Anspruchsvolles Land

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Parascha 393. Ansprache für Freitag, den 12. August 2011 (WaEtchanan)…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Nach dem Elend der Sklaverei und den Entbehrungen der Wüstenwanderung steht das Volk Israel in den Bibelabschnitten aus dem fünften Buch Mose, die in diesen Wochen in der Synagoge gelesen werden, endlich an der Schwelle zum gelobten Land. Wie eine Beschreibung Utopias mussten die Worte von Moses in den Ohren seines erschöpften Volkes klingen: „Der Herr, dein Gott, bringt dich in ein schönes Land, in ein Land mit Wasserbächen, mit Quellen und Strömen, die in der Ebene und im Gebirge entspringen, in ein Land mit Weizen und Gerste, mit Wein und Feigen und Granatäpfeln, in ein Land mit Oliven und Honig, in ein Land, in dem du dein Brot nicht kümmerlich isst, in dem es dir an nichts fehlt, in ein Land, dessen Steine aus Eisen sind, und aus dessen Bergen du Erz schlägst“ (Deut 8, 7-9). Dann vergleicht er das Land Israel mit dem Land, aus dem das Volk Israel gerade kam: „Das Land, in das ihr zieht, um es in Besitz zu nehmen, ist nicht wie das Land Ägypten, aus dem du kommst, dass du, wenn du deinen Samen ausstreutest, mit deinem Fuß, wie einen Gemüsegarten, bewässern konntest. Das Land, in das ihr zieht, um es in Besitz zu nehmen, ist ein Land mit Bergen und Tälern, durch den Regen des Himmels trinkt es Wasser, ein Land, für das der Herr, dein Gott, sorgt; ständig sind die Augen des Herren, deines Gottes, darauf gerichtet, vom Anfang des Jahres bis zum Ende des Jahres“ (Deut 11, 10-13).

Ägypten galt als „Gabe des Nils“, aber die Ägypter mussten erst lernen, ihren gewaltigen Strom zu kanalisieren. Deshalb schrieben sich ihre Gottkönige den Erfolg selber zu. Der Prophet Ezechiel charakterisiert diese Selfmademan-Einstellung in seiner Ankündigung von Gottes über Strafgerichts über Ägypten: „Siehe, ich komme über dich, Pharao, König von Ägypten, großes Krokodil, das in den Flüssen lagert, der da gesagt hat: ‚Mein Fluss ist mein! Ich habe mich selbst geschaffen!‘“ (Ani Assitini 29, 3). Nicht zufällig begann der große Showdown zwischen dem ägyptischen Herrscher und dem israelitischen Befreier an den Ufern des Nils. Im Gegensatz zu Nil-Land wird das Land Israel vom Himmel bewässert. Seine Bewohner können es nicht, wie die Bibel sagt, durch Treten fruchtbar machen, sondern müssen ihre Augen zum Himmel richten und hoffen, dass Gott ihren Blick erwidert. Diese klimatische Antithese hat weit reichende mentale Folgen: Hier eine Kultur der Natur- und Menschenbeherrschung, da eine Religion der schlechthinnigen Abhängigkeit; hier ein vergotteter Staat, da ein ergebenes Gottesvolk, hier der homo faber, dessen Monumente die Bewunderung der Touristen auslösen, da der homo religiosus, der sich bis heute an die Befreiung aus der Sklavenfron erinnert.

Aber das Land macht nicht die Leute! Die Bibel verfällt nicht in einem klimatischen Determinismus und rechnet durchaus mit der Möglichkeit, dass das Volk auch in einem religiös günstigen Klima versagt. Deshalb bringt sie dem Volk vor dem Einzug ins Land eindringlich die religiösen Voraussetzungen seiner Existenz in Erinnerung: „Du möchtest sonst“, setzt Mose seine Rede fort, „wenn du isst und satt bist und schöne Häuser baust und darin wohnst, und wenn deine Rinder und Schafe sich mehren, dein Silber und Gold sich mehrt, und alles, was dein ist, sich mehrt, du möchtest sonst hochmütig werden und den Herren, deinen Gott, vergessen, der dich aus dem Sklavenhause, der dich durch die große und furchtbare Wüste geführt hat, in der giftige Schlangen und Skorpione sind und wasserlose Dürre herrscht, der dir aus dem Kieselgestein Wasser hervorsprudeln ließ“ (Deut 8, 12-15). Auf eine solche Demoralisierung durch Wohlstand reagiert das Heilige Land empfindlich, sein physisches Klima hängt vom moralischen Klima der Gesellschaft ab: „Wenn ihr nun auf meine Gebote hört“, heißt es ferner in einem Abschnitt, der zum jüdischen Glaubensbekenntnis gehört und das in unserem Wochenabschnitt steht: „dann werde ich eurem Lande den Regen zur Zeit geben, Frühregen und Spätregen, und du wirst dein Korn, deinen Most und dein Öl einsammeln. Und ich werde dir auf deinem Felde Gras für dein Vieh geben; du wirst essen und satt werden. Nehmt euch in Acht, dass euer Herz sich nicht betören lasse, ihr abfallet und fremden Göttern dienet und euch vor ihnen niederwerfet! Der Zorn des Herren würde über euch entbrennen, und er würde den Himmel verschließen, dass kein Regen komme, und der Boden würde nicht seinen Ertrag geben; ihr würdet sehr bald aus dem schönen Land schwinden, das der Herr euch gibt“ (Deut 11, 13-18).

Das „schöne Land“ ist also keine leichte Beute für Eroberer und kein selbstverständlicher Besitz für Eingeborene, es stellt hohe Ansprüche an seine Einwohner. Erfüllen sie diese nicht, so verlieren sie ihre Rechte auf das Land, sie werden von ihm, wie es anderswo sehr drastisch heißt, „ausgespieen“ (Lev 18, 28). Noch ehe die Israeliten ihren Fuß dorthin setzten, wurden sie von Moses, der übrigens selbst wegen eines geringfügigen Vergehens nicht ins Land darf (Num 20, 12), eindringlich verwarnt: „Hütet euch. Den Bund des Herrn, eures Gottes, zu vergessen, den er mit euch geschlossen hat (…). Wenn ihr (…) im Lande wohnet, und ihr dann ausartet, (…), wenn ihr tuet, was in den Augen des Herrn, eures Gottes böse ist, (…), dann werdet ihr sehr bald aus dem Land verschwinden, in das ihr über den Jordan ziehet; um es in Besitz zu nehmen; ihr werdet nicht lange darin leben (…). Der Herr wird euch unter die Völker zerstreuen, und es wird nur eine geringe Zahl von euch bei den Völkern  übrig bleiben (…)“ (Deut 4, 23-27).

Die moderne Bibelwissenschaft lehrt, dass praktisch die ganze Bibel auf der Schwelle des Landes entstanden ist, sei es, dass das Volk  gerade im Begriff war, aus dem Land auszuziehen, oder dort wieder einzuziehen. Im Grunde genommen stehen wir wie Moses immer auf der Schwelle dieser Utopie. Noch heute ist das versprochene Land ein sehr anspruchsvolles Land! Das merken wir auch daran, dass Israel ständig am Pranger der Weltgemeinschaft steht. Wenn es auch ungerecht ist, so beweißt es, wie hoch die Latte hängt.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr