Männliche Scheidungsverweigerung im Judentum und ihre Folgen

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„Der Ehemann soll seiner Frau kein Unrecht tun, denn ihre Tränen rufen Gottes Zorn hervor“
Babylonischer Talmud Jebamot 62b…

Von Tanja Kröni

„Im jüdischen Leben wird die Scheidung als tragischer letzter Ausweg angesehen, zu dem man nur Zuflucht nimmt, wenn alle anderen Möglichkeiten, die eheliche Harmonie wieder herzustellen und die Liebe und Zuneigung, die ehemals zwischen den Partnern herrschten, wieder zum Leben zu erwecken erschöpft sind. Aber wenn alle Hoffnung, den Bruch zu heilen aufgegeben werden muss, dann <<ist das Scheidungsgesetz für den Frieden gegeben und wer sich scheidet, wenn er muss, bringt nichts Schlechtes über sich, sondern Gutes>>. (Eliahu Kotev)“ ((Jüdisches Leben, Kapitel „Ehescheidung“, von Rabbiner Hayim Halevy Donin, 1987, Morascha Verlag und Buchvertrieb Zürich))

Einleitung

Die Ehe gilt im Judentum als Keimzelle der Gesellschaft, als die Keimzelle des Judentums. Deshalb hat sie einen sehr hohen Stellenwert: „Wer keine Frau hat, lebt ohne Freude, ohne Glück, ohne Seligkeit“ ((Babylonischer Talmud Jebamot 62b)). Darauf folgen viele Verhaltensregeln, wie der Mann mit seiner Frau umgehen soll: „Ein Mann soll seine Frau wenigstens so wie sich selbst lieben, aber er muss sie mehr ehren als sich selbst“ ((Babylonischer Talmud Jebamot 62b; Sanhedrin 76b)). „Ein Mann soll immer gewissenhaft auf die Ehre, die er seiner Frau erweist, bedacht sein, denn nur durch das Verdienst seiner Frau liegt Segen auf seinem Heim“ ((Babylonischer Talmud  Baba Meziah 59a)). „In Familien- und Haushaltsangelegenheiten soll sich der Mann nach dem Rat seiner Frau richten“ ((Babylonischer Talmud  Baba Meziah 59a)).

Alle diese Gebote sind dazu da den sch’lom habajit, den „Frieden des Hauses“, zu sichern. Ist es aber einmal mit dem häuslichen Frieden vorbei, dann ist eine religiöse Scheidung durchaus erlaubt, obwohl es heisst: „Wenn sich ein Mann von seiner Frau scheiden lässt, so vergießt sogar der Altar des Ewigen Tränen über ihn“ ((Babylonischer Talmud  Sanhedrin 22a)) Und doch gibt es in der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, eine äusserst schwerwiegende und folgenreiche Benachteiligung der Frau: Nur der Mann kann die Scheidung beantragen und den Get, Scheidebrief, ausstellen lassen. Die Frau verfügt zwar über ein rudimentäres Scheidungsrecht. Jedoch wurde es nie ausgearbeitet und gefestigt. So kann sie ohne die Zustimmung ihres Mannes ihren Scheidungswunsch nicht verwirklichen. Und viele Männer verschwenden beim Scheidungsbegehren der Frau keinen Gedanken mehr an die talmudische Weisung, dass der Mann der Frau nie Unrecht tun soll, da ihre Tränen Gottes Zorn hervorrufen.

Nur rudimentäres Scheidungsrecht für Frauen

Nur für einige wenige, objektiv sehr schwerwiegende Gründe, gibt es von jeher ein Scheidungsrecht der Frau, wenn

  • der Mann sich weigert, mit seiner Frau Geschlechtsverkehr zu haben
  • der Mann seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommt
  • der Mann seiner Frau untreu ist
  • der Mann seine Frau gewohnheitsmäßig schlägt.
  • Der Mann an einer abstoßenden Krankheit leidet. ((Materialien zur Religionswissenschaft, Judentum als Lebensform, Kapitel Ehe und Scheidung, von Alois Payer. Februar 1998, Internetseite))

Willigt der Mann aber nicht in den Scheidungswunsch seiner Frau ein, wird es auch mit einem anerkanntem Scheidungsgrund für die Frau überaus schwierig. Denn sie kann selbst ja nicht offiziell die religiöse Scheidung beantragen. Natürlich kann sie zum Gemeinde-Rabbiner gehen und ihn bitten, wenn einer der oben genannten Gründe beweisbar ist, auf den Mann einzuwirken, den Get zu geben oder ein Bet Din, ein religiöses Gericht, bestehend aus drei Rabbinern, einzuberufen, das bei Beweisbarkeit des anerkannten Grundes den Mann zur Scheidung zwingen kann. Ist der Rabbiner hilfsbereit, kann die Frau hoffen. Weigert er sich, beziehungsweise besteht er darauf, dass zuerst alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen die Ehe zu retten – und darauf bestehen trotz beweisbarer Gründe sehr viele orthodoxe Rabbiner –  dann beginnt für die Frau ein langer Leidensweg der Unfreiheit und Abhängigkeit.  Es wird mit dem Mann gesprochen und verspricht er Besserung, können Fristen bis zu sieben Jahren gesetzt werden, bevor die Frau wieder mit ihrem Scheidungswunsch vorsprechen kann.

Laut Vera Kronenberg, Vizepräsidentin für Europa des Internationalen Rats Jüdischer Frauen und Europäische Abgeordnete beim ICJW-Komitee für Agunot („verankerte Frauen“), wird vor allem das Problem häuslicher Gewalt von vielen orthodoxen Rabbinern unterschätzt. Denn natürlich untersagen die Religionsgesetze, schon im Hinblick auf den sch’lom habajit den „Frieden des Hauses“, körperliche, sexuelle und psychische Gewaltanwendung. So kommt es häufig vor, dass Rabbiner die geschlagenen Frauen wieder zurück nach Hause schicken: Es sei doch wohl nur ein „Ausrutscher“ gewesen und wenn es häufiger vorkomme, dann müsse sie sich doch auch einmal überlegen was sie falsch mache und mit welchen Gewohnheiten, Taten, Worten sie denn ihren Mann erzürne. Nicht viel besser ergeht es ihr, wenn der Mann dauerhaft untreu ist. Auch da versucht Mann vielfach ihr wenigstens eine Mitschuld einzureden. Und so wird es meistens bei allen Scheidungsgründen gehandhabt. ((Telefoninterview mit Vera Kronenberg, 23.11.2004))

Doch es gab und gibt immer Rabbiner, die versuchen Frauen in ihrer misslichen Rechtslage zu helfen. Bereits aus der Antike ist überliefert, dass Rabbiner scheidungsunwillige Ehemänner zur Übergabe des Scheidebriefes zwangen. Der Jerusalemer Talmud berichtet, dass die Frauen in der jüdischen Militärkolonie Elephantine (Ägypten) von sich aus den Get, zum Teil unter Verzicht auf die Hälfte der in der Ketubah vereinbarten Summe, beantragen konnten. ((Jerusalemer Talmud, Traktat Ketubot 5,10; 30b)) Nach aramäischen Papyri aus dem 5. Jh. v.g.Z. konnte die Frau in verschiedenen Gegenden des Römischen Reiches vor der Gemeinde erscheinen und ihren Wunsch nach Scheidung aussprechen. ((Encyklopaedia Judaica, Kapitel Scheidung (Gittin), hrsg.von Jakob Klatzkin, 1928/34)) Nach dem Jüdischen Lexikon ist im Jerusalemer Talmud von einer Klausel in der Ketubah zu lesen, die der Frau im 4. Jh.g.Z. ein Scheidungsrecht gab. Babylonische Rabbiner verordneten 650/651, dass man den Mann zur Scheidung zwingen könne, wenn die Frau auf ihrer Klage bestehe. In den Eheverträgen des 10. und 11. Jahrhunderts ist das Scheidungsrecht der Frau ausdrücklich erwähnt, jedoch mit der Bemerkung, dass sie erst mit der Einwilligung des Gerichtshofes geschieden sei. ((Encyclopaedia Judaica, Kapitel Scheidung (Gittin), hrsg.von Jakob Klatzkin, 1928/34)) Auch aus dem Spanien des Mittelalters und vielen anderen Regionen sind Scheidungsrechte der Frau überliefert.

Natürlich können in den meisten Diasporaländern diese Frauen eine zivile Scheidung beantragen, die wenigstens die Trennung vom Mann, Unterhalt für sie und die Kinder regelt. Die Frauen vermisster Männer erhalten ebenfalls nach einer gesetzlich vorgeschriebenen Frist einen offiziellen Totenschein vom Staat. Doch anerkannt werden diese Scheidungen und Totenscheine von den orthodoxen Rabbinern nicht.

Agunot, die Angeketteten, und Mamserim, Bastarde

Frauen, deren Ehemänner die religiöse Scheidung verweigern, gelten deshalb auch nach einer zivilen Scheidung weiterhin als verheiratet. Eine neue Beziehung oder zivile Heirat ist Ehebruch. Kinder aus einer solchen Beziehung, Ehe, sind Mamserim, Bastarde, die nur beschränkt ins religiöse Leben integriert sind. Das Wort „Mamser“ wird im Talmud von mumsar, „Schandflecken“, abgeleitet und ist in erster Linie Bezeichnung für das in Blutschande oder Ehebruch gezeugte Kind. Im Tanach, der Hebräischen Bibel, wird der Mamser nur zweimal erwähnt: „Kein Mamser (Bastard) soll in die Gemeinde des Herrn kommen, bis ins zehnte Geschlecht“(Deuteronomium 23,2; Sacharja 9,6, wo auch das Kind aus einer Mischehe als Mamser bezeichnet wird). Damit wird die Mamserut bis ans Ende der Zeiten weiter vererbt. Nach dem Talmud in Kidduschin, Anheiligungen, werden die Mamserim zur Zeit des Messias ihre Unreinheit verlieren.

Mamser dürfen sich nur mit anderen Mamsern oder Proselyten (Konvertiten zum Judentum) verheiraten. Kinder aus dieser Verbindung sind dann wieder Mamserim. „Zweifelhafte Mamserim“, Kinder einer Frau, deren frühere Ehescheidung oder deren anderweitige Antrauung in rechtlicher Hinsicht ungewiss ist, dürfen bis zur Klärung der Rechtslage überhaupt nicht heiraten, auch keinen anderen zweifelhaften Mamser. Diese Vorschriften der Mischna sollen die „Reinheit“ der Ehe und der Familie sichern.

Gemäss Presseberichten aus Israel von 1996 existiert beim Oberrabbinat eine Liste mit den Namen aller dort lebenden Mamserim. Wenn es in Israel eine solche Liste gibt, dann sind in den Diaspora-Gemeinden ganz sicher auch Mamser-Listen vorhanden. In Israel ist der Mamser zivilgesetzlich den vollgültigen Bürgern ziemlich weit gleich gestellt. Im Richteramt ist er allerdings beschränkt, darf nur in Vermögenssachen Recht sprechen. Seine Zeugenaussage ist anerkannt ((Doch dürfte ein Mamser kaum vor einem Religionsgericht als Zeuge aufgerufen werden, es sei denn, er ist für diesen Fall eine Schlüsselfigur.))und er ist zur Einhaltung der religiösen Vorschriften verpflichtet. Er „darf“ zur Toralesung aufgerufen werden und hat – wenn auch nur einen eventuellen – Anspruch auf das Erstgeburtsrecht. Wie die Praxis in der Realität aussieht liegt im Dunkeln, denn niemand bekennt sich gerne dazu ein Mamser zu sein.

Agunot, Angekettete, sind ebenfalls verlassene Frauen, deren Männer spurlos verschwanden, sowie Frauen, deren Männer nach Terrorakten oder Kampfeinsätzen vermisst sind. Durch die Shoa, den Holocaust, erhielt das Agunot-Problem eine neue Dimension, denn in den Konzentrationslagern wurden keine Totenscheine ausgestellt. Auch Einwanderinnen aus Krisengebieten, wie etwa aus Äthiopien und den GUS-Staaten, dürfte ein Nachweis des Todes ihres Mannes oder einer Scheidung oft schwer fallen. Bei einer hohen Dunkelziffer soll es gegenwärtig 10 000 Agunot allein in Israel geben.

Für eine Get-Verweigerung gibt es mehrere Gründe: In unserer säkularisierten Gesellschaft wird eine Hochzeit meistens auch noch religiös gefeiert. Damit hat die jüdische Frau eine Ketubah erhalten und braucht einen Scheidebrief, wenn die Ehe nicht hält. Das halten säkulare Männer häufig für unnötig und die nur zivil geschiedenen Frauen werden zu Agunot. Diese nicht religiösen Männer lassen sich nur sehr selten von einem Rabbiner dazu überreden, mit einem Get der Frau ihre sexuelle Freiheit zurückzugeben. Natürlich sind ebenfalls Macht- und Besitzanspruch auf die Person der Frau Grund für eine Get-Verweigerung. Häufig leben Paare bereits seit Jahren getrennt und der Mann hat längst schon eine neue feste Beziehung. Ein Teil dieser Männer verweigert trotzdem die Scheidung, weil die Frau die Kinder gut jüdisch erziehen und nur für sie da sein soll. Vor allem wollen diese Männer aber vermeiden, dass die Kinder sich emotional  an einen neuen Partner der Mutter als Ersatzvater binden. Das Religionsgesetz gebietet nur dem Mann zwingend eine Ehe. Der Frau ist dies frei gestellt. Dadurch fühlt sich so mancher Mann sogar noch zu solchem Handeln berechtigt.

Den meisten Getverweigerern geht es jedoch nur um Geld, beziehungsweise darum, ihre Einwilligung möglichst teuer zu verkaufen. Da werden nicht nur der Verzicht auf das in die Ehe eingebrachte Vermögen der Frau und der Verzicht auf die in der Ketubah vereinbarten Summe, die der Frau bei Scheidung oder Tod des Mannes zustehen, für den Scheidebrief gefordert, sondern darüber hinaus zusätzlich grosse, oft horrende Summen. Die Familien der Frauen bezahlen so viel sie können, was manchem noch nicht genug ist. Sie werden finanziell oft regelrecht ausgeblutet, und es gibt Rabbiner, die diese Deals noch unterstützen! Die entsprechenden Gründe dafür sind leider bereits im jüdischen Scheidungsrecht enthalten oder der Mann kann sich – wie bereits erwähnt – auf regionale Traditionen zum Religionsgesetz berufen. ((Leserbriefe auf verschiedene Artikel zum Agunotproblem, von Tanja Kröni, Jüdische Rundschau, 1996))

Der Ehekontrakt ist ein Vertrag in dem es vor allem um Geld geht

Die Gesetze die Ehe, Scheidung, Verlobung, Umgang mit Ehebruchverdächtigen und Menstruierende betreffen, sind in der Mischna, im Babylonischen und Jerusalemer Talmud (kanonische Zusammenfassungen mündlich überlieferter Gesetzessammlungen) im Buch „Naschim“, Frauen, fest gehalten. Im Traktat „Ketubah“, Ehekontrakt, steht detailliert wie dieser, der finanziellen Absicherung der Frau beim Tod des Ehemannes oder bei Scheidung dienende Vertrag, abgefasst werden und was er enthalten muss. Auch die nicht immer einfachen Vorschriften für die Einforderung der in der Ketubah fest geschriebenen Summe sowie die Fälle, in denen die Ketubah nicht oder nur teilweise ausbezahlt werden muss, sind hier zu finden. Gründe dafür gibt es viele:

Keinen Anspruch auf Auszahlung der Ketubah hat etwa eine Frau, die gegen die Halacha, das Religionsgesetz, oder gegen jüdische Sitte verstösst. ((Mischna, Ketubot 7,6, Victor Goldschmidt Verlag, Basel, 1986))  Diese verletzt sie, wenn sie zum Beispiel ohne Kopfbedeckung auf die Strasse geht. Oder wenn „sie sich mit jedem Menschen unterhält“ ((Mischna, Ketubot 1,8, Victor Goldschmidt Verlag, Basel, 1986)), was der Talmud zwar als euphemistischen Ausdruck für „intim verkehren“ interpretiert, was aber auch nach dem Wortsinn, also wortwörtlich genommen werden kann. Nach Mischna Ketubot 7,7 verliert eine Frau, an der der Mann nach der Heirat einen Körperfehler entdeckt, ihren Anspruch auf die Ketubah. Eine unfruchtbare Frau hat weder Anspruch auf die Ketubah noch auf Ersatz der Nutzung, die der Mann von ihrem eingebrachten Gut hatte, noch auf Unterhalt, noch auf die Abnutzung des eingebrachten Gutes.

In Mischna Ketubot 5,7 sind mögliche Abzüge von der Ketubah angeführt: Wenn eine Frau „widerspenstig“ ist (dem Mann Sex oder Arbeitsleistung verweigert), kann er ihr für jeden Tag einen Denar von der Ketubah abziehen und darüber hinaus, auf etwaige Erbschaften hin.  Will eine Frau die Scheidung, kann der Mann Bedingungen für die Erteilung des  Scheidebriefes stellen. Er kann, unter anderem, die Versorgung seines Vaters über mehrere Jahre hinweg verlangen (Mischna Ketubot 7,6). Nach dem Mischna-Traktat Gittin, Scheidebriefe 7,5, kann er aber auch Geld für den Scheidebrief fordern.

Nicht nur in der Schweiz ist es seit Jahren üblich, einen Zusatz in die Ketubah aufzunehmen oder einen Zusatzvertrag zur Ketubah zu machen, nach dem beide einverstanden sind und die religiöse Scheidung nicht verweigern, wenn ein Partner diese will. Oft wird dazu eine Konventionalstrafe für jeden Tag festgelegt an dem der Get verweigert wird. Leider sind diese Verträge  bei den meisten Zivilgerichten, auch in der Schweiz, nicht einklagbar. Einer der Hauptgründe hierfür ist, dass mit dem Eintreten auf eine solche Klage das säkulare Zivilgericht religiöses Recht anerkennen würde.

Teilerfolge der Frauenorganisationen

Seit mehreren Jahrzehnten setzt sich das International Council of Jewish Women, ICJW, der Internationale Rat Jüdischer Frauen, intensiv für die Agunot ein. 1996/1997 wurden weltweit Unterschriften für eine Petition gesammelt, die eine allgemein gültige halachische, religionsgesetzliche Lösung des Agunotproblems fordert. Diese ist bislang immer noch nicht gefunden. Ihre Hoffnung setzen die ICJW-Frauen nun auf den neuen sephardischen Oberrabbiner Schlomo Amar, der sich für eine Lösung dieses Problems einsetzen will. Geplant sind zwei Konferenzen mit Rabbinern und Dajanim, Richtern, die Spezialisten für Ehe- und Scheidungsrecht sind, und die eine allgemein gültige Lösung erarbeiten sollen. ((Telefon-Interview mit Vera Kronenberg, November 2004)) Doch bis alle damit einverstanden sind, kann es viele weitere Jahre dauern.

Kaum eine Frau bekannte sich noch vor zehn Jahren öffentlich dazu, eine Aguna zu sein. Und so dachte ich etwas naiv und blauäugig, dass durch die Shoa, den Holocaust, wenigstens pragmatische Lösungen zugunsten der Frauen im Umgang mit diesem Gesetz entstanden seien. Reaktionen auf Artikel, die ich über den religionsgeschichtlichen Hintergrund des Agunotproblems schrieb, brachten mich sehr unsanft auf dem Boden der Schweizer Realität: Aus Leserbriefen erfuhr ich, wer eine Aguna ist und wie viel diese oder jene Familie für den Get ihrer Tochter bezahlt hatte. Das Schlimmste waren aber die Reaktionen von Männern, die sich sehr unwirsch über diese Aktion entrüsteten und die vollständig davon überzeugt waren, mit ihrer Getverweigerung im Recht zu sein. Seither ist die Lösung des Agunotproblems eines meiner grossen Anliegen.

Glücklicherweise erfolgte mit der Unterschriftensammlung für die Get-Petition ein Tabubruch. In England, den USA und Kanada schlossen sich Agunot zu Selbsthilfegruppen zusammen, die sehr engagiert für ihre Freiheit kämpfen. So klagten Frauen die Rabbiner, die ihren Scheidungswunsch nicht unterstützen, vor dem Zivilgericht wegen Einschränkung der Glaubensfreiheit, zu der ihr Recht auf Kinder gehört, ein. Im Staate New York ist seit 1983 ein Gesetz in Kraft, welches einschränkend bemerkt, dass eine ausgesprochene Zivil-Scheidung erst dann Gültigkeit habe, wenn die die Scheidung beantragende Person alle Hindernisse für die Wiederheirat des ehemaligen Ehepartners aus dem Weg geräumt habe.

Diese Selbsthilfegruppen stellen Listen mit Rabbinern, die Agunot helfen, ins Internet, ebenso Listen mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die diese Frauen religions- und zivilrechtlich beraten und unterstützen. Sie machen auf diesem Weg ebenfalls die Namen von Getverweigerern publik. Oft genügt schon die Drohung einer öffentlichen Bekanntmachung der Getverweigerung damit der Scheidebrief gegeben wird. Immer mehr Rabbiner grenzen Getverweigerer im öffentlich-religiösen Leben aus, verbieten ihnen den Synagogenbesuch und veranlassen ihre Gemeindemitglieder sie auch vom gesellschaftlichen Leben auszuschliessen. ((Internetseiten von Agunot-Selbsthilfegruppen in den USA, Kanada und Grossbritannien, 2004/05))

In Israel setzen sich der Staat und der religiöse Gerichtshof bereits seit längerer Zeit für die Agunot ein: Männern, die den Get verweigern, wird der Fahrausweis oder Pass entzogen, die Bankkarte gesperrt. Hilft dies nichts, bekommen sie eine Gefängnisstrafe. Häufig genügt die Androhung einer solchen Massnahme und die Männer geben den Get. 25 Frauenorganisationen engagieren sich dort für die Anliegen der Agunot. Frauen ist nun von der Orthodoxie das religionsgesetzliche Studium in den Bereichen Ehe und Scheidung erlaubt. Zu diesen als Toenet Rabbanit, Rabbinischen Klägerinnen, können Agunot jetzt mit ihrem  Scheidungsbegehren gehen. Diese klären nach dem Religionsgesetz ab was zu unternehmen ist und in den meisten Fällen kann eine Scheidung erreicht werden. Seit 2002 ist mit Sharon Shenhav auch erstmals eine Frau Mitglied der Kommission für die Berufung von Richtern (Religions- und Zivilgesetz) in Israel. ((Telefon-Interview mit Vera Kronenberg, November 2004, diverse Internetseiten zum Agunot-Problem in Israel, 2004/05))

Teilerfolge sind also bereits erzielt und die Zahl der Agunot hat drastisch abgenommen. Trotzdem bleibt dieses Problem für mich so lange ungelöst bis eine allgemein gültige religiöse Entscheidung getroffen ist. Laut Vera Kronenberg, Vizepräsidentin für Europa beim ICJW wird das wohl nie der Fall sein. Es gehe darum, für die Frauen akzeptable regionale Lösungen zu finden, da sich die Rabbiner wahrscheinlich nie auf eine allgemein gültige Takkana, Entscheidung, einigen könnten. Für mich sind solche Kompromisse auf die Dauer zu wenig. Denn so bleiben die Frauen weiter abhängig vom guten Willen der jeweiligen Rabbiner. Auch gefällt es mir nicht, warum die Männer sich mit einer Lösungsfindung so lange Zeit lassen.

Verweigert die Frau den Get ist der Mann trotzdem sexuell frei

Will ein Mann sich scheiden lassen, dann kann ebenfalls die Frau die Scheidung, respektive die Annahme des Gets, Scheidebrief, verweigern. Es gibt selbstverständlich auch Frauen die sich gegen eine Scheidung wehren. Verweigert aber eine Frau die Annahme des Gets, dann wird sie meistens – Ausnahmen gibt es immer – über kurz oder lang zur Annahme „überredet“, was bedeutet, es wird massiver Druck auf sie ausgeübt. Der Mann kann sich zudem generell religionsgesetzlich viel leichter scheiden lassen, kann mehr Gründe anführen und unterliegt keiner so schweren Beweispflicht wie die Frau. Für ihn gibt es zusätzlich die „Kether Harabbanim“, die Erlaubnis der 100 Rabbiner: Der Mann kann bei Gemeinde-Rabbinern 100 Unterschriften sammeln, um geschieden zu werden. Meistens braucht der Mann aber keine 100 Unterschriften, sondern bekommt schon für die Hälfte davon den Get ((Telefon-Interview mit Vera Kronenberg, Dezember 2004)).

Doch daran liegt es nicht wirklich, dass Unterstützungszusagen der Männer keine Taten folgen: Das Problem betrifft schlicht und einfach die Männer nicht. Denn auch wenn ein Mann halachisch nicht geschieden ist, kann er wieder eine Beziehung oder eine zivile Ehe eingehen. Daraus resultierende Kinder sind keine Mamserim, da das Judentum matrilinear, also über die Mutter weiter gegeben wird. Die Kinder sind dann zwar unehelich, aber das uneheliche Kind ist dem ehelichen gleich gestellt. Es haftet ihm kein Makel an und es wird in keinem der oben erwähnten Bereiche benachteiligt.

Natürlich lassen sich auch im orthodoxen Judentum viele Paare einvernehmlich scheiden. Die grossen nicht orthodoxen Bewegungen im Judentum haben bereits das Problem der Agunot für sich gelöst, das Konservative Judentum durch die Ergänzung oder Abänderung der Ketubot, Heiratsverträge, und das Liberale Judentum durch die Entwicklung von egalitären Scheidungsverträgen, beziehungsweise wird in der Diaspora seit 1868, auch in der Schweiz, ganz einfach die Zivilscheidung anerkannt. Aus Deutschland berichtet Walther Rothschild, Landesrabbiner von Schleswig-Holstein, dass das liberale Bet Din (Religionsgericht)  in Deutschland nach Rechtsgültigkeit einer Zivilscheidung den Mann eingeschrieben auffordert, nun auch die religiöse Scheidung zu vollziehen. Antwortet er zweimal nicht auf diese eingeschriebene Forderung, dann stellt das Bet Din den Scheidebrief aus. Obwohl die liberale und die konservative Bewegung heute die Mehrheit aller religiösen Jüdinnen und Juden weltweit vertreten, bleibt die Problematik in der orthodoxen Welt nach wie vor bestehen ((Isha, Frau und Judentum, Ecyclopädie, von Rabbinerin Pauline Bebe, 2004, Roman Kovar Verlag)).

Zu den am meisten favorisierten Lösungsvorschlägen gehört die Annullierung einer Ehe vom Zeitpunkt der Getverweigerung an, was in den USA regional bereits praktiziert wird. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn eine Frau einfach zu einem Bet Din gehen und die Scheidung selbst einreichen könnte, ohne dass sie der Vermittlung eines Rabbiners oder der Toenet Rabbanit bedarf. Diese Lösung kommt für die Mehrheit der orthodoxen Rabbiner nicht in Frage, da dies für sie mit der Halacha, dem Religionsgesetz nicht vereinbar ist. Eine weitere akzeptable Lösung wäre die Anerkennung der Zivilscheidung, nach deren Rechtskräftigkeit dann ein Get beim zuständigen Bet Din angefordert werden könnte. Mit dem neuen sephardischen Oberrabbiner , Schlomo Amar, war vom ICJW für Ende 2006 eine internationale Rabbinerkonferenz vorbereitet worden, die Möglichkeiten zu einer allgemein gültigen Regelung aufzeigen sollte. Buchstäblich in letzter Minute, ein Dutzend Rabbiner und religiöse Rechtsgelehrte waren bereits in Jerusalem eingetroffen, sagte Schlomo Amar die Konferenz ab. Zu stark war der Druck aus konservativen Kreisen auf ihn gewesen. Entmutigen lassen sich aber weder die ICJW-Frauen noch die engagierten Rabbiner und Rechtsgelehrten. Die internationale Konferenz wird nun in den USA stattfinden. Ob eine in den USA getroffene Entscheidung als allgemein gültig anerkannt wird ist stark zu bezweifeln.

Es wird nun wohl noch lange Zeit bei regionalen Entscheiden bleiben. Denn ein grosser Teil der ultraorthodoxen und orthodoxen Rabbiner kann oder will nicht einfach auf eine der letzten Männerbastionen verzichten und sich deshalb nicht auf eine allgemein gültige Entscheidung einigen, obwohl durchaus viele bei regionalen Lösungen mitmachen. Vielleicht sollte der Titelspruch dieses Artikels „Der Ehemann soll seiner Frau kein Unrecht tun, denn ihre Tränen rufen Gottes Zorn hervor“ auf jede Eingabe, jedes Dokument in Sachen „Agunot“ geschrieben werden, damit die Männer sich daran erinnern, dass sexuelle Unfreiheit und das Verweigern des Rechts auf Wiederheirat ein Unrecht an der Frau ist, das Gott missfällt.

Erschienen in: Judith Stofer/Rifa’at Lenzin (Hg.), Körperlichkeit – Ein interreligiös-feministischer Dialog, Religion & Kultur Verlag 2007, Bestellen?

Bibliographie:

Der Babylonische Talmud, neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt, Nachdruck der zweiten Auflage von 1967 im Jüdischen Verlag Berlin, 1996 erschienen im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main

Mischnajot, die sechs Ordnungen der Mischna, Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, 1986 erschienen im Victor Goldschmidt Verlag, Basel

Frührabbinisches Ehescheidungsrecht, der Tosefta-Traktat Gittin, Reinhard Neudecker, Biblical Institute Press 1982, Rome

Jüdisches Lexikon, hersg. G. Herlitz und B. Kirschner, ab 1927

Encyclopaedia Judaica, hrsg.von Jakob Klatzkin, 1928/34

Materialien zur Religionswissenschaft, Judentum als Lebensform, von Prof. Alois Peyer, Internetseite Februar 1998

Isha, Frau und Judentum Enzyklopädie, von Pauline Bebe, 2004, Roman Kovar Verlag

Jüdisches Leben, Rabbiner Chajim Halevy Donin, 1987, Verlag und Buchvertrieb Morascha, Zürich

Interview mit Vera Kronenberg, Vizepräsidentin für Europa des Internationalen Rats Jüdischer Frauen und Europäische Abgeordnete beim ICJW-Komitee für Agunot, 23.11., 30.11., und 6.12.2004

Internetseiten verschiedener Agunot-Selbsthilfegruppen in Grossbritannien, Kanada und den USA, 2004/05

2 Kommentare

  1. So vieles stimmt hier nich im Artikel und vielleicht nicht ausfuehrlich genug nachgeforscht.
    Die Rabinner sind often die einigsten, die einer Frau in einer Scheidung helfen und auch den Mut haben sich gegenueber dem Mann frei auszusprechen und die Situation klar zu sehen. Meine ortodoxe Tochter hat volle Uenterstuetzung bekommen. Der Mann, der sich geweigert hat, wurde einen Monat ins Gefaengnis gebracht bis er zugestimmt hat. Die Frau kann sich ans Gericht wenden und eine Scheidung beantragen.
    Das Gericht fuer Familienangelegenheiten ist viel schlimmer und nimmt keine Verantwortung an und zieht die Dinge fuer Jahre lang aus.
    Nicht immer gibt es auch finanzielle Gruende, bseonders in den orthodoxen Kreisen.
     
     

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