziale Betreuung. Die Kinder fühlten sich offenbar wohl, wie Ruth Mairs, der UNRRA Child Care Officer bestätigte: „Selten gab es eine herzlichere Stimmung als hier in Aglasterhausen und das sagten sowohl die Kinder wie auch die Besucher.“ Es entstand ein eigener Kindergarten, eine Schule und diverse berufskundliche Lehrgänge wurden angeboten. Nach Jahren der fast völligen Abwesenheit von jeglicher Bildung und Kultur lernten die Jungen und Mädchen mit großer Begeisterung und wandten sich der Musik, der Literatur und dem Theater zu. Auch der Sport spielte eine bedeutende Rolle. So kam es zur Gründung einer eigenen Fußballmannschaft, die nach den Erinnerungen eines UNRRA-Mitarbeiters mit guten Leistungen überzeugte. Gegen welche Teams die Lagerelf spielte, ist leider nicht überliefert.
Säuglinge und Kleinkinder wurden in der eigenen Kinderkrippe betreut.
So vergingen die Jahre. Manche musste länger als erwartet in Aglasterhausen ausharren. „Unsere Hoffnung, dass wir die Kinder schnell aus Deutschland herausbringen, erfüllte sich nur schleppend“, erinnerte sich Rachel Greene Rottersmann. Das erste Kind konnte erst im Januar 1946 in seine ungarische Heimat repatriiert werden. Im April wanderten zwei Jungen nach Palästina aus und im Juni gelang es, eine Gruppe von polnischen Kindern nach Hause zu schicken. Im Frühling des selben Jahres erhielten die UNNRA-Betreuer auch erste Informationen hinsichtlich einer Auswanderung in die USA oder nach Kanada. Die kanadische Regierung erklärt sich bereit, Waisen aus den Children’s Centers aufzunehmen, darunter über 1.000 jüdische Kinder und Jugendliche. Aglasterhausen wurde nun für viele elternlose Jungen und Mädchen zum Sprungbrett nach Nordamerika.
Das International Children’s Center schloss vermutlich im November 1948 endgültig seine Tore. Die letzten Bewohner wurden in ein Kinderzentrum im oberbayerischen Bad Aibling gebracht. Anschließend erhielt die Diakonie den Schwarzacher Hof zurück und betreut bis heute auf dem Gelände geistig und körperlich behinderte Menschen.
Ein Haus auf dem Schwarzacher Hof wurde nach dem 1945 verstorbenen US-amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt benannt.
Fotos: US National Archives and Records Administration (Public Domain)