„Das ganze Jahr betrunken und am Purim nüchtern“

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Die vorliegende Purim-Geschichte stammt aus der Feder von Jizchak Leib Perez, der neben Mendele Mocher-Sforim und Scholem Alejchem zu den Gründern der modernen jiddischen Literatur zählt. Perez, 1852 in Zamość geboren, arbeitete zunächst als Rechtsanwalt, während er gleichzeitig in polnisch und hebräisch zu publizieren begann. Erst später schrieb er in jiddisch und wurde zu einem Wortführer der jiddischen Literatur, auch im politischen Bereich. Sein Haus in Warschau, wo Perez 1915 starb, wurde Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Stadt und Treffpunkt junger Schriftsteller und Künstler. Die vorliegende Purim-Geschichte erschien 1917 in deutscher Übersetzung aus dem Jiddischen in der Zeitschrift „Neue jüdische Monatshefte“, die sich als „Sprechsaal für alle Richtungen“ des Judentums verstand. Die Zeitschrift richtete sich außerdem explizit an das nichtjüdische Publikum, um der „Unkenntnis in jüdischen Dingen entgegenzuarbeiten“…

Von J. L. Perez
Deutsch von Alexander Eliasberg
Erschienen in: Neue jüdische Monatshefte, Heft 11 v. 10.3.1917

„Das ganze Jahr betrunken und am Purim nüchtern“. Es ist ein verbreitetes jüdisches Sprichwort; man sollte aber auch wissen, woher es kommt.

In den Tagen des Rabbi Chaim Vital lebte in der Stadt Zfas ein junger Mann, der, auf keinen von uns sei es gesagt, kaum ein Jahr nach seiner Hochzeit Witwer wurde. Gottes Wege sind schwer zu ergründen, und dergleichen kommt ja manchmal vor. Aber der junge Mann glaubte, daß für ihn die Welt untergegangen sei, daß ebenso, wie es am Himmel nur eine Sonne gäbe, seine Frau die einzige Frau auf der Welt gewesen sei. Nun ging er hin, verkaufte seine ganze Habe und übergab den Erlös dem Rektor der Jeschiwah von Zfas mit der Bedingung, daß man ihn in die Jeschiwah aufnehme, ihn dort mit den andern Schülern ernähre und ihm eine eigene Kammer zuweise, wo er in völliger Einsamkeit studieren könnte.

Der Rektor nahm die Schenkung an und ließ auf dem Dachboden der Jeschiwah einen eigenen Bretterverschlag für den jungen Mann bauen und ihm einen Strohsack und ein Waschgeschirr geben. Und der junge Mann ging ans Studium. Außer am Sabbat und an den Feiertagen, wo er bei den Bürgern der Stadt zu Gast geladen war, sah er keinen lebenden Menschen; das Essen für die ganze Woche und das reine Hemd für den Sabbat oder Festtag pflegte ihm der Schuldiener hinaufzubringen. Und wenn der junge Mann seine Schritte auf der Treppe hörte, wandte er sich jedesmal zur Wand und stand, das Gesicht der Wand zugekehrt, bis der Schuldiener wieder hinausgegangen war und die Türe hinter sich verschlossen hatte.

Mit einem Wort — er wurde ein Porusch 1).

Anfangs glaubten die Leute, daß er es nicht lange aushalten würde; er war ja vorher so lebenslustig gewesen. Es verging aber eine Woche, und noch eine Woche, und der Porusch saß noch immer da und studierte. Selbst um Mitternacht hörte man draußen auf der Straße, wie er mit trauriger Stimme lernte, oder man sah ihn am Fensterchen seiner Bodenkammer stehen und zum Himmel emporschauen. Das gefiel den Leuten, und sie fingen zu hoffen an, daß aus dem Porusch dereinst ein Großer im Israel und vielleicht gar ein Kabbalist und Wundertäter werden würde. Man berichtete das auch dem Rabbi Chaim Vital. Er aber schüttelte den Kopf und sagte: „Wenn er es nur aushält …“

Nun geschah ein kleines Wunder. Des Schuldieners Töchterchen, das dem Porusch manchmal das Essen hinaufbrachte, hatte das Verlangen, den Porusch wenigstens einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Was tat sie? Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und trug ihm seinen Brei barfuß hinauf; sie schlich so leise, daß sie ihr eigen Herz klopfen hörte. Nun erschrak sie aber vor ihrem eigenen Herzklopfen, stürzte die Treppe hinunter und war nachher einige Monate krank. In ihrem Fieber erzählte sie die ganze Geschichte, und die Leute glaubten von nun an noch stärker an den Porusch und hofften mit noch größerer Ungeduld, daß er sich als heiliger Mann offenbaren werde.

Auch das berichtete man dem Rabbi Chaim Vital. Er. schüttelte wieder den Kopf, seufzte und sagte: „Wenn er nur die Kraft dazu hat!“ Und als man in ihn drang, daß er diese Worte erkläre, sagte er noch: „Da sein erster Entschluß nicht vom Himmel kam, wird er großen Versuchungen ausgesetzt sein. Daß er nur nicht strauchle …“

Rabbi Chaim Vital pflegte aber nichts so ins Blaue hinein zu sagen!

Einmal sitzt der Porusch, in ein Buch vertieft, in seiner Kammer, als er plötzlich draußen vor der Türe etwas picken hört. Ihn befällt eine Unruhe. Es pickt aber immer weiter und weiter. So erhebt er sich von seinem Platz, vergißt sogar das Buch zuzumachen und öffnet die Türe. Und wie er die Türe öffnet, steht draußen ein Truthahn. Und er läßt den Truthahn ein. Nun kommt ihm der Gedanke, daß es ganz gut wäre, wenigstens eine lebende Seele in seiner Kammer zu haben. Seine Frau pflegte ja Singvögel zu halten . . . Der Truthahn kommt in die Kammer und setzt sich ganz still in einen Winkel. Der Porusch grübelt, was das bedeuten mag, und setzt sich schließlich wieder an sein Buch. Und wie er so sitzt, fällt ihm ein: bald ist ja Purim, und darum hat ihm der Himmel zum Lohn für sein Lernen einen Truthahn geschickt. Was wird er aber mit dem Truthahn anfangen? Wenn ihn jemand zum Purim einlädt — sagt er sich —und vielleicht gar ein armer Mann,so wird er am Vorabend denTruthahn hinschicken und am nächsten Tage auch selbst etwas davon haben. Seitdem seine Frau gestorben war, hatte er noch kein einziges Mal Geflügel gekostet. Und wie er sich das denkt, läuft ihm schon das Wasser im Munde zusammen. Er wirft einen Blick auf den Truthahn und sieht, daß der Truthahn ihn so freundlich anschaut, als ob er seinen Gedanken erraten hätte und sich freute, daß ihm die Gnade bevorstehe, vom Porusch gegessen zu werden. Nun kann sich der Porusch nicht länger beherrschen. Er blickt jeden Augenblick vom Buche weg und schaut den Truthahn an. Und es scheint ihm, daß der Truthahn ihm zulächelt. Er erschrickt ein wenig, hat aber doch ein gewisses Vergnügen daran, daß ein lebendiges Wesen ihm zulächle …

Und ebenso ist es auch beim Minchah- und Abendgebet. Während des Gebets der Achtzehn Segenssprüche kann er sich unmöglich beherrschen und schaut jeden Augenblick zum Truthahn hinüber. Und der Truthahn lächelt ihm immer zu. Plötzlich kommt es dem Porusch vor, als ob er dieses Lächeln schon seit langer Zeit kennte . . . Als ob der Schöpfer der Welt, der ihm seine Frau genommen hatte, ihm ihr liebliches Lächeln geschickt hätte, damit es ihn in seiner Einsamkeit tröste. Und er gewinnt den Truthahn lieb und sagt sich, daß es doch gut wäre, wenn ihn zum Purim ein Reicher einladen würde und der Truthahn am Leben bleiben könnte …

Wie wir später sehen werden, kam ihm dieser Wunsch in einem glücklichen Augenblick. Indessen brachte man ihm, wie jeden Tag, eine Schüssel Brei und ein Stück Brot hinauf. Er wusch sich die Hände und begann zu essen.

Wie er aber das Stück Brot in die Hand nahm, kam der Truthahn aus dem Winkel heraus und fing zu picken an, womit er sagen wollte, daß auch er Hunger habe. Und er stellte sich vor den Tisch. Denkt sich der Porusch: „Soll er nur essen, ich werde daran nicht zugrunde gehen . . .“ Er stellte die Schüssel Brei mit dem Stück Brot auf den Fußboden und der Truthahn begann zu fressen.

Am nächsten Morgen geht der Porusch zum Rektor und sagt ihm, daß er nun einen Kostgänger habe; früher pflegte er immer ein wenig von seinem Brei übrigzulassen; heute sei es ihm aber so, als hätte er davon gar nicht gekostet. Der Rektor sieht sein hungriges Gesicht und sagt, daß er es dem Rabbi Chaim Vital melden werde, damit er zu Gott bete, daß er vom bösen Geist erlöst werde. Indessen werde er Befehl geben, daß man ihm täglich zwei Schüsseln Brei und zwei Stück Brot hinaufbringe, damit es für beide reiche. Als man Rabbi Chaim Vital im Namen des Rektors die Geschichte vom Kostgänger meldete, schüttelte er wieder den Kopf, seufzte und sagte: „Jetzt fängt es erst an!“

Nun bekommt der Porusch doppelte Portionen. Er wird satt, und auch der Truthahn wird satt. Der Truthahn wird sogar fett. Und nach ein paar Wochen gewöhnte sich der Porusch schon so sehr an den Truthahn, daß er jeden Tag zu Gott betete, es möchte ihn doch ein Reicher zum Purim laden, damit er den Truthahn nicht zu opfern brauchte.

Wie gesagt, geschah es nach seinem Wunsch. Einer der reichsten Bürger hatte ihn zum Purim eingeladen. Und da gab es nicht nur Truthahnbraten, sondern auch allerlei andere gute Speisen und Getränke, wie es ein König vermochte. Es kamen auch gute Purimspieler hin, um den Hausherrn mit seiner Familie und alle Gäste, die zu ihm abends nach dem Purimmahl gekommen waren, zu erfreuen. Und unser Porusch war guter Dinge, trank und aß nach Herzenslust; vielleicht trank er sogar mehr als er aß, denn der Wein war süß und würzig und erwärmte ihm das Herz und alle Glieder.

Und plötzlich wurde es ganz anders.

Es begann das Purimspiel von Achaschwerosch und Esther . . . Die Königin Waschti will nicht den Wunsch des Königs erfüllen und vor den Gästen so, wie Gott sie erschaffen hat, erscheinen . . . Und bald darauf findet Esther Gnade in den Augen des Königs . . . Man übergibt sie dem Hüter der Weiber … Sechs Monate wird sie mit Myrrhen gesalbt und sechs Monate mit anderen Spezereien. Und unserm Porusch wurde es plötzlich so heiß in allen Gliedern, und finster vor den Augen, und eng im Herzen. Und in der Finsternis flogen vor seinen Augen rote Bänder und Flammenzungen, und ihn überkam plötzlich eine starke Begier, heimzukehren auf den Dachboden der Jeschiwah, in seine Kammer, in seinen stillen Winkel . . . zum Truthahn . . . Und er konnte es nicht aushalten, sprang noch vor dem Tischgebet auf und lief nach Hause.

Er kommt in seine Kammer, blickt in den Winkel, wo der Truthahn gesessen hatte, und erstarrt: der Truthahn hat sich in ein Weib verwandelt; in ein Weib, so schön von Angesicht, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und er erzittert am ganzen Leib. Und das Weib geht auf ihn zu und umschlingt mit ihren weißen, warmen, bloßen Armen seinen Hals, und der Porusch zittert noch mehr und fängt zu flehen an: „Nur nicht hier, nur nicht hier, es ist eine heilige Stätte, heilige Bücher liegen hier herum.“ Sie flüstert ihm aber ins Ohr, daß sie die Königin von Saba sei, daß sie ganz in der Nähe der Jeschiwah, im hohen Schilf am Flusse, ihren kristallenen Palast habe, den ihr einst König Salomo geschenkt hatte …  Und sie zieht ihn mit, daß er zu ihr in ihren kristallenen Palast mitkomme. Er wankt und geht …

Am nächsten Morgen war der Porusch verschwunden. Als man das Rabbi Chaim Vital hinterbrachte, sagte er, man möchte das Flußufer absuchen. Und man fand ihn mehr tot als lebendig im Schilfe …

Man rief ihn ins Leben zurück, aber von nun an begann er zu trinken …

Und Rabbi Chaim Vital sagte, daß das von seiner großen Sehnsucht nach der Königin von Saba käme; solange er trinke, sehe er sie. Man solle ihm das ganze Jahr das Trinken nicht verwehren, das ganze Jahr mit Ausnahme des Tages von Purim; denn am Purim sei ihr eine große Gewalt über ihn gegeben.

Daher kommt eben das Sprichwort: „Das ganze Jahr betrunken und am Purim nüchtern.“

1) Porusch — wörtlich „Abgesonderter“, ein Mann, der seine Frau verlassen hat und, ohne von ihr geschieden zu sein, als Art Mönch ausschließlich dem Gebet und dem Studium lebt.