Die Purimfeier in historischer Beleuchtung

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Die vorliegenden allgemeinen Hinweise zum Purim-Fest erschienen 1905 in der Zeitschrift “Ost und West”, die sich als “Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum” verstand und im Kontext der “Jüdischen Renaissance” dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. “Ostjuden” vorstellte. Autor ist der aus Brünn stammende Historiker Dr. Max Steif….

Von Dr. Max Steif
Erschienen in: Ost und West, Heft 3, März 1905

Auch Feste haben ihre Schicksale. Während Chanuka, das schon vermöge des Ortes seiner Entstehung und seiner allumfassenden Bedeutung für die Gesamtjudenheit das Recht für sich hätte beanspruchen dürfen, zu einem grossen National-und Freudenfeste zu werden, im Laufe der Zeit zu einer schlichten, stillen und geräuschlosen Erinnerungsfeier herabgesunken ist, bei der die angezündeten armseligen Lichtlein in einem gar grellen Gegensatze zu den einstigen, heroischen Grosstaten der Makkabäerzeit stehen, hat sich unser Purim schon frühzeitig, und je weiter um so mehr zu einem echten und rechten Fest der Freude par excellence herausgebildet. Mag nun hierzu nicht zum wenigsten der Umstand beigetragen haben, dass das Esther-Buch, dem überdies durch Aufnahme in den Kanon der heiligen Schriften eine besondere Weihe verliehen worden, uns all jene damaligen Geschehnisse in ungleich dramatisch bewegterer Form näher zu bringen weiss, als die apokryph gebliebenen, die historischen Tatsachen ihrer Zeit nur trocken registrierenden Makkabäerbücher es vermögen, so ist, dem Prinzipe des Kontrastes zufolge, auch die jeweilige triste Lage des jüdischen Volkes mit veranlassende Ursache gewesen, dass die Erinnerung an jene Tage mit solch einem Ueberschwang ungebunden fröhlicher Stimmung begangen wurde.

Je niederdrückender und entmutigender die Verhältnisse waren, in die man sich nur allzu oft versetzt sah, um so tröstlicher und herzerhebender musste es sein, sich in eine Zeit zurückversetzen zu können, in der alle feindlichen Anschläge so urplötzlich zuschanden gemacht, den unschuldig Unterdrückten und Verfolgten eine solch glänzende Genugtuung unvermutet zuteil geworden. Man schwelgte förmlich in dieser einen Erinnerung, und die jährliche Wiederkehr derselben warf ihre frohen Lichter schon auf den Beginn des Monats Adar, von dem der Grundsatz sogar als gesetzliche Norm aufgestellt wurde: Mit dem Eintritt dieses Monats soll jeder einer erhöhten Freude sich befleissigen. Es war, als ob man sich an diesem einen Purim schadlos halten wollte für all die sonst verkümmerten und vorenthaltenen Freuden, als ob man den das Jahr über zurückgedrängten Regungen von Frohsinn und munterer Laune wenigstens einmal so recht nach Herzenslust die Zügel schiessen lassen wollte. Schlicht und einfach heisst es zum Schlusse des Estherbuches, dass man „diese Tage feiern möge als Tage des Mahles und der Freude, und Gaben zu schicken einer dem anderen, und Geschenke zu verabreichen an die Dürftigen“.

Und wie hat der liebevoll erfinderische Sinn unserer Altvorderen sie zu einem wahren Volksfeste umzugestalten verstanden! Der wichtigste Teil desselben war zunächst die feierliche Verlesung der Estherrolle am Vorabende des 14. Adar. Die hohe Bedeutsamkeit, die speziell diesem Akte beigemessen wurde, erhellt schon aus der Anzahl gesetzlicher Vorschriften, mit denen man ihn umgab, wie nicht zuletzt daraus, dass ein ganzer Traktat im Talmud, Megillah, sich mit ihm befasst. Selbst das sonst allem anderen vorangestellte Studium der Lehre sollte zurückgesetzt werden, wenn es das Anhören der Megillah in der Synagoge galt, und keiner ohne Ausnahme, weder alt noch jung durfte hierbei fehlen. Daher rührt auch der Brauch, während der Verlesung der Estherrolle gewisse Verse im Chore mitzulesen, weil man die Kinder, die zum Gottesdienste mitgenommen wurden, wach und munter erhalten wollte. Ebenso verdankt das sogenannte Hamanklopfen, das bereits im 12. Jahrhundert üblich war, seinen Ursprung der Rücksichtnahme auf die Kinder. ((Vergl. Güdemann, Gesch. des Erziehungswesens in Frankreich und Deutschland, S. 116.))

Dieses Hamanklopfen, noch heute in manchen orthodoxen Gemeinden nicht ausser Brauch gesetzt, geschah gewöhnlich in der Weise, dass man bei Nennung des Namens Haman auf die Wand schlug oder mit den Füssen stampfte, in welch letzterem Falle gewisse findige Köpfe sogar auf den Einfall gerieten, sich jenen Namen auf die Sohlen zu schreiben, um so gleichsam das Gefühl sich zu suggerieren, als ob sie den alten Erzfeind mit Fusstritten regalierten. Im übrigen war auch anderen Arten des Ausdruckes von Missfallsbezeugungen durch allerlei schrille Töne usw. keinerlei Schranken gezogen. Mit diesem Hamanklopfen bringt die Sage einen Erzbischof von Regensburg in Verbindung, der einst R. Juda Chassid über die Bedeutung desselben befragt haben soll, worauf ihm dieser geantwortet, dass hierdurch dem Haman von seiten der Dämonen in der Hölle dasselbe widerfahre. Und als der Erzbischof sich hiervon überzeugen wollte, habe ihn R. Juda zum Eingang der Hölle geführt, worauf jener nach vorgenommenem Augenschein gesagt haben soll: wenn ich bei euch wäre, würde ich euch im Klopfen helfen.

Ein schon in frühester Zeit auch bei den orientalischen Juden weitverbreitete Sitte war es, einige Tage vor Purim von der männlichen Jugend eine Hamanspuppe anfertigen zu lassen, die am Purimtag unter Sang und Klang auf einem kleinen Scheiterhaufen verbrannt wurde, wobei dieser von den Festgenossen übersprungen wurde. Ausserdem wurden in den Gassen Töpfe zerbrochen, bei welcher Gelegenheit die Stelle aus Jes. 30, 14 hergesagt wurde. Nach einer übrigens wenig glaubwürdigen Quelle ((Socrates hist. eccles. VII. 16, vgl. Grätz IV. B. S. 364.)) soll ein solcher Faschingsscherz im Jahre 415 d. gew. Zeitr. zu einer grausigen Tat geführt haben. In einem syrischen Städtchen hätten die Juden einst einen Hamansgalgen errichtet, in der Trunkenheit einen christlichen Knaben daran angehängt und ihm mit Geisselhieben den Tod gegeben. Dadurch sei ein Kampf zwischen Juden und Christen entstanden, worauf Kaiser Theodosius II. befohlen habe, die Schuldigen der gerechten Strafe zu überantworten. Wer die Geschichte jener Zeit etwas näher kennt, der weiss jedoch, wieviel er von diesem tendenziös gefärbten Berichte zu halten hat.

Besonders lebhaft ist es bei dieser Art der Hamansverbrennung unter den Juden in Italien zugegangen, wo ein südlich lachender Himmel und das überschäumende Wesen im Charakter der andersgläubigen Umgebung nicht ohne gewisse Folgewirkung auf alle Temperamentsäusserungen auch der Juden bleiben konnte. Das Purimtraktat des Kalonymos b. Kalonymos, ein Faschingsscherz, den Gebildeten und Gelehrten gewidmet, der in Form und Methode die talmudische Diskussion aufs köstlichste parodierte, kann hierfür als Quelle gelten, da er ja zumeist nur auf römische Verhältnisse anspielt. Nach ihm stellten sich also die Kinder in Schlachtreihen einander gegenüber und bewarfen sich mit Nüssen, während die Erwachsenen zu Pferde stiegen und mit Tannenzweigen in Händen durch die Strassen ritten, sodann unter Trompetengeschmetter und Posaunenstössen eine auf einem erhöhten Postamente stehende Puppe, die Haman vorstellen sollte, umjubelten und hierauf feierlich verbrannten.

Selbstverständlich gelangte allenthalben, der erhöhten Feierlichkeit des Tages zu Ehren, auch der Magen zu seinem vollen Rechte. Die Mahlzeit war darum, den jeweiligen Verhältnissen entsprechend, eine besonders reichliche. Wir erfahren aus dem eben erwähnten Fastnachtstraktate auch etwas Näheres über ein solches zusammengestelltes Menu, das an Reichhaltigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Es werden da unter anderem aufgezählt: Pasteten, Fische, Turteltauben, Braten von Reh und Hirsch, Gänsen, Enten, Hühnern und Fasanen, ferner Fladen, kleine Torten und Pfefferkuchen. Dass es namentlich auch an Wein nicht fehlen durfte, dafür bürgte jener bekannte talmudische Ausspruch, der es vorschrieb, sich insoweit Vergessenheit anzutrinken, bis man nicht mehr wisse, ob Haman verflucht oder Mordechai gesegnet werde. Dieser Ausspruch, der seiner ganzen Fassung nach doch nur auf das Mildversöhnende im jüdischen Volkscharakter schliessen lässt, dahin zu deuten, als „eine den Hass und den Hochmut predigende Schlemmerei, bei der es darauf ankommt, recht gründlich betrunken zu sein“, ((Paul de Lagarde, Purim, Ein Beitrag z. Gesch. d. Religion. S. 57.)) zeugt, gelinde gesagt, von arger Verkennung und vorsätzlicher Missdeutung seiner Absichten.

Zur Hebung des allgemeinen Frohsinns wurden ferner an diesem Tage allerlei Spiele, die sonst verpönt waren, erlaubt. Bevorzugt war das Spiel Gerade und Ungerade, das Ball-, Kegel-und Nussspiel. ((Vgl. Berliner, Aus d. Leben d. deutschen Juden im Mittelalter.)) Sogar der Tanz wurde am Purim gestattet, wenn auch mit der Einschränkung, dass hierbei eine Sonderung der Geschlechter einzutreten habe, ein Verbot, das jedoch hei den jungen Leuten gewöhnlich wenig Beachtung fand, mochten hervorragende talmudische Autoritäten noch so sehr gegen diese angebliche Unsitte auftreten.

Was aber dem Purimfeste erst seinen eigentlichen, lustig übermütigen Charakter verlieh, das war eine Art Karnevaltreiben unter den verschiedenartigsten Verkleidungen, wobei selbstverständlich der Phantasie der einzelnen der weiteste Spielraum gewährt wurde. Während es sonst gemäss einem biblischen Verbot für unziemlich galt, Frauenkleider anzulegen, drückte man heute ein Auge zu, wenn auch manch überfrommer Sinn auch hier seine Bedenken geltend machte (vgl. Das kleine Buch der Frommen, verfasst im 15. Jahrhundert). In solchem Mummenschanz ist auch der Ursprung der sogenannten Purimspiele zu suchen, obgleich zugegeben werden muss, dass hierbei namentlich bei den deutschen Juden das Beispiel der christlichen Fastnachtsspiele und Karnevalsfeste vorbildlich gewirkt habe. Doch finden diese Spiele erst im 17. Jahrhundert allgemeine Verbreitung. Mit Vorliebe wurde zu diesem Zwecke der Stoff des Estherbuches dramatisch bearbeitet, wobei den Figuren des Haman und Achaschwerosch der lustige Part zufiel. Man geht nicht fehl in der Annahme, wenn man die ersten Ansätze zu solch parodierender Auffassung jener beiden Gestalten schon im Talmud und Midrasch vorgezeichnet finden will. Denn auch dort ist es zumeist ein grotesk-komisches Zerrbild, das uns nach der Darstellung unserer Alten statt des allgewaltigen Staatsministers entgegenblickt. Doch mussten auch andere biblische Sujets, wie die Geschichte Josephs und seiner Brüder, Davids und Goliaths für derartige Schauspielaufführungen herhalten. Zu Mitwirkenden in diesen Stücken gaben sich gerne die Jünger der Jeschibas her.

Im Anfange des 18. Jahrhunderts wurde ein solches Dilettantentheater in Frankfurt a. Main 14 Tage vor und 14 Tage nach Purim zur Aufführung gebracht und erregte solch ungewöhnliches Aufsehen, dass sich nicht nur Juden, sondern auch Christen zu diesen Vorstellungen drängten, und sich die Frankfurter Obrigkeit veranlasst sah, „das fernere Agieren bei 20 Talern Strafe zu verbieten“. ((Vgl. Löw. Lebensalter.))

Solche „Spiele“ erschienen in mehreren Bearbeitungen und wurden auch wiederholt gedruckt. Freilich verraten sie ihrer ganzen Anlage nach auch den verwahrlosten Geschmack, der zu jener Zeit das Theater überhaupt beherrschte. Das „Purimspiel“ hat auch später nichts von seiner allgemeinen Beliebtheit eingebüsst und sich noch heute in vielen Gemeinden Ungarns, Polens und Russlands erhalten. Selbst die Rabbiner erhoben gegen derartige Aufführungen, wobei mitunter in versteckten Anspielungen auch Missbräuche und Uebergriffe der Parnassim (Vorsteher) gebührende Verspottung fanden (z. B. Der falsche Kaschtan von Saphir, 1820), keinerlei Einsprache, ja liessen sogar anderen übermütigen Ausschreitungen, mit denen am Purim oft die Grenzen des Erlaubten überschritten wurden, freien Lauf. Und wenn sogar das vorhin erwähnte, dem Leben so abgewandte und Busse und Entsagung predigende Buch der Frommen es aussprach: „Sei niemals allzu lustig, ausser am Chanuka und Purim, da magst du um Gottes Willen lustig sein“, dann muss es begreiflich erscheinen, wenn sich im Volksmunde das bekannte Sprichwort bilden konnte: Am Purim ist alles frei.