Die Judenzählung von 1916

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„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Jener berühmt gewordene Satz aus der Rede Kaiser Wilhelms II. im Reichstag, die den Burgfrieden zwischen den Parteien im Angsicht des Kriegsausbruchs von 1914 beschwor, löste auch unter den deutschen Juden eine euphorische Begeisterung für den Weltkrieg aus. Spätestens am 11. Oktober 1916 setzte die Ernüchterung ein, als ein Erlass des Kriegsministers eine Zählung des Anteils der Juden im Heer beorderte…

Der Erlass war eine Reaktion auf den weit verbreiteten, auch in den Offiziersrängen stark präsenten Antisemitismus, der Juden als Drückeberger und Schmarotzer, die sich ihrer Pflicht entziehen, abstempelte. Von Kriegsbeginn an wurden die deutschen Juden als exponierte Minderheit von der Öffentlichkeit besonders unter die Lupe genommen. Für die meisten war es selbstverständlich, das Vaterland zu verteidigen. Die deutschen Juden wurden in ihrer Welle der Begeisterung für den Krieg jedoch von einem ständigen Loyalitätsdruck begleitet.

„Die Kluft zwischen Juden und Christen, die überbrückt gewesen war, tut sich von neuem auf. Der Jude fühlt sich als Gezeichneter“, kommentierte Feldrabbiner Georg Salzberger den Erlass. Feldpostbriefe und Tagebucheintragungen jüdischer Soldaten berichten davon, wie die Judenzählung aufgenommen wurde. Tatsächlich trug die Judenzählung zu einer verstärkten Stigmatisierung der jüdischen Soldaten und der Juden im Allgemeinen bei und markiert den Beginn der Gleichsetzung zwischen Juden und Kommunisten, die nach Kriegsende so deutlich zum Ausdruck kommen sollte.

Die Ergebnisse der Judenzählung wurden zunächst geheim gehalten. Nach Ende des Krieges kam es zu Diskussionen über die Ergebnisse. Klar ist, dass sich die Anteile jüdischer Kriegsteilnehmer prozentual kaum von den Nichtjuden unterscheiden. Etwa 12000 deutsche Juden fielen im Krieg.

Martin Buber, der seit April 1916 die Zeitschrift „Der Jude“ herausgab, kommentierte die Zählung mit folgenden Worten:

Judenzählung

Man sagt mir, „wir“ müßten protestieren.
Das ist meine Meinung nicht.
An den aufrechten Deutschen ist es zu protestieren: an allen, die sich ihr Deutschland nicht durch den Ungeist, der sich mit diesen Anträgen und Prozeduren ankündigt, verschandeln lassen wollen.
An den aufrechten Juden nicht.
Wohl ist es eine dürftige Art von Wahrheit, die man auf dem Wege solcher Statistik findet; aber was ficht es uns an, daß sie auch hier „festgestellt“ werden soll? Man stelle sie fest! Man zähle!
Wir sind das Gezähltwerden gewöhnt.
Rußland zählt unsre Kinder in seinen Schulen und Polen unsre Arbeiter in seinen Kommunalunternehmungen ; ob ihrer nicht zu viele sind. Dahingegen hat vor etlichen Monaten ein deutscher Studentenverein angeregt, unsere Gefallenen auf Deutschlands Schlachtfeldern zu zählen. Es schienen ihm ihrer nicht genug zu sein.
Und in der Tat, warum sollte sich das Prinzip des zuverlässigen Prozentsatzes nicht auch auf diesem Gebiete durchsetzen?
Völker Europas, in deren Heeresverbänden achthunderttausend Juden für das kämpfen, was jedes von euch seine Sache nennt, zählt, wie viele von ihnen für diese Sache ihr Blut, wie viele für sie nur ihre Kraft hergeben.
Zählt!

B.

1 Kommentar

  1. Sehr geehrte Damen und Herren,
    den kurzen Beitrag über die sog. Judenzählung von 1916 habe ich mit großem Interesse gelesen. Vielleicht ist für andere der ergänzende Hinweis hilfreich, dass Jacob Rosenthal sich in seiner jetzt auch in deutsch vorliegenden Dissertation  „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt/M.: Campus 2007, ISBN 978-3-593-38497-9 ausführlich mit diesem Skandalereignis auseinandersetzt. Ich verweise auf die Rezension von Wilfried Rudloff in: http://www.sehepunkte.de/2008/07/13287.html
     
    Mit freundlichen Grüßen
    Norbert Diekmann

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