Schiwa mit Zimes und Zores

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Medicament- ein beeindruckendes Stück von Maya Scheye am Heidelberger Theater / Teatron Beit Lessin …

Von Ramona Ambs

„Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern“ – so lautet Punkt 18 in Dürrenmatts „Die Physiker“. In „Medicament“ – dem vierten Stück der Theaterkooperation FAMILIENBANDE des HeidelbergerTheaters mit dem Teatron Beit Lessin in Tel Aviv, geht es, wie in Dürrenmatts Physikern, um die Frage von Ethik in der Wissenschaft. Und die Protagonisten in Medicament, versuchen genau das, was (laut Punkt 18 der „Physiker“) zum Scheitern verurteilt ist: nämlich etwas alleine zu lösen, was alle angeht.

Nach dem Tod des jüdischen Hirnforschers Juda Stein treffen dessen Sohn Arie mit seiner deutschen Frau Anna und ein alter Weggefährte des Vaters, der Historiker Christian, und in Zeitrückblenden Juda selbst und seine Geliebte Lisa, im Labor zusammen. Dort findet Arie alte Unterlagen seines Vaters, der offenbar kurz vor der Patentanmeldung eines neuen Medikaments gegen Alzheimer gestanden hatte. Gemeinsam mit Anna untersucht er die Forschungsergebnisse seines Vaters und entdeckt dabei alte Dokumente einer anderen Forschungsreihe mit ähnlichem Aufbau, aber gegensätzlicher Intention. Der deutsche Professor Gerhard Hahn forschte während der NS-Zeit mit dem Ziel, ein Mittel zu finden, mit dem man das Gedächtnis ausschalten kann. „Denn nur ein Soldat, der sich an nichts erinnern kann, wird beim Feind nichts ausplaudern können“. Juda Stein hingegen arbeitete leidenschaftlich an einem Mittel gegen das Vergessen. Ein Medikament gegen den Verlust von Erinnerung ist sein Ziel- doch dabei stützt er sich auf die Forschungsergebnisse von Hahn, der sein Wissen durch grausame medizinische Versuche an jüdischen Kindern erwarb. Juda Stein sieht sich letztlich nicht mehr in der Lage, für seine Forschungen ein Patent zu beantragen oder diese gar weiter zu führen: „Dieses Medikament ist mit Blut besudelt.“


V.l.n.r.: Anna: Ute Baggeröhr, Arie: Axel Sichrovsky, © Markus Kaesler

Der Jude will sich erinnern, der Deutsche will vergessen- „Shamor ve Sachor“ gegen „Schlussstrich und Gedächtnislücke“ – dieses Motiv durchzieht nicht nur die beiden Forschungs-Akten, sondern verkehrt sich bei dem Ehepaar Arie und Anna in sein Gegenteil. Während Anna zum Judentum konvertieren will und jüdische Traditionen, auf ihre eigene, sehr deutsche Art, zu beleben versucht, will Arie sich nicht erinnern, will nichts Jüdisches an und um sich haben: „Jude zu sein bedeutet für mich nicht, Kerzen an zu zünden und ein paar Gebete sagen. Jude zu sein für mich hieß von Kindheit an nicht aufzufallen, nicht zu erfolgreich sein, nicht zu lebendig sein… vor allem und jedem Angst zu haben… Als ich in der siebenten Klasse darauf bestanden hatte, in ein öffentliches Gymnasium gehen zu dürfen, hat mir meine Mutter die Haare blond gefärbt. Sie hatte keine Ahnung wie das geht, und so habe ich mit gebleichten Haaren, wie ein Albino, meinen ersten Schultag angetreten…es hat fürchterlich gejuckt“ Je stärker sich die Vergangenheit in den Raum drängt, was ganz plastisch durch herunterbrechende Aktenberge dramaturgisch in Szene gesetzt wird, desto mehr muss sich Arie mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen.

Die Geschichte spielt in zwei sich überschneidenen Zeitebenen im Heidelberg der Gegenwart und dem der 70er Jahre. Die Übergänge sind fließend aber anfangs noch klar in Szenen getrennt. Dann jedoch nehmen die Übersschneidungen zu, die beiden Zeitstränge verflechten sich sätzeweise, der Druck, sich der Vergangenheit zu stellen, wächst. Axel Sichrovsky, der sowohl Arie als auch dessen Vater Juda authentisch spielt, zeigt dabei durchgängig eine so überragende schauspielerische Leistung, dass die weiblichen Protagonisten neben ihm ein wenig blass wirken. Er schafft es zwei unterschiedliche Charakteren innerhalb einer Person sich annähern und eins werden zu lassen, ohne jeweils sich selbst zu verlieren. Arie ist Juda und Juda ist Arie – und beide stehen vor dem selben Problem: Darf man aus NS-Forschung Profit ziehen? Dürfen heute Menschen durch ein Medikament behandelt werden, dass auf quallvollen Menschenversuchen basiert?


V.l.n.r.: Juda: Axel Sichrovsky, Anna: Ute Baggeröhr, © Markus Kaesler

Maya Scheye, die Autorin des Stückes, hat diese Geschichte anhand realer Experimente von Carl Schneider an Kindern in der Heidelberger Psychiatrischen Uniklinik zwischen 1943-45 konstruiert. Ihre Intention dabei war es, die Konflikte zwischen der zweiten und dritten Generation nach dem Holocaust zu beschreiben, ihr Schweigen und ihr Verdrängen aufzuzeigen. Avishai Milstein, Regisseur des Stückes, bekräftigt denn auch nochmal: „Der Konflikt ist vom Vater auf den Sohn übergangen und muss nun gelöst werden“. Und deshalb beantwortet Arie diese Frage auch am Ende des Stückes: „Ich weiss es noch nicht. Aber mir wird schon was einfallen, – ich bin Jude.“

MEDICAMENT
FAMILIENBANDE – קשרי משפחה

Partnerschaft mit dem Teatron Beit Lessin, Tel Aviv

Ein Stück von Maya Scheye
Deutsch von Sharon Nuni
Uraufführung / Auftragswerk
Regie Avishai Milstein
Raum Gili Avissar
Kostüme Diana Ammann
Dramaturgie Kerstin Grübmeyer
Produktionsleitung Jenny Flügge

Mit Ute Baggeröhr, Jennifer Sabel; Klaus Cofalka-Adami, Axel Sichrovsky

http://www.theaterheidelberg.de/servlet/PB/menu/1351133/index.html

nächste Vorstellungen am 17.& 28.November2010,
5.& 27.Dezember 2010
im Zwinger1 in Heidelberg.

Aufführung in Tel Aviv im September 2011