Rückblick: Demjanjuk in Israel

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Der mutmaßliche ukrainische Massenmörder aus Treblinka, John Iwan Demjanjuk sollte von den USA nach Deutschland ausgewiesen werden. In letzter Minute verhinderte ein amerikanisches Gericht die Auslieferung…

Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 15. April 2009

Vor 23 Jahren wurde Demjanjuk schon einmal ausgeliefert. Ein israelisches Gericht verurteilte ihn zum Tode. Bei der Revision 1993 befanden die Richter, dass nicht einwandfrei die Identität des Angeklagten mit „Iwan dem Schrecklichen“ aus dem Vernichtungslager Treblinka erwiesen sei. Demjanjuk wurde freigelassen.

Das israelische Presseamt hatte 1986 zum Empfang Demjanjuks auf dem Flughafen jedem Journalisten eine gelbe Ausweiskarte an die Brust geheftet. „Die sieht aus wie der gelbe Fleck, den Juden tragen mussten“, ulkte eine Fotografin. Begleitet von Polizeibeamten verließ Demjanjuk in Handschellen die El Al Boeing.

Elijahu Rosenberg überlebte Treblinka: “Dieser Ukrainer vergnügte sich damit, Menschen zu quälen, vor allem Frauen. Mit einem Dolch stach er den Frauen in die Schenkel und Geschlechtsteile, als sie nackt in die Gaskammern geführt wurden. Ältere Juden, die ihm besonders unsympathisch waren, schnitt er die Nasen oder Ohren ab.“

Die Zelle

Die gelbe Farbe im Sondertrakt des Ayalon-Gefängnisses bei Ramle stinkt frisch. In seiner Zelle – 3 mal 3,5 Meter groß – steht ein einfaches Bett, ein winziger Holzstuhl, ein Tisch und ein Waschbecken. Auf seinem Bett liegen drei graue Wolldecken, orangefarbene Hemden und braune Hosen. Alles ist mit den hebräischen Buchstaben für „Gefängnis“ gekennzeichnet. Ebenso Strümpfe der Größe 12, billige schwarze Schuhe und Plastik-Pantoffeln in Originalverpackung. In einem Stacheldraht bewehrten Innenhof kann er 12 Schritte in eine und 8 Schritte in die andere Richtung gehen. Der Nazi-Mörder Adolf Eichmann saß in diesem Gefängnis bis zu seiner Hinrichtung 1963.

Reaktionen

Demjanjuks Prozess entspreche dem Bestreben nach “absoluter Gerechtigkeit“, sagt Außenminister Jitzchak Shamir. Professor Yehoschua Arieli meint: “Diese Art von Tribunal ist ungeeignet, das seelische Gleichgewicht der israelischen Gesellschaft wiederherzustellen.“ Professor Yeschaja Leibowitz argwöhnt: “Die Regierung bringt Demaniuk her, um die Bevölkerung von Israel ihre Probleme vergessen zu lassen.“ Beim Holocaust-überlebenden Naftali Lavi klingt Rache heraus: “Das jüdische Volk soll das Privileg genießen, über einen Mann Recht zu sprechen, der Juden ermordet hat.“

Der Prozess

Am 3. März 1987 sitzt Premierminister Schamir im überfüllten Gerichtssaal und blickt auf den Angeklagten. Der amerikanische Verteidiger, Marc O’Connor, fragt den Zeugen Elijahu Rosenberg, ob er den nackten Menschen auf ihrem Weg zur Gaskammer geholfen habe. O’Connor hatte die delikateste aller Fragen gestellt: Was haben Juden getan, um den Massentod im Holocaust zu verhindern? Warum verdingten sie sich als Leichenträger der Nazi-Mörder? Ohne sie hätte der industrielle Genozid nicht „funktioniert“. Rosenberg hatte als „Totenjude“ die Aufgabe, die Leichen der frisch ermordeten Menschen aus den Gaskammern herauszuholen und in Verbrennungsgruben zu werfen. „Weil Babies besser brennen, dienten sie als Zündstoff bei der Verbrennung der Erwachsenen-Leichen.“ Iwan der Schreckliche hätte ihn lebendigen Leibes in eine blutgefüllte Grube geworfen, wenn er den Menschen in der sogenannten „Himmelsstrasse“ auf ihrem Todesgang geholfen hätte. „Ata Schakran,“ (Du bist ein Lügner) murmelt Demjanjuk auf Hebräisch. Es klang, als habe er sich verraten. Demjanjuk hat im Ramle-Gefaengnis ein wenig Hebräisch gelernt.

Das Publikum

Das Publikum besteht zur Hälfte aus frommen Juden und auffällig vielen Jugendlichen orientalischer Herkunft. „Es waren unsere Brüder, unser Volk, das von den Nazis umgebracht worden ist.“ Die aus Marokko stammende Vered, 16, fragt, ob es „gerecht ist, einen Mann vierzig Jahre nach begangenen Verbrechen, abzuurteilen“. Ihr kurdischer Freund Offer, 18, meint, dass es schade um das Geld sei, das Israel in diesen Prozess stecke. Nachdem der angeklagte John Demjanjuk von Überlebenden „eindeutig“ als „Iwan den Schreckliche“ wiedererkannt worden sei, hätte man ihm einen „kurzen Prozess“ machen und aufhängen sollen.

In der Montur ultraorthoxer Juden war Zvi, 24 erschienen. Zvi’s Vater war der einzige Überlebende seiner Familie. „Seit Prozessbeginn hat sich mein Vater geöffnet. Er erzählt seine eigenen Erlebnisse.“ Der Holocaust sei „eine Strafe Gottes für das jüdische Volk“ gewesen sei. Durch Mischehen mit „Gojim“ (Nicht-Juden) hätten sich die Juden versündigt. „Stünde Demjanjuk vor einem rabbinischen Gericht, hätte er keine Todesstrafe zu erwarten, denn die jüdische Religion kennt keine Rache. Gott wird das Blut der Unschuldigen rächen.“

Kritik an dem Verteidiger

Oberrichter Levin kritisiert: „Herr O’Connor, ich weiß zwar, dass alle Ihre Fragen äußerst wichtig sind. Vielleicht könnten Sie die unwichtigen Fragen streichen, damit wir schneller vorankommen.“ O’Connor schwebt noch mit fliegendem Talar wie ein Advokat aus amerikanischen Filmen über die Jerusalemer Bühne. Der barsche Ton des Richters schreckt ihn kurz auf. Mit einer elegant gespielten Fingerbewegung drückt er sich den Kopfhörer aufs Ohr, durch das ihm mit einer gewissen Zeitverschiebung der Dolmetscher die hebräische Bemerkung des Richters ins Englische überträgt. O’Connor hält kurz inne, lächelt, zuckt mit den Augenbrauen und sagt dann dem Richter: „Hochwuerdiges Gericht, danke fuer die Erleuchtung. Sie wissen, dass wir dieses hochwürdige Gericht hoch einschätzen und ihm niemals widersprechen. Ihre Weisheit ist großartig, und wir würden es keinesfalls wagen, anderer Meinung zu sein, aber haben Sie, hochgeehrtes Tribunal, bitte Verständnis für die Bedeutung meiner Fragen…“

Grotesk ist auch das Thema des Prozesses. Es geht nicht um die Schuld oder Unschuld des Angeklagten, im Vernichtungslager Treblinka jüdische Opfer geschlagen, verstümmelt und ermordet zu haben. Die Verbrechen von „Iwan dem Schrecklichen“ hat die Verteidigung schon am ersten Tag eingestanden. Es geht allein um die Frage, ob der Mann auf der Anklagebank mit „Iwan dem Schrecklichen“ identisch ist. Wochenlang geht es um die Echtheit eines Dienstausweises gewissen Demjanjuk. Laut Verteidigung sei das Dokument eine KGB-Fälschung.

Edna Robertson, eine ältliche Amerikanerin mit toupiertem Haar und enervierendem texanischen Akzent, wird als erste Expertin der Verteidigung in den Zeugenstand gerufen, um den Dienstausweis „in Stücke zu reißen“. Was kam, war eine erbärmliche Mischung von Dilettantismus, Hochstaplerei und Naivität. Punkt für Punkt offenbarte Staatsanwalt Michael Shaked die Blößen der alten Dame. Robertson begründete die Fälschung mit Rostflecken, Knicken, Druckfehlern und Verfärbungen der Stempel. Kleinlaut gestand sie, dass sie von Chemie, Papier oder Tintenverfärbung nichts verstehe. Anstatt winzige Proben des Originalausweises aus dem Jahr 1942 zu verlangen, habe sie (amerikanisches) „Butterbrotpapier von Schulkindern“ aus dem Laden nebenan in ihrem Dorf in Florida benutzt, „weil es ganz ähnlich aussah“. Zur Frage, ob die angeblichen KGB-Fälscher das Ausweisphoto mit Lösemittel entfernt hätten, erklärte Shaked der alten Dame den Zusammenhang zwischen Nagellack und Azeton. Sie zeigte ihre Fingernägel und raunte mit verzerrter Miene: „So was benutze ich nicht.“ Die alte Dame rechtfertigte ihr „Expertentum“ mit Lektüre in Enzyklopädien, dem Besuch in einer Papierfabrik und mit ihrem „gesunden Menschenverstand“. Oberrichter Levin wurde ungehalten: Einen solchen „Quatsch“ lasse er sich nicht bieten.

Demjanjuks Leben

„Haben Sie in der russischen Armee einen Rang erhalten,“ fragt Verteidiger John Gill. Demjanjuk stockt, denkt nach und sagt: „Ich habe die Frage nicht verstanden.“ Oberrichter Dov Levin rät: „Könnte der Verteidiger die Frage so stellen, dass der Angeklagte sie auch versteht?“ Neun Jahre ist Demjanjuk zur Schule gegangen, hat aber nur vier Schuljahre geschafft. Im Winter musste er oft schwänzen, wenn sein Vater ausging: „Mein Vater und ich teilten uns ein einziges Paar Schuhe.“ Nach 30 Jahren in den USA lernte er nicht einmal genügend Englisch, um alleine im Supermarkt einzukaufen. „Ich war gezwungen, Mitglied der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol zu werden, wurde aber abgewiesen, weil ich keine Unterhosen besaß.“

Demjanjuk erzählt, dass es keinerlei Religionsunterricht gegeben habe. „Religion war in der Sowjet Union verboten. Mein Vater hat mir nichts über Gott erzählt, denn wenn er das Gegenteil von dem erzählt hätte, was in der Schule gesagt wurde, wäre er verhaftet worden.“ Demjanjuk wuchs während Stalins Agrarreform auf. „Es herrschte eine große Hungersnot in der Ukraine. Man nahm den Bauern alles weg, was sie besaßen. Die Leichen lagen überall herum. Niemand begrub sie.“ Demjanjuk habe als junger Mann Ratten, Mäuse, Hunde und Vögel gegessen. „Sogar unsere Hauskatze habe ich aufgegessen, um zu überleben.“

© Ulrich W. Sahm / haGalil.com