Ein Rollenkanon gegen Männerängste

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Natürlich hat auch das Judentum einen Rollenkanon. Er basiert allerdings auf einem anderen Hintergrund als der christliche…

Von Tanja Kröni

Hier steht keine Madonna, eine ein Leben lang keusche und sexuell inaktive Frau auf dem Podest, sondern die starke Familienfrau aus Proverbien 31,10-31. ((Sie ist ein Idealbild einer Allrounderin, organisiert einen grossen Haushalt mit der linken Hand, legt selbst mit Hand an, entwickelt Initiative in Bodenkauf und Verkauf von Hausindustrie. Sie ist freundlich, gepflegt und klug, verwaltet gütig ihr Personal und tut das alles für die Ehre ihres Mannes.)) Ein Rollenkanon dient immer der Ausübung und Erhaltung von Macht, zeigt aber auch die Ängste der Machthabenden oder nach Machtstrebenden auf. So versuche ich aufzuzeigen, welche Ängste, Frauenbilder zum ersten monotheistischen Rollenkanon führten.

Es beginnt mit der Schöpfungsgeschichte. Davon gibt es zwei. In der ersten wird die Frau zusammen mit dem Mann völlig gleichwertig erschaffen. ((Genesis 1,26-31)) Im zweiten Text ((Genesis 2,7-24))erschuf Gott die Frau wegen Adams Einsamkeit aus dessen Seite heraus, ihm Hilfe und Gegenüber zu sein. Er nennt sie Ischa, Männin, Frau, sich selbst Isch, Mann. Adam erscheint eher passiv, isst aber vom verbotenen Apfel ((Genesis 3,3-13))der ihm hingehalten wird. Als Gott Adam Vorhaltungen macht, wälzt er sofort die Verantwortung auf Ischa ab: „Die Frau, die du mir gegeben hast, die gab mir vom Baume und ich ass.“

Nach unserer Überlieferung tragen beide die Verantwortung für die Verbotsübertretung. Durch Ischas aktive Rolle haftet ihr jedoch doch der grössere Makel an und so ganz gleichwertig ist sie nun nicht mehr: Aus Ischa, der Frau, wird nach der Vertreibung aus Eden Eva, hebräisch Chava ((Von der gleichen Wurzel wie das Wort Chai, „Leben“)), die Mutter aller Lebenden. ((Genesis 3,20)) Das ist eine erste Einschränkung auf die Mutterrolle. Eva gibt im Judentum keine „Erbsünde“ weiter, doch macht der Jerusalemer Talmud ((Nicht kanonisch, Schabbat 2,6))Eva wegen ihres Ungehorsams für die Sterblichkeit der Menschen verantwortlich.

Zwei Schöpfungsgeschichten mit nur einem Frauennamen brachten die jüdischen Exegeten und Mystiker zum Nachdenken. Sie kamen zum Schluss, dass hier von zwei verschiedenen Frauen die Rede sei. Warum sie dann ausgerechnet Lilith, einmal erwähnt bei Jesaja 34,14 ((„Und Steppentiere treffen dort mit Hyänen zusammen, und ein Waldbock ladet den anderen ein, nur dort rastet Litlith und findet eine Ruhestatt.“)), zur ersten verschwundenen Frau Adams erklärten, ist nicht recherchierbar. Die Annahme, dies geschah während des babylonischen Exils liegt nahe, da die Figur der Lilith auf einer babylonischen Legende ((Lilith und Lilitu, waren eine Dämonin und ein Dämon, die Männer verletzten und Frauen sowie deren Kinder im Kindbett befielen. Die jüdische Tradition übernahm nur die weibliche Seite des Dämonenpaares.))basiert. Ihre Geschichte erzählt das nachbiblische Schrifttum ((Kommentar Midrasch Rabba zu Genesis 22,7, Babylonischer Talmud Erubin 100b, Nidda 24b, Schabbat 151b, Baba Bathra 73a, Alphabet von Ben Sira, 22a-23b, 33a-b)): Lilith, die gleichberechtigte Frau, wollte beim Sex nicht unter Adam liegen. Sie bekamen Streit, denn Adam bestand darauf immer oben zu liegen. Lilith sprach den heiligen (unaussprechbaren) Namen Gottes aus und flog davon. Adam beklagte sich und Gott schickte drei Engel aus, sie zurückzuholen. Sie weigerte sich und antwortete, sie sei erschaffen worden, die Neugeborenen krank zu machen und zu töten. ((Siehe auch Marianne Wallach-Faller: Die Frau im Judentum, Judentum feministisch gelesen, hrg. von Doris Brodbeck und Yvonne Domhardt, 2000 Chronos Verlag Zürich, Kapitel „Lilith“, S. 195-198.))

Ihr Wunsch nach Gleichberechtigung wurde als Ablehnung der Mutterrolle interpretiert. Im Mittelalter stilisierten die kabbalistische Literatur und der Sohar ((Sohar, Das Buch des Glanzes, Kommentare zur Tora, Hauptwerk der Kabbala, 1292, von Moses de Leon, kanonisch bei den Chassiden))Lilith endgültig zu Evas Gegenbild. Sie ist die Todbringerin, die Schwangere sowie Mütter und deren Neugeborene im Kindbett tötet. Sie greift einsame Männer im Schlaf an, die sich ihrer nicht erwehren können. Lilith erregt sie im Schlaf und nimmt ihren Samen, um anstelle der seinen Dämonenkinder in die Welt zu setzen. Sie ist die Geliebte oder Frau des Dämonenfürsten Samael, „Königin der anderen Seite“ und dadurch das dunkle Gegenbild der Schechina. ((Die (weibliche) göttliche Gegenwart unter den Menschen, bei jeder betenden Gemeinde weilend, stark personifiziert in Kabbala und feministischer Theologie.)) Lilith erscheint hier als Extrembild der Frau, Verderbtheit und Tod bringend, Inkarnation des Sexuellen, dem der schwache Mann nicht widerstehen kann. Drei männliche Urängste sind in diesem Lilithbild personifiziert: Angst vor Unfruchtbarkeit und Impotenz, Angst vor der Einsamkeit und Angst, ohne eine Zukunft durch Nachkommen zu sterben. ((Isha Frau und Judentum, Pauline Bebe, 2004, S. 189))

Bis in unsere Gegenwart bezeichnet sich der jüdische Mann als überaus schwach, als ständig dem Jezer Hara, dem bösen (sexuellen) Trieb nahezu hilflos ausgeliefert. Dieser packt ihn anscheinend schon beim blossen Anblick einer Frau oder beim Hören einer Frauenstimme. Deshalb soll/muss die Frau aus Rücksichtnahme auf diese Schwäche des Mannes und zum eigenen Selbstschutz sich freiwillig einschränken, nur dezente Kleidung tragen, stumm in der Synagoge auf dem Frauenbalkon sitzen, darf Männern einiger orthodoxer Strömungen nicht die Hand geben und nicht in die Augen schauen. Damit die Frauen nicht zum Opfer und vor allem nicht zur Bedrohung der Männer werden, machte Mann Gesetze, um sie und sich selbst zu schützen, also einen einschränkenden Rollenkanon. Mein Mitleid mit den „armen Männern“ hält sich sehr in Grenzen!

Jüdische Männer haben bis heute gerne starke, tatkräftige Frauen zur Unterstützung, geschickt und klug taktierende Retterinnen in der Not, so lange diese sich dem Rollenkanon unterwerfen. Königin Esther gehört zu diesen. Sie ist ursprünglich eine Waise, die von ihrem Onkel Mordechai erzogen wird, gewinnt einen Schönheitswettbewerb, wird Königin und vereitelt das Komplott des Vizekönigs, der die Ermordung aller Juden im Reich plante. Esther taktiert geschickt, diskret und vorsichtig. Ihren Erfolg verdankt sie im Grunde ihrer Schönheit und erotischen Ausstrahlung mit der sie den König umgarnt. Esther geht die verschlungenen Wege der Frau, akzeptiert ihre untergeordnete Rolle und bleibt dabei weitgehend im Verborgenen. So wird sie denn zwar als Retterin gefeiert, dennoch ist ihr Onkel Mordechai der wahre Held, „das Hirn hinter Esthers Erfolg“ ((Isha Frau und Judentum, Pauline Bebe, 2004, S. 87)), der vom König Macht und Ansehen erhält.

Ahasveros (Artaxerxes) ist als schwache Männergestalt gezeichnet, abhängig von seinen Beratern, als prunksüchtig und Trunkenbold. Sieben Tage betrinkt er sich mit seinen Gouverneuren. Dann verlangt er, dass Esthers Vorgängerin Vashti mit der Krone auf dem Kopf vor seinen Saufkumpanen erscheinen soll. Nach dem Kommentar Midrasch Rabba sollte sie nackt zu den Männern kommen. Vashti weigert sich. Der Midrasch ((Kommentar Esther Rabba 3,13-15))lässt Vashti nachträglich ihre Weigerung dem König erklären. Doch der König macht aus ihrer Weigerung eine Staatsaffäre und  berät sich mit seinen Fürsten. Diese sehen ihre Weigerung nicht nur als eine persönliche Beleidigung des Königs, sondern als Beleidigung einer Frau gegenüber einem Mann  und damit als mögliches schlechtes Beispiel für alle Fürstinnen von Persien und  Midian und die Frauen überhaupt: „Denn es wird bekannt werden das Betragen der Königin all den Frauen, dass sie verachten werden ihre Männer in ihren Augen, indem sie sagen werden: Der König Ahasveros hat gebeten die Königin Vashti vor ihn zu kommen und sie ist nicht gekommen.“ ((Buch Esther 1,17)) Vashti wird zum Tode verurteilt und später zu Verbannung begnadigt.

Für Mary Gendler ((Mary Gendler, „The restoration of Vashti“, in The Jewish Woman))ist die Botschaft an die Frauen deutlich: „Benehmt euch gut, seid nicht fordernd, seid nicht ungehorsam; andernfalls werdet ihr von der Gesellschaft ausgeschlossen, ihr verliert euer Haus, Kind und Glück, euren guten Ruf und vielleicht euer Leben.“ Neben der Angst vor einer dämonischen, den Mann überfordernden Frauensexualität, Angst vor der Einsamkeit durch den Verlust der Frau und Angst vor Kinderlosigkeit, wird hier die Angst vor Entmachtung und dem Verlust der Ehre deutlich.

Wie kann der Mann die Frau im Rollenkanon festhalten, damit seine Ängste nicht Wirklichkeit werden? Was kann er tun, damit die Frauen trotzdem mit ihrer Rolle zufrieden sind? Der jüdische Mann erreicht das seit bald 2000 Jahren, indem er die Frau überhöht: „Wer keine Frau hat, lebt ohne Gutes, ohne Hilfe, ohne Freude, ohne Segen, ohne Vergebung der Sünden, ohne Frieden, ohne Leben, und er verletzt das Ebenbild Gottes.“ ((Kommentar Genesis Rabba 17,2)) Als das Volk Israel am Berg Sinai stand, wandte sich Gott an Moses: „Also sprich zum Hause Jakobe, rede zu den Kindern Israels…“ Nach dem Kommentar Exodus Rabba ((Kommentar Exodus Rabba zu Exodus 19,6))sind „das Haus Jakob“, die Frauen, die die Tora zuerst hörten und verstanden. „Alles kommt von der Frau: Eine bösartige Frau macht den Mann böse, eine fromme Frau macht den Mann fromm“, ((Kommentar Genesis Rabba 17,7)) impliziert, der Charakter der Frau bilde den Charakter des Mannes.

Natürlich sind solche Überhöhungen auch praktisch, um die Frau durch die Hintertüre einzuschränken: Denn wenn Rabbi Eleasar sagt: „Der Frau wurde mehr Einsicht gegeben als dem Mann“, reagiert Rabbi Jirmija darauf damit, dass „die Frau zu Hause bleibt, während der Mann hinaus geht und dort im Umgang mit anderen Menschen Einsicht erlangt.“ ((Isha Frau im Judentum, Pauline Bebe, 2004 S. 95)) Da die Frauen die Tora zuerst hörten und verstanden, brauchen sie nach Meinung verschiedener Autoritäten kein Torastudium, kann man ihnen ein solches sogar verbieten.

Auch die orthodoxen Frauen sind im Aufbruch, rütteln am Rollenkanon. Viele fordern die Stimmberechtigung in den Gemeinden. Erreicht  ist vielerorts die Durchführung von Tora- und Talmudkursen für Frauen, die aber nicht das Niveau der Kurse für Männer haben. Sie wollen vor einem Religionsgericht als Zeugin auftreten oder selbst ihre Klage einreichen und vortragen können. Laut das Trauergebet in der Synagoge sagen zu dürfen gehört genau so dazu wie beim häuslichen Tischgebet hörbar mitzubeten und mitzusingen. Gleichwertigkeit, Gleichberechtigung in der Synagoge und in allen religiösen Institutionen werden vor allem in den USA und in Israel angestrebt. In der Schweiz geht es mit dem Aufbruch noch sehr zögerlich voran. Die meisten orthodoxen Frauen sind mit den erreichten kleinen Verbesserungen zufrieden und streben nicht nach Gleichberechtigung in Synagoge und Gemeinde.

Doch wie kann eine für die Gleichberechtigung notwendige Gleichwertigkeit überhaupt gefunden werden, nachdem der Mann sich selbst so schwach gemacht und die Frau masslos überhöht hat? Da müsste sich der jüdisch-orthodoxe Mann erst einmal emanzipieren, sich menschliche Stärke zuschreiben, die Frauen müssten von der Überhöhung Abschied nehmen, damit Frau und Mann sich wirklich auf gleicher Ebene gegenüber stehen, zu egalitärer Verantwortung und zu einem gleichberechtigten Miteinander finden könnten. Da der Rollenkanon den Mann als patriarchale Macht bevorzugt, hilft es wenig, wenn er wie bislang nur sehr zögerlich die Frau an dieser Macht punktuell beteiligt.

Es ist ebenfalls keine Lösung, wenn liberale Strömungen einfach die politische und  gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frau des christlichen Umfelds übernehmen. Denn damit werden ja nur neue andere, eben christliche Einschränkungen, der Frau übernommen. Es wird, meines Erachtens, noch ziemlich lange dauern, bis der jüdische Rollenkanon wirklich geändert werden kann, da der Mann sich durch seine Ängste, seine sich selbst zugeschriebene Schwäche und die daraus resultierende Überhöhung der Frau in einer Falle befindet, aus der er nicht gleichberechtigt herauskommen kann. Denn würde die Frau in der Orthodoxie und in verschiedenen konservativen Strömungen die Gleichberechtigung im Rahmen der bislang tradierten Bilder erhalten, dann könnte der Mann – nach den Stereotypen, die er von sich und der Frau gezeichnet hat – nicht gleichwertig neben der Frau stehen.

Erschienen in: Judith Stofer/Rifa’at Lenzin (Hg.), Körperlichkeit – Ein interreligiös-feministischer Dialog, Religion & Kultur Verlag 2007, Bestellen?