Ultra-Orthodoxie und Friedensprozess: Religion steht über Nationalismus

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Die neuesten Umfragen zeigen, dass in zwanzig Jahren mindestens jeder vierte jüdische Israeli, der ultra-orthodoxen Minderheit angehören wird. Wird sich dieser Zuwachs auf den arabisch-israelischen Konflikt auswirken? Die derzeitigen Eliten scheinen dieser bedeutenden Entwicklung wenig Aufmerksamkeit zu schenken…

Rabbi Dr. Shlomo Tikochinski

Die deutlich lauteren Stimmen aus der ultra-orthodoxen Gesellschaft tendieren eindeutig nach Rechts. Allerdings scheint es, dass die Positionen der schweigenden Mehrheit nicht voll ausgebildet sind und ein genauerer Blick zeigt, dass es guten Grund gibt zu glauben, dass bei vielen eine Neigung zum Kompromiss besteht.

Rabbi Eliezer Shach (1898-2001), das renommierte geistige Oberhaupt der ultra-orthodoxen Vereinigung, ehemaliger Leiter des Ponevezh Yeshiva in der Stadt Bnei Brak und ehemaliger Vorsitzender der Partei Agudath Yisrael, hat sich nicht gescheut, klare Stellung zu beziehen, zugunsten der Rückgabe besetzter Gebiete, im Austausch für echten Frieden. Selbst in der euphorischen Zeit unmittelbar nach dem Krieg von 1967 nutzte er jede Gelegenheit, um Israels „Machtrausch zu verurteilen“ und behauptete, dass militaristische Stärke vergänglich ist,“heute hier, morgen bei unseren Feinden“. Er glaubte, dass die Grundlage einer jüdischen Gesellschaft spirituell sein müsse. Im Laufe seines Lebens sprach er sich immer wieder gegen Nationalismus jeglicher Art – auch gegen jüdischen Nationalismus – aus und behauptete, jeder nationalistische Taumel könne nur zum Blutvergiessen führen.

Er unterstützte den Friedensvertrag mit Ägypten und Jordanien. Dass er das Oslo-Abkommen nicht unterstützte, lag nur daran, dass er der Regierung Rabin anti-religiöse Tendenzen unterstellt hat.

Nach Rabbi Shachs Rückzug aus der aktiven Politik traten Strömungen rechtsgerichteter Kräfte in der ultra-orthodoxen Gesellschaft an die Oberfläche. Viele wurden Mitglieder der rechten Parteien und machten bei großen Kundgebungen auf sich aufmerksam. Sie hatten das Gefühl, der Ansatz der Rechten in Bezug auf das Land stehe mit ihren Ansichten im Einklang. Die ultra-orthodoxe Führung hat diese Tendenzen nie für gut geheissen und hat bis heute nichts getan, um diese Tendenzen zu fördern.

Es geht ihr nur um Spiritualität und Tradition. Viele der ultra-orthodoxen geistlichen Führer werden also bereit sein, eine politische Lösung mit den Palästinensern so lange zu unterstützen, wie jüdische Tradition und ein vollständiger halachischer (nach der jüdischen Gesetz) Lebenswandel gewahrt bleiben. Der Wert des menschlichen Lebens ist von höchster Bedeutung für die Rabbiner. Ein Beispiel ist das halachische Urteil von Rabbi Ovadia Yosef, dem berühmten halachischen Gesetzgeber und geistigen Führer der orientalisch-orthodoxen Schas-Partei: Man sei verpflichtet, Land zurückzugeben, um die Chance eines Kriegs zu minimieren und den Verlust von Menschenleben zu verhindern.

Obwohl dieses Urteil mehrere Jahrzehnte alt ist und die Schas-Partei in den letzten Jahren einen  scharfen Rechtskurs einschlug,  eine Änderung, die weitgehend politische und taktische, nicht aber essentielle Ursachen hatte, ist das Urteil immer noch gültig und wurde niemals widerrufen. Wenn sie also vor der Wahl stünde, Gebiete aufzugeben oder in einem kriegerischen Status quo zu verharren, würden sich bei den meisten Schas-Anhängern wohl halachische Rechtssprüche gegen nationalistische Sentimente durchsetzen.

Fast 40 Prozent der Bewohner der Siedlungen sind ultra-orthodox. Aber es ist wichtig, das Profil der typischen ultra-orthodoxen Siedler zu berücksichtigen: Sie sind nämlich nicht durch eine nationalen Ideologie, welcher Art auch immer, sondern durch wirtschaftliche Notwendigkeiten motiviert. Die israelische Regierung zusammen mit den ultra-orthodoxen Parteien in der Knesset gründete die ultra-orthodoxen Städte jenseits der Grünen Linie nur als eine billige Unterbringung für eine Bevölkerung, die hauptsächlich aus Menschen besteht, die ihren (religiösen) Studien nachgehen und in keiner gewerblichen Beschäftigung stehen. Darüber hinaus würde die Absicherung des kulturellen und religiösen Lebens der ultra-orthodoxen Gemeinden jede nationalistische
Zugehörigkeit ausstechen. Im Gegensatz zu anderen Siedlern wären die ultra-orthodoxen offen, eine politische Lösung zu erwägen, solange diese eine angemessene Antwort auf ihre wirtschaftlichen und religiös-kulturellen Bedürfnisse enthält. Es ist also klar, dass eine politische Einigung, die nach US Intervention oder Druck zur Abstimmung gelangen würde, die Unterstützung der ultra-orthodoxen Parteien gewinnen würde.

Die ultra-orthodoxe Gemeinschaft in Israel ist dabei, traditionelle und soziale Mauern durchgängiger zu machen. Einige aus der Gemeinschaft sind dabei, sich in staatlichen Institutionen wie Politik und Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur zu integrieren. Dieses Engagement vergrößert den Einfluss eines gesellschaftlichen Segments, das traditionell weniger nationalistisch und zionistisch ausgerichtet ist, als dies für die aktuellen Eliten gilt.

Es gibt also guten Grund für Optimismus in Bezug auf den arabisch-israelischen Konflikt: die alten Zentren der politischen Macht, die vom stagnierenden Friedensprozeß genug haben, werden von einer neuen Führungsgruppe abgelöst, die mit einem stark pragmatischen Ansatz an die Probleme herantritt und frische Energien in die Bemühungen zur Beendigung des Konflikts investieren könnte. Es bestehen gute Chancen, dass diese neue Führung den Konflikt aus anderen Winkeln betrachten wird, z. B. mit größerer Achtsamkeit gegenüber spirituellen (nicht national-religiösen) Fragen und der Bereitschaft zu Zugeständnissen im Austausch für eine Garantie, dass ihre Traditionen gewahrt werden können.

Rabbiner Dr. Shlomo Tikochinski lehrt am Van Leer Institut in Jerusalem. Der Artikel wurde für den Common Ground-News-Service geschrieben und für haGalil übersetzt. 27 Mai 2010.

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