Alles rauscht

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Manchmal können zwanzig Schritte sehr weit sein. Zwanzig Schritte sind dann sehr weit, wenn das Meer sehr laut rauscht. Wenn das Meer so laut und bedrohlich rauscht, dann hört man die Hoffnung fast nicht mehr, weil die Hoffnung so leise ist… 

Von Ramona Ambs

Die Hoffnung ist dann leise, wenn sie aus einem rauschenden Radio dringt, dass es gar nicht gibt. Doch auch ein Radio, dass es nicht gibt, kann schöne Geschichten erzählen. Und so rauschen Radio und Meer nebeneinander um die Wette. Aber egal wie leise und still die Hoffnung auch sein mag, sie wiegt unendlich schwer, schwerer als ein Menschenleben. Und sie lastet auf Jakob, der das Radio erfindet, um den Ghettobewohnern ein wenig Hoffnung zu spenden.

In zwanzig Schritten, die dann doch auf der Strecke bleiben, bringt Regisseur Martin Nimz die Geschichte von Jakob dem Lügner erstmals auf die Bühne. Und die Bühne ist ein Bahnhof. Die Geschichte, die von Jurek Becker 1969 veröffentlicht wurde, birgt viel an Spreng- und Sprachkraft. Das bekam Jurek Becker selbst auch zu spüren. Sein Vater, der ihm bei seinen Recherchen zu dem Buch geholfen hatte, war von der literarischen Umsetzung seines Sohnes so schockiert, dass er ein Jahr lang nicht mit ihm sprach. Denn Jurek Becker, der selbst in Ghetto und KZ groß wurde, erzählt die Geschichte anders und neu und sucht sich überdies zwei Varianten, die Geschichte enden zu lassen.

Ein Geheimnis bleibt, wie Jurek Becker beim Schreiben seines Romans ahnen konnte, dass im Jahr 2011 sein Jakob leibhaftig in Form von Axel Sichrovsky auf der Bühne stehen würde. Die Figur ist dem Hauptdarsteller ganz offensichtlich auf den Leib geschrieben worden. Sichrovsky spielt nicht den Jakob. Er ist es. Er ist auch Radio und Wächter und Erzähler und Onkel. Seine Authentizität ist eine einzige Hommage an Jurek Becker. Und das große Thema, dass durch all die kleinen Ghettogeschichten rauscht ist Schuld. Dem gesamten Ensemble gelingt es hier auf einzigartige Weise, dieses Thema in den Figuren umzusetzen. Kowalski (Paul Grill), der vom Latkesfresser zum zahnlosen Helden wird, die Frankfurters (Ute Baggeröhr/Frank Wiegard), die anfangen von einer Zukunft zu träumen, oder Lina (Natalie Mukherjee), die mit kindlichem Ungestüm Jakob bedrängt und am Leben hält, kommen Schritt für Schritt dichter an Jakob heran. Und so bedrücken und erdrücken Hoffnung und Schuld nach und nach den „kleinen“ Jakob auf der Bühne.


Jakob (Axel Sichrovsky), © Markus Kaesler

Auch wenn es heitere Momente im Ghettoalltag gibt, weil man nicht blind vor Liebe ist, sondern weil man auf einem Auge zwei plus und auf dem anderen Dioptrin hat, bleibt es düster auf der Bühne und im Herz, denn in manchen Geschichten sind „Kinder schon erwachsen und die Eltern sind erst zwei“. Die Rollen werden vertauscht. Kinder trösten ihre Eltern, wenn die Ratlosigkeit bisweilen stärker ist, als die Hoffnung, weil man nie weiß, ob gerade die verbotenen Bäume rauschen, oder das Meer oder ob einfach das Radio kaputt ist. Und so zieht sich das Eröffnungsbild, Jakob einsam auf dem Bahnsteig, und die anderen ihm gegenüber als Motiv durch die gesamte Inszenierung. Es ist auch dann noch spürbar, wenn in der letzten Szene Jakob mit den anderen deportiert wird. Er bleibt der Einsame unter den Verlassenen, denen letztlich die Hoffnung auch nicht geholfen hat.

Die nächsten Vorstellungen finden in Heidelberg im Theaterkino am 28. April, 14., 19., 22. und 24. Mai statt.

Jakob der Lügner
nach dem Roman von Jurek Becker
Deutschsprachige Erstaufführung

Regie: Martin Nimz
Bühne: Bernd Schneider
Kostüme: Ricarda Knödler
Video: Achim Naumann d’Alnoncourt
Dramaturgie: Nina Steinhilber

Mit
Jakob – Axel Sichrovsky
Lina – Natalie Mukherjee
Mischa – Simon Bauer
Kowalski – Paul Grill
Rosa – Jennifer Sabel
Frau Frankfurter/ Larissa – Ute Baggeröhr
Frankfurter / Kirschbaum – Frank Wiegard
Preuss – Klaus Cofalka-Adami