Psychoanalytische Pädagogik

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Ein Gespräch zwischen Roland Kaufhold und Rolf Wagner…

Vormerkung von Rolf Wagner: Die Form eines Interviews habe ich gewählt, weil ich neben meinem Anliegen, das aktuelle Buch meines Gesprächspartners (Roland Kaufhold, Bettelheim, Ekstein: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung, Psychosozial-Verlag), welches aus seiner Dissertation hervorgegangen ist, vorzustellen, auch etwas über die Beweggründe des Autors, die Entstehungsgeschichte und die persönlichen Begegnungen, von denen ich weiß, erfahren möchte.

Rolf Wagner (RW): Deine drei Bücher, bei denen du als Herausgeber fungiert hast, stehen in einem Bezug zu deinem aktuellen Buch. Am Anfang möchte ich ein Zitat von Rilke lesen, welches ich in der Einleitung eines anderen Buches gefunden habe: „Ich kann mein Werk nicht überschauen und fühle doch, es steht vollendet. Aber, die Augen abgewendet, will ich es immer wieder bauen“.

Roland Kaufhold (RK): Das Zitat ist sehr schön, es trifft die Sache für meine gegenwärtige Situation sehr genau. Angefangen hat es damit, dass ich im Studium ein Referat gehalten habe über Bettelheim, über sein Autismus-Buch, von dem ich damals nahezu nichts verstanden hatte. Aber ich dachte, ich hätte etwas verstanden. Ich bin noch Tage später auf diesen Vortrag angesprochen worden. Wenig später habe ich Bettelheims Autismus-Studien weitergelesen, irgendwann musste ich eine Examensarbeit schreiben, und da ich die Pädagogik und die Sonderpädagogik recht langweilig fand kam ich irgendwann auf die Idee, über Bettelheim zu schreiben. Und dann habe ich alles von ihm gelesen, u.a. 15 Bücher.

Hierdurch bekam ich langsam ein gewisses Gefühl für die Komplexität seiner Biografie sowie seines breitgefächerten Werkes. Bei diesen Arbeiten wurde mir rasch das Defizit deutlich, dass es damals sehr wenige Autoren gab, die über Bettelheim geschrieben haben.

Es gab auch im deutschsprachigen Raum nur sehr wenige Personen, die Bettelheim persönlich gekannt haben – er ist ja sehr früh, 1939, in die USA emigriert, nachdem er ein knappes Jahr im Konzentrationslager war. Ich habe das große Glück gehabt, dass ich im Rahmen meiner anfänglichen Forschungen seit Ende der 80er Jahre einige Menschen kennengelernt habe, die sehr fördernd zu mir waren und mich ermutigt haben, mich weiterhin mit Bettelheim zu beschäftigen. Da möchte ich insbesondere Herrn Prof. Jochen Storck, einen Kinderanalytiker aus München, nennen, wie natürlich auch Ernst Federn und Rudi Ekstein.

Auch wurde ich auf einen kleinen Verein für psychoanalytische Sozialarbeit aufmerksam gemacht, der in Tübingen, genauer gesagt in Rottenburg, seinen Sitz hat. Er gehört zu den ganz wenigen Institutionen im deutschsprachigen Raum, die vergleichbar wie Bettelheims Sonia Shankman Orthogenic School arbeiten. Stephan Becker – der Mann der Berliner Freinet-Pädagogin Ulrike Becker (Berlin) – war einer der Begründer dieses Vereins.

Bald bin ich darauf aufmerksam gemacht geworden, dass es zwei Weggefährten von Bettelheim gibt, die noch leben – Rudolf Ekstein und Ernst Federn, die beide aus Wien stammen und zum engen Kreis der Wiener Psychoanalytischen Pädagogik gehören. Wenig später bin ich zu einer Fachtagung über psychotische Kinder und Jugendliche nach Rottenburg gefahren, Und dann waren da diese beiden Herren, zusammen mit dem jüdischen Psychoanalytiker, Pädagogen und Schriftsteller Hans Keilson, der auch noch zu diesem Kreis zu zählen ist.

Weil Ernst Federn eine sehr freundliche Ausstrahlung hatte habe ich ihn angeschrieben und ihm berichtet, dass ich ein kleines Buch über diesen (Bettelheim) herausgeben wolle. Federn hat sehr nett geantwortet, hat mich eingeladen, und da bin ich bald danach nach Wien gefahren. So hat es angefangen. Und dann irgendwann habe ich auch Rudolf Ekstein angeschrieben (der in den USA lebt).

Als Antwort bekam ich ein Riesenpaket, das war bis zum Rand angefüllt mit Manuskripten sowie Originalbriefen von Bettelheim und Ekstein. Damals habe ich meinen Augen nicht getraut. Daraufhin habe ich Ekstein angerufen, der dann meinte, er habe noch mehr Material über Bettelheim; er könne sich jedoch nicht vorstellen, dass ich mich wirklich für diese Briefe interessiere. Und dann habe ich die ganzen Originalbriefe, die auch in dem Buch erschienen sind und noch mehr Sekundärmaterial, besonders das letzte Gespräch, das Rudolf Ekstein mit Bettelheim vor seinem Selbstmord geführt hat, als Kassette im Originalton bekommen.

Um dieses Buchprojekt vernünftig abschließen zu können bin ich 1992 in die USA geflogen, nach Los Angeles, und habe dort in Santa Monica bei Rudolf Ekstein gewohnt. Dort konnte ich dann mit ihm über jedes Detail der Arbeit sprechen und seine Materialien durchgehen. Ekstein war damals schon 80 Jahre alt, hatte aber immer noch Patienten. Immer, wenn er Zeit hatte, sind wir an seinen Swimmingpool gegangen. Da hat er dann gemeinsam mit mir alles durchgearbeitet. Besonders beeindruckt hat mich sein riesiges Archiv, welches ich für das bedeutendste Archiv über die Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik halte. Ca. 20 Aktenordner, die ausschließlich gefüllt sind mit Briefkorrespondenzen, die er mit Emigranten geführt hat, unter anderem auch mit Anna Freud.

RW: In der Einleitung zu deinem neuen Buch schreibst du, dass du Lücken im Gedächtnis der Psychoanalytischen Pädagogik schließen möchtest. Mich interessiert jetzt, was die Psychoanalytische Pädagogik auszeichnet, wo sie ihre Ursprünge hat und wieso Lücken entstehen konnten.

RK: Der Begriff der Psychoanalytischen Pädagogik ist heute nicht so einfach zu verwenden; er ist historisch und gesellschaftlich entwurzelt. In den 20er und 30er Jahren hat es in Wien und in Berlin eine kleine, aber inhaltlich äußerst produktive psychoanalytisch-pädagogische Bewegung gegeben.

Ich nenne hier die Namen Anna Freud, Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel, die gemeinsam mit anderen von 1926 – 1937 ein Jahrbuch für psychoanalytische Pädagogik herausgegeben haben. Sie haben für die damalige Zeit unglaublich mutig geschrieben, sehr viele Dinge erstmals aufgedeckt, haben sich über das Unbewusste von Kindern geäußert, haben über den Zusammenhang zwischen Sexualunterdrückung und Lernhemmung spekuliert. Das sind alles Dinge, die in der Pädagogik und insbesondere in der Sonderpädagogik bis heute vernächlässigt werden bzw. schlicht „vergessen“ bzw. verdrängt wurden.

In der Nazizeit sind nahezu alle Psychoanalytischen Pädagogen emigriert; die meisten von ihnen waren Juden. Diese Vertreibung hat dazu geführt, dass der Begriff der Psychoanalytischen Pädagogik und die Erinnerung daran, was diese repräsentiert, im deutschsprachigen Raum vollständig aus dem kollektiven Gedächtnis ausgelöscht worden sind.

Erst Anfang der 70er Jahre sind in Deutschland vereinzelte Sammelbände erschienen, in denen Aufsätze aus den 20er und 30er Jahren nachgedruckt wurden. Die Studentenbewegung mit ihren Raubdrucken der Werke von Bernfeld, Fenichel, Vera Schmid, Wilhelm Reich etc. hat u. a. den Begriff der Psychoanalytischen Pädagogik wieder ins Bewusstsein gebracht.

Wegen dieser historischen und biografischen Entwurzelung ist es heute auch schwierig, diese pädagogisch-psychologische Richtung als eine kraftvolle gesellschaftliche Reformbewegung zu verstehen, wie dies vor allem Bernfeld noch getan hat. Ich erinnere nur an sein Buch „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“, 1925 verfaßt und heute immer noch sehr lesenswert.

Horst-Eberhard Richter hat 1995 in seinem schönen Buch „Psychoanalyse und Politik“ auf diese tragischen Zusammenhänge eindrücklich hingewiesen. Inzwischen gibt es wieder eine gewisse akademische Etablierung der Psychoanalytischen Pädagogik, an einigen Universitäten wird sie wieder gelehrt. Aber eine psychoanalytisch-pädagogische Bewegung ist nicht erkennbar.

RW: Wenn ich an meine eigene Studienzeit denke, so fällt mir ein, dass uns Siegfried Bernfeld ein Begriff war. Insbesondere im Zusammenhang mit kindlicher Sexualität war er eine bekannte Person. Bei dem Namen von Horst Eberhard Richter war ich erstaunt, dass er der Psychoanalytischen Pädagogik (PP) zuzurechnen ist.

RK: Sofern wir Bettelheim, Ekstein, Federn und Redl als die zweite Generation derPsychoanalytischen Pädagogikverstehen – welche noch vor dem 2. Weltkrieg, zu Lebzeiten Freuds, ihre Prägung erfuhr -, repräsentiert Horst Eberhard Richter vom Alter her die 3. Generation der PP; also ihre „partielle“ Wiedergeburt in den 60er und 70er Jahren.

Richter hat sehr eindrücklich beschrieben, wie er in den 60er Jahren in einer Beratungsstelle für „sozial benachteiligte Familien“ gearbeitet und dort in seiner Arbeit sehr schnell erkannt hat, dass er in diesem sozialen und pädagogischen Feld die Psychoanalyse nicht nach üblichen Vorstellungen praktizieren konnte.

Ein auffälliges Kind kann man nicht auf die Couch legen und behandeln. Es war von Richter sehr mutig, in seiner Arbeit mit „sozial Benachteiligten“ die „klassischen“ psychoanalytischen Wege zu verlassen. Seine Studie „Eltern, Kind, Neurose“ (1964) stieß innerhalb der psychoanalytischen Zunft anfangs auf sehr ausgeprägte Skepsis, um es zurückhaltend zu formulieren.

Mit „Eltern, Kind, Neurose“ hat Richter schon damals, in den 60er Jahren, an die Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik angeknüpft. Hierin hat er – ganz in der „Bernfeld’schen Tradition“ – den Zusammenhang zwischen individueller Erkrankung und gesellschaftlicher Vernachlässigung reflektiert und die Notwendigkeit einer interdisziplinären Kooperation zwischen verschiedenen fachlichen Disziplinen betont.

RW: Freud sagt in seiner Schrift ‚Das Interesse an der Psychoanalyse: „Ein Erzieher kann nur sein, wer sich in das kindliche Seelenleben einfühlen kann, und wir Erwachsenen verstehen die Kinder nicht, weil wir unsere eigene Kindheit nicht verstehen.“

Das verstärkt meine jahrealte Auffassung, dass Erwachsene, die beruflich in Schulen oder Heimen mit Kindern oder Jugendlichen zu tun haben, sich mit ihrer eigenen Psyche, ob in Form einer Analyse oder in Form von Supervision, auseinander setzen sollten.

RK: Dies trifft sich natürlich sehr mit meinen eigenen Erfahrungen, insbesondere was die Bedeutung der Biografieforschung betrifft – und natürlich auch mit der Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik, wie ich sie in meiner Studie rekonstruiert habe.

Historisch hat es immer die Frage der sogenannten Laienanalyse gegeben, also ob es einer medizinischen Ausbildung bedarf, um Psychoanalyse betreiben zu dürfen. Die Entstehung der Psychoanalytischen Pädagogik ist dadurch zustande gekommen, dass es in Wien und Berlin sehr viele junge Leute gegeben hat, die keine Ärzte waren, sondern in pädagogischen und sozialen Bereichen tätig waren. Diese wollten die Psychoanalyse kennenlernen und in ihre berufliche Praxis integrieren.

Wir denken heute vor allem an das Werk von August Aichhorn und seine Arbeit mit verwahrlosten, deliquenten Jugendlichen. Und Freud hat dies sehr früh unterstützt, auch wenn er selbst mit dieser Arbeit nicht unmittelbar in Berührung kam. Er delegierte diese Aufgabe gewissermaßen an seine Tochter Anna.

Die Psychoanalyse ist zu Anfang sehr von Psychoanalytischen Pädagogen geprägt worden, sie bildeten ein zentrales Element in dieser kraftvollen Reformbewegung. Insbesondere Ekstein und Federn haben hieran zeitlebens in ihren Schriften erinnert. Freud hat immer entschieden vertreten, dass die Pädagogik ein Teil der Psychoanalyse sei, auch wenn er selbst relativ wenig mit Kindern gearbeitet hat. Freud hat diesen Sachverhalt in seinem Geleitwort zu Aichhorns „Verwahrloster Jugend (1926) sehr treffend formuliert:

„A. Aichhorn (…) hatte in amtlicher Stellung als Leiter städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit der Psychoanalyse bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal dieser Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einfühlung in deren seelische Bedürfnisse richtig geleitet.

Die Psychoanalyse konnte ihn praktisch nichts Neues lernen, aber sie brachte ihm die klare theoretische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in den Stand, es vor anderen zu begründen. (…) Ich schließe noch eine Folgerung an (…) Wenn der Erzieher die Analyse durch Erfahrung an der eigenen Person erlernt hat und in die Lage kommen kann, sie bei Grenz- und Mischfällen zur Unterstützung seiner Arbeit zu verwenden, so muß man ihm offenbar die Ausübung der Analyse freigeben und darf ihn nicht aus engherzigen Motiven daran hindern wollen“ (Freud, GW XIV, S. 565-567).

RW: Die Geschichte der Emigration ist sicher sehr bedeutsam, eine große Rolle hat bestimmt auch der Antikommunismus in den USA nach den 2. Weltkrieg gespielt. Ich möchte gerne auf einzelnen Personen deines Buches eingehen. Die Gemeinsamkeit ist das deutsche Konzentrationslager: Buchenwald für Bettelheim und Federn, Ekstein war ebenfalls in einem Gefängnis inhaftiert. Federn hat das wichtige Buch „Versuche zur Psychologie des Terrors„, das du herausgegeben hast (1999), geschrieben. Dort beschreibt er, wie ihm und auch Bettelheim die Kenntnisse der Psychoanalyse zur Bewältigung des grausamen Alltages geholfen haben.

RK: Wie ich schon eben erzählt habe kann die psychoanalytische Pädagogik nicht ohne ihre historische Entwurzelung verstanden werden. Federn, Bettelheim und Ekstein wurden wegen ihres antifaschistischen Engagements sowie ihres Judentums von den Nationalsozialisten verfolgt. Bettelheim und Federn haben sich bereits in Buchenwald beim gemeinsamen „Ziegelsteinwerfen“ kennengelernt und rasch angefreundet. Auch kannte Bettelheim Ernst Federns Vater, Paul Federn, sowie auch Wilhelm Reich, der für ihn zeitlebens wegen seiner außergewöhnlichen Produktivität ein großes Vorbild war.

Es war von Anfang an eine enge Bindung zwischen beiden da, sie wußten bereits in Buchenwald, dass sie von der gleichen Sache etwas verstehen. Bettelheim hatte es im Lager etwas schwieriger als Federn: Er war zwar im antifaschistischen Widerstand organisiert, war jedoch kein antifaschistischer Kämpfer. Er war ein bürgerlicher Mensch. Ekstein und Federn kamen hingegen aus der sozialistischen Bewegung, sie hatten eine „Vorahnung“ von dem, was in den Konzentrationslagern passieren würde.

Insofern kam Ernst Federn quasi als „gelernter Häftling“ nach Buchenwald. Und Federn wußte sehr präzise, warum er ins Konzentrationslager verschleppt wurde. Diese Identität als Widerstandskämpfer gegen den Faschismus bildete ihm ersichtlich eine große Hilfe, beim Überleben.

Nach sehr kurzer Zeit haben Federn und Bettelheim in Buchenwald beobachtet, dass viele Gefangene unter der massiven Bedrohung Regressionsleistungen zeigten. Sie merkten, dass sie in dieser terroristischen Situation verrückt werden würden, dass die Situation vollständig anormal war und sie etwas dagegen unternehmen mussten.

Sie haben versucht, in psychoanalytisch orientierten Gesprächen mit ihren Mithäftlingen zu verstehen, was mit ihnen geschah. Diese Analysen bildete erkennbar einen Überlebensversuch.

Federn hat sehr schnell eine Gruppe von hauptsächlich trotzkistischen Mithäftlingen um sich gehabt und ist dadurch sehr schnell in diese fürchterlichen Kämpfe zwischen den „kommunistischen“ Gruppierungen geraten, die auch in Buchenwald weitergeführt wurden. Ernst Federn ist 7 Jahre in Buchenwald geblieben, erst durch die Amerikaner ist er befreit worden.

Und weil er wusste, dass in Wien die Russen waren, wusste er, als Trotzkist darf ich nicht nach Wien, deshalb ist er nach Belgien gegangen. Drei Jahre später ging er dann gemeinsam mit seiner Frau Hilde in die USA, zu seinen Eltern, wo er bis 1972 blieb.

In den USA mußten diese Emigranten rasch erkennen, dass sie das, was sie in Europa gelernt hatten, in den USA beruflich nicht umsetzen konnte. So mussten sie sich kleine Nischen schaffen in der sogenannten psychoanalytischen Sozialarbeit und Pädagogik, wo sie ihre bisherigen Erfahrungen einbringen konnten.

RW: In den USA ist Federn dann mit Bettelheim, aber auch mit Ekstein zusammengetroffen. Ekstein kannte er nicht aus Buchenwald. Er kam aber, so wie Federn auch, aus der sozialistischen Bewegung. Wie kam dieser Kontakt zustande?

RK: Alle drei arbeiteten in einem vergleichbaren beruflichen Feld. Und insbesondere Ekstein und Federn versuchten immer wieder, in den USA ein Netz von europäischen Emigranten um sich zu organisieren. Auch trafen sie sich in Wien sowie bei verschiedenen Fachkongressen in Deutschland.

Rudi Ekstein ist derjenige von diesen Emigranten, der am frühesten die Verbindung zu Wien wieder herzustellen vermochte. Für ihn war es nicht unbedingt eine schmerzhafte Erfahrung, wieder nach Wien zu gehen. Für Bettelheim war es hingegen sehr schwer, Wien zu besuchen, er hat dort überall Nazis gesehen. Er war sichtlich innerlich entwurzelt, daher vielleicht auch seine außergewöhnliche Produktivität. Ekstein hat das anders empfunden. Er hat in Österreich viele Freunde und Kollegen gehabt, die er, genauso wie Federn, noch aus seiner Untergrundtätigkeit kannte, die dann in die Politik gegangen sind; ich nenne nur die Namen Kreisky und Broda.

Ekstein hat dann die psychoanalytisch-pädagogische Tradition, auch von den Begriffen her, in den USA lebendig gehalten. Sein erster Text nach seiner Emigration in die USA im Oktober 1939 hieß: „Demokratische und faschistische Erziehung aus der Sicht eines Lehrers und Flüchtlings“. Ekstein kannte aus seiner Wiener Zeit vor der Emigration viele Persönlichkeiten aus diesem sozialen Reformbereich. Viele dieser Psychoanalytiker und Pädagogen hat er dann in den USA wiedergetroffen und hat von Anfang an das große Privileg gehabt, dass er auch als Psychoanalytiker in der Menninger Foundation, das war eine sehr berühmte Einrichtung in den USA, psychoanalytisch arbeiten konnte.

Er hat sich früh auf die Arbeit mit schizophrenen, schwer gestörten Kindern, spezialisiert. Dort hat er Forschungsinstitute aufgebaut und jahrzehntelang gewirkt. Das Erstaunliche ist, dass man von all diesen Dingen in Deutschland nichts weiß, obwohl Ekstein schon sehr früh, ab Anfang der 60er Jahre, eine große Zahl von Aufsätzen über die Psychoanalytische Pädagogik veröffentlicht hat; aber nur weniges davon wurde ins Deutsche übersetzt. So betrachtet ist Rudi Ekstein eigentlich der Neubegründer der Psychoanalytischen Pädagogik in Deutschland. Aber das scheint man nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, wirklich überraschend und verwirrend.

RW: Zum Schluss möchte ich noch genauer zu Bettelheim kommen. Bislang war mir Bettelheim als Autor des Buches Kinder brauchen Märchen ein Begriff. Nach der Lektüre deines Buches über ihn hat mich eine Sache absolut fasziniert. Die Kinder in seiner Orthogenic School konnten die Schule jederzeit verlassen, aber kein Besucher konnte unerlaubt die Schule betreten. Die Türen öffneten sich nur nach außen. Das zeugt von einem großen Vertrauen in die Kinder.

RK: Bettelheims Arbeit in seiner Orthogenic School, mit der er ca. 1944 begonnen hat, steht in einem gewissen Kontext zu seinem Leben in Wien. Bettelheim hat es immer wieder so formuliert, dass die Orthogenic School zu einer Antwort auf seine extrem zerstörerischen Erfahrungen in den deutschen Konzentrationslagern wurde. Die Umkehrung seiner destruktiven Erfahrungen in das Gegenteil wurde zu seinem Lebensprojekt.

Nach seiner Verschleppung nach Dachau und Buchenwald hatte er das große Glück, dass sich seine Cousine Edith Buxbaum, eine heute leider nicht mehr bekannte bedeutende Psychoanalytische Pädagogin, die im antifaschistischen Kampf engagiert und bereits 1935 in die USA emigriert war, für seine Freilassung einsetzte. Weiterhin die Mutter des amerikanischen autistischen Mädchens, welches er in den 30er Jahren in Wien quasi „adoptiert“ hatte. Als die Nazis an die Macht kamen hat diese Frau ihr Kind zurück nach Amerika geholt und sich für Bettelheims Freilassung eingesetzt. Bettelheim hatte dann tatsächlich das große Glück, dass die Nazis ihn haben gehen lassen. Bis 1940 haben die Nazis vereinzelt Häftlinge freigelassen.

Wie bereits gesagt wurde die von ihm aufgebaute Orthogenic School bis zu seinem 70. Lebensjahr zu seinem Lebensprojekt. Und da kamen ihm seine Wiener Erfahrungen zugute, als er merkte, dass er in seiner Arbeit die Psychoanalytische Pädagogik „umsetzen“ konnte.

Er arbeitete anfangs u.a. mit den Wiener Psychoanalytischen Pädagogen Fritz Redl und Emmy Sylvester zusammen. Diese milieutherapeutischen Arbeit war natürlich immer ein sehr tastendes Bemühen, da es in diesem Bereich nur wenige übertragbare Erfahrungen gab. Diese Arbeit hat er von Anfang an publizistisch begleitet. Er hat schon 1950 das erste Buch mit dem fantastischen Titel Liebe allein genügt nicht geschrieben, welches recht erfolgreich war.

RW: Die Situation in den USA war in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg geprägt von Antikommunismus, die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Psychoanalytiker mit sozialistischen Hintergrund waren sicher sehr schwierig.

RK: Ernst Federn hat diese Schwierigkeit verschiedentlich sehr deutlich benannt. Gleich nach seiner Ankunft in den Staaten wurde ihm klar, dass es in den USA der seinerzeitig unmöglich war, die Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik fortzuführen. Eine Anknüpfung an sozialistische Traditionen wäre ein offenkundiges „Himmelfahrtskommande“ gewesen. Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel haben vergleichbare Erfahrungen gemacht. Ich erinnere nur an die vor einigen Jahren erschienenen „Geheimen Rundbriefe“ (Roter Stern/Stroemfeld) von Fenichel. Der Amerikaner Russel Jacoby hat hierzu 1985 eine gut lesbare, kämpferische Studie verfasst: Die Verdrängung der Psychoanalyse. Oder: Der Triumph des Konformismus.

Federn hat betont, dass die Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik als solche auch in den USA nicht existiert – trotz aller Bemühungen der europäischen Emigranten. Aber Erik H. Eriksons Schriften – ebenfalls durch die „Wiener Tradition“ geprägt – scheinen in den USA in pädagogischen Kreisen sehr rezipiert worden zu sein. Ekstein hat im Gegensatz zu Federn eine sehr viel hoffnungsvollere Einschätzung bzgl. der  Bedeutsamkeit der Psychoanalytischen Pädagogogik den USA gehabt.

RW: Der Selbstmord von Bruno Bettelheim war eine angekündigte Sache. Die Diskussion unter seinen Kollegen ist sehr ambivalent. Von Zustimmung bis Unverständnis reicht die Palette. Eben hast du erzählt, dass viele seiner Kollegen, es waren ausschließlich Männer, den gleichen Weg gegangen sind.

RK: Es gibt furchtbar viele ehemalige KZ-Häftlinge, die sich später umgebracht haben – gerade auch unter denjenigen, die ihre Erfahrungen immer wieder in sehr beeindruckender Weise reflektiert haben. Bettelheim hat vor seiner Selbsttötung Schlaganfälle gehabt, er ist sehr krank gewesen, er wollte nicht vegetieren. Und wie offen er über seine Absicht gesprochen hat, das habe ich in meinem früheren Buch Annäherung an Bruno Bettelheim (1994) ausführlich dokumentiert. Insofern ist es völlig unpassend, über diese Dinge zu spekulieren. Dass sein Selbstmord in der Öffentlichkeit solches Aufsehen erregt hat ist psychologisch interessant, aber sachlich befremdlich.

RW: Auf Seite 250 deines Buches ist ein Zitat, das handelt von der Einsamkeit der alternden Überlebenden. Eine Stelle, die mir aufgefallen ist: „Man denke nur an die Einsamkeit der Überlebenden der Konzentrationslager. Sie sind Reisende, die aus einem grauenhaften Land zurückkehrten. Sie erzählen ihre Geschichte, und niemand kann die Schrecken ihrer Berichte nachvollziehen. Jahr um Jahr schrumpft der Tod die Zahl derjenigen, die verstehen können. Die anderen über- leben:“ Steckt da für dich Motivation, nicht vergessen, aufrütteln, wach halten?

RK: Ja, natürlich. Wenn man sich so wie ich mit solchen Dingen beschäftigt, hat das natürlich auch sehr persönliche Gründe. Sonst würde auch die Energie fehlen, eine solche umfassende Arbeit zu tun. Es ist die Kunst, die wir als Pädagogen haben müssen, die eigenen biografischen Erfahrungen ab und zu mit unserem beruflichen und wissenschaftlichen Engagement zu verknüpfen. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Bettelheim bis heute sowohl Begeisterung wie auch Ablehnung, bis hin zu offenem Hass, auslöst.

Ich möchte „an dieser Stelle“ noch etwas über Bettelheim sagen: Bettelheim war ein sehr provozierender Mensch, in seinem Auftreten, er hat die Dinge immer sehr offen benannt hat und eine große Freude daran hatte, sich viele Feinde zu schaffen. Das hat ihm sehr viel Freude bereitet, das hat er sehr gerne gemacht und dafür ist er sehr berühmt geworden. Er war in den USA ein gefürchteter Diskussionspartner, Viele haben sich nicht getraut, sich mit ihm in öffentliche Diskussionen zu begeben.

Um einmal ein Beispiel zu benennen: Als Hannah Ahrendt Anfang der 60er Jahre ihre Studien über den Eichmannprozess in New York publiziert hat, da war Bettelheim einer der wenigen gewesen – es hat damals eine Riesenkampagne gegen Hannah Ahrendt gegeben – die von Anfang an Hannah Ahrendt unterstützt haben. Sie kannten sich und hatten an der gleichen Universität gelehrt. Auch mit Aufsätzen hat er das getan, das hat ihm sehr viel Feindschaft eingebracht. Es hat furchtbare Auseinandersetzungen in den USA gegeben, auch zwischen Überlebenden der Konzentrationslager, vor denen er sprach und die dann ihre Arme hochhielten mit den KZ-Nummern. So hat er häufig Kontroversen ausgelöst. Deshalb ist mir auch die heutige Kritik an Bettelheim unverständlich. Bettelheim ist durch die schrecklichen Erfahrungen in den Lagern letztlich ein Leben lang ein Entwurzelter geblieben.

RW: Du hast mit erzählt, dass Ernst Federn vor wenigen Wochen eine große Ehrung zuteil wurde.

RK: Ernst Federn wurde Anfang Dezember 2001 von der Gesamthochschule Kassel für sein Lebenswerk die Ehrendoktorwürde verliehen. Das war eine sehr wichtige Geste, einem 87jährigen, der damals in Wien sein Studium der Volkswirtschaft und Jurispondenz nicht zu Ende bringen konnte, seine Arbeit im nachhinein anzuerkennen.

Es gibt in Kassel ein kleines Institut für Psychoanalyse am Fachbereich Erziehungswissenschaften, und dieses Institut hat Federn nach langen Bemühungen die Ehrendoktorwürde verliehen. Horst Eberhard Richter hat eine Rede gehalten. Frau Leuzinger-Bohleber hat in ihrer Laudatio ausgeführt, dass die bedeutendsten Psychoanalytischen Pädagogen Bernfeld, Bettelheim, Ekstein und Federn seien. Dies hat mich sehr gefreut – und Ernst Federn gewiss ebenfalls.

RW: Ich danke dir für dieses Gespräch.

Dieses Gespräch ist unter dem Titel „Psychoanalytische Pädagogik“ – ein Gespräch zwischen Roland Kaufhold und Rolf Wagner“ in der Zeitschrift der Freinet-Pädagogen „Fragen und Versuche“ Nr. 100, Juli 2002, erschienen.

Themenschwerpunkt Rudolf Ekstein

Zum Interviewer:
Der Grundschullehrer Rolf Wagner lebt in Essen. Rolf Wagner ist ein bekannter Vertreter der Freinetpädagogik. In seiner Jugend war er Schriftsetzer, dann Jugendbildungssekretär, studierte dann Lehramt und war bis zu seiner Pensionierung als Grundschullehrer sowie als Seminarleiter in der Lehrerausbildung tätig. Im Rahmen der Freinet-Kooperative hat er zahlreiche Fortbildungen zur Theorie und Praxis der Freinetpädagogik angeboten. Nach seiner Pensionierung war er Mitherausgeber eines lesenswerten Buches über Celeste Freinet: Gerhard Glück / Rolf Wagner, (Hrsg.): Lieber Célestin Freinet. Was ich Dir schon immer sagen wollte… Hohengehren 2006 (Schneider Verlag). In den letzten Jahren beschäftigt sich Rolf Wagner künstlerisch und maltherapeutisch.