Ein hebräisches Gymnasium in München

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Im Ortsteil Bogenhausen wurde Iwrit, Palästinakunde und jüdische Geschichte gelehrt… 

Von Jim G. Tobias

„Als ich hörte, dass es in München ein hebräisches Gymnasium gibt, wollte ich sofort dorthin“, erinnert sich die heute 78-jährige Yola Schneider; seit etwa sechzig Jahren ist das australische Sydney ihre Heimat. Die als Jochewed Rawdin in Warschau geborene Jüdin überlebte, wie ihre Mutter, die Shoa mit „arischen“ Papieren. Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus kümmerten sich zionistische Aktivisten um die Halbwaise und andere gerettete jüdische Kinder, um sie nach Palästina zu bringen. Auf dem Weg dorthin strandeten sie zunächst in einem Jewish Children Center im oberbayerischen Aschau. Da die britische Mandatsmacht eine Einwanderung nach Erez Israel nicht erlaubte, wollte das junge Mädchen die Zeit nutzen und lernen. Ab 1946 besuchte sie deshalb für zwei Jahre, das, im selben Jahr gegründete, hebräische Gymnasium.

Yola war eine Musterschülerin und spricht daher neben ihrer Muttersprache Polnisch fließend Hebräisch, Jiddisch, Deutsch sowie Englisch. Sie erinnert sich immer wieder gern an ihre Schulzeit in München zurück. Das Jüdische Komitee, die Interessenvertretung der Shoa-Überlebenden, quartierte die damals 14-Jährige als Untermieterin bei einer deutschen Familie ein. „Ich bezahlte mit Lebensmittel, die mir meine Mutter, sie lebte im Auffanglager Pocking, besorgte. In die Schule bin ich immer mit der Straßenbahn gefahren; ich war glücklich und unabhängig.“


Schülerausweis für das Schuljahr 1947/48

Kurz nach dem Krieg war München das Zentrum der jüdischen Displaced Persons (DPs): In der bayerischen Metropole lebten Tausende zumeist osteuropäische Juden; hier residierte das Zentralkomitee (ZK) der befreiten Juden in der US-Zone, hier war das Hauptquartier der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation AJDC, kurz Joint genannt, und sogar die Jewish Agency hatte ihr Deutschlandbüro in der Stadt. Diese Organisationen waren zumeist in beschlagnahmten Häusern in der Möhlstraße im Ortsteil Bogenhausen untergebracht. Die Trambahn, die in dieses Viertel fuhr, wurde im Volksmund scherzhaft „Palästina-Express“ genannt. Mitten im Herzen des jüdischen München, im Gebäude mit der Hausnummer 45 war die jüdische Volksschule, der Kindergarten und ab Mai 1946 auch das erste hebräische Gymnasium in der Nachkriegszeit untergebracht. Initiiert und später auch geleitet wurde die Oberschule von Baruch Graubard, Mitarbeiter des „Ausschusses für Erziehung und Kultur“ beim ZK der befreiten Juden, der bereits in Polen einem hebräischen Gymnasium als stellvertretender Direktor vorgestanden hatte.

Für die erste weiterführende Schule hatte das „Kulturamt“ ein Curriculum für sechs Klassen ausgearbeitet. Anfangs kamen jedoch nur vier Klassen mit rund 110 Schülern zustande, die in Sport, Musik, Zeichnen, Französisch, Englisch, Geschichte, Geografie, Biologie, Chemie, Physik, Geometrie, Algebra, Arithmetik, Palästinografie, Jüdische Geschichte, Bibel und Hebräisch unterrichtet wurden. Ab 1947 konnten dann die angestrebten sechs Klassen zusammengestellt werden und man erwartete fürs neue Schuljahr sogar eine deutliche Zunahme der Schülerzahl – bis zu 150. „Viele werden von außerhalb München kommen“, prognostizierte ein Joint-Mitarbeiter, „da dies die einzige Oberschule in der US-Zone ist.“ Für diese Schüler mussten Unterkünfte organisiert und dafür Sorge getragen werden, dass sie rechtszeitig zum Unterricht gelangten. Da während der häufigen Stromsperren der öffentliche Nahverkehr nicht funktionierte, stellte der Joint Fahrzeuge für den Transport der Schüler bereit. Ab Januar 1947 half bei der Lösung der vielfältigen Probleme auch ein gewählter Elternbeirat, der sich etwa um zusätzliches Heizmaterial, Kleidung und Nahrungsmittel für Schüler und Lehrer kümmerte.


Yola (1. Reihe, 1. v. r.) und ihre Klassenkameraden mit Lehrerin Frau Epstein (4. v. r.)

Neben einer soliden Ausbildung galt die Vermittlung einer jüdischen Identität als wichtiges Ziel aller DP-Bildungseinrichtungen, wie Baruch Graubard auf einer Lehrerkonferenz eindringlich forderte: „Die Schule muss den Menschen in seiner jüdischen Ganzheit fördern, egal wohin er auswandern will – nach Erez oder in andere Länder.“ Die Mehrheit der jungen Juden war allerdings zionistisch ausgerichtet. Sie träumten von einem zukünftigen Leben im noch zu gründenden eigenen Staat. Auch Yola wollte ursprünglich am Aufbau Israels mitwirken. Doch ihre Mutter entschied sich für Australien, da sie dort Verwandte aufspüren konnte. Ende 1949 machten sich Mutter und Tochter auf den beschwerlichen Weg nach Down Under, wo sie nach einer mehrwöchigen Schiffsreise an Bord der SS Syrenia im Dezember 1949 endlich den Hafen von Melbourne erreichten. Mit dem Zug ging es weiter nach Sydney.

Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 sowie der zunehmenden Liberalisierung der Immigrationsgesetze in den USA und anderer Einwanderungsländer verließen fast alle Juden München. Das hebräische Gymnasium schloss Anfang 1951 endgültig seine Pforten.

© Fotos/Repros: Schneider/jgt-archiv

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