NS in Bayern: Unterdrückte Ursprünge

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Wie die bayerischen Wurzeln des NS von der offiziellen Geschichtsschreibung unterschlagen werden…

Von Robert Schlickewitz, 03-2009, 1. Teil

Der vom deutschen Nationalsozialismus verursachte Völkermord stellt nach Meinung anerkannter Fachleute den schlimmsten „Zivilisationsbruch“ der Geschichte der Neuzeit bzw. sogar der ganzen Menschheitsgeschichte dar. Die Ablehnung des Nationalsozialismus gehört heute zum nationalen und auch weitgehend internationalen Konsens.

Wer sich mit dem Nationalsozialismus ernsthaft auseinandersetzt, egal ob als Historiker oder Laie, stößt früher oder später auf dessen geografischen Ausgangspunkt und auf dessen Protagonisten, die in ihrer Mehrzahl ebenso aus einer ganz bestimmten deutschen Region stammen. Befragt man jedoch Bürger (verschiedener Berufs- und Altersgruppen) aus dieser speziellen Region, aus diesem Bundesland, heute, nach den Ursprüngen des Nationalsozialismus, so erhält man zumeist falsche oder gar keine Antworten.

Wie ist so etwas zu erklären?

Immerhin geben sich doch Politik und Medien seit spätestens den 1960er Jahren intensiv Mühe um die Aufklärung eines möglichst großen Teils der deutschen Bevölkerung über das sog. „Dritte Reich“.
Wie also ist es möglich, dass nur eine Minderheit von uns Bayern darüber Auskunft erteilen kann, dass „Thulegesellschaft“, NSDAP, SA, SS zuallererst in unserer ‚weißblauen‘ Mitte entstanden sind, dass das oberbayerische KZ Dachau das ‚dienstälteste‘ Konzentrationslager der zwölf Jahre Nazidiktatur war, dass schließlich ein Großteil der Führungsriege der braunen Ideologie und Politik entweder aus Bayern stammte oder zumindest teilweise bayerischer Abkunft war (Hitler, Göring, Himmler, Hess, Frank, Mengele, Epp, Feder, Forster, Gürtner, Jodl, Röhm, Sauckel, Strasser, Streicher, Dietl, Dirlewanger etc.)?

Wir Bayern wurden anscheinend über unser braunes Erbe niemals richtig informiert.

Heißt das, dass bayerische Geschichtsbücher bis in die Gegenwart die bayerischen Wurzeln des NS ausklammern?

Schlimmer noch, sie verbergen sie absichtlich – teilweise vermittels ganz abenteuerlicher Wort- und Satzkonstruktionen, teilweise mit anderen ‚ganz legalen‘ Tricks. Bayerische Historiker verdienen geradezu einen Meistertitel für diese handwerklichen Fähigkeiten, weniger freilich für ihre didaktisch-pädagogischen Talente.

Man könnte über diese Bildungsvermittlungsdefizite, nein, nicht hinwegsehen, aber den Kopf schütteln und zur Tagesordnung übergehen, wenn nicht 1983 die rechtsradikalen REP’s in München entstanden wären, gefolgt von der DVU (ebenda, 1987), wenn nicht bereits in den 1980er Jahren seriöse Studien festgestellt hätten, dass Bayern das Zentrum des bundesdeutschen Neonazismus geworden war, wenn nicht 2008 die (nicht in Bayern entstandene) NPD ihre meisten Mitglieder und Sympathisanten in unserem Freistaat zählte und wenn ferner renommierte Institute (Friedr.-Ebert-Stiftung) bei repräsentativen Umfragen 2006 zur Erkenntnis gekommen wären, dass Bayern bundesweit die meisten NS-Verharmloser, die meisten Antisemiten und die meisten Fremdenfeinde aufwies (die allerneueste Erhebung von 2008 bestätigte diese Resultate im Wesentlichen).

Grund genug demnach, alle, die guten Willens sind, aufzurufen sich noch besser zu informieren und höchstselbst bei der Aufklärung unserer Landsleute gerade über die bayerische NS-Vorgeschichte und andere bisher so gerne als ‚unpopulär‘ abgetane Zusammenhänge beizutragen.

In lockerer Folge sollen an dieser Stelle Bücher zur bayerischen Landesgeschichte seit 1945 auf ihre Behandlung der bayerischen Ursprünge des Nationalsozialismus hin untersucht bzw. weitere Informationen zu deren Verbreitung und zu ihren Autoren gegeben werden.

Teil 1: Karl Bosl und seine „Bayerische Geschichte“

Den Anfang macht der Historiker-Vater einer ganzen Generation von Geschichtsschreibern des Freistaates, der lange Zeit hoch angesehene Karl Bosl und seine „Bayerische Geschichte“.

Karl Bosl, Bayerische Geschichte, München 1971/1974 (12, Tsd.)

Bosl stammte aus dem in der Oberpfalz gelegenen Cham (geb. 1908); er war zunächst als Studienrat tätig, wurde im Mai 1933 NSDAP- und später NS-Lehrerbund-Mitglied. Ab 1935 arbeitete er an der Landesleitung Süd des „Bundes Deutscher Osten“ und erwarb sich dabei frühe Verdienste, wie aus dem Meyers Lexikon hervorgeht: „Vertritt die Grundsätze der nationalsozialistischen Volkstumspolitik“. Nach Promotion in München setzte er seine Karriere mit einem Forschungsauftrag in Heinrich Himmlers SS-Ahnenerbe-Projekt „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ fort; 1947 folgte seine Habilitation und 1953 übernahm er den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte und Landesgeschichte in Würzburg. 1960-1977 stand er in gleicher Funktion dem Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte der Univ. München voran; darüberhinaus berief man ihn zum Vorsitzenden der Kommission für Landesgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bosl war Autor, Koautor und Herausgeber zahlreicher Aufsätze, Bücher und Nachschlagewerke; er erhielt auch internationale hohe Auszeichnungen.
(Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2007)

Sowohl Meyers Enzyklopädisches Lexikon (9. Aufl., 1972) als auch die neueste Brockhaus Enzyklopädie (21. Aufl., 2006) würdigen sein Lebenswerk. Bosl starb 1993 in München.

Seine „Bayerische Geschichte“, die 1971 erstmals erschien und bis 1976 eine Auflage von mindestens 20 000 Exemplaren erzielte, gliederte er in vier Teile, wobei, seinem Hauptbetätigungsfeld gemäß, Mittelalter und früher Neuzeit besondere Aufmerksamkeit zuteil wurden. Spätere veränderte Auflagen sind nicht Gegenstand dieser Betrachtung.

Den hier interessierenden Zeitraum, die Jahre ab der Jahrhundertwende, ‚verwebt‘ der Historiker zu einem bunten Teppich aus Informationen zu Kultur, Religion, Politik, illustren Namen, Einblicken in soziale und ideologiegebundene Denkweisen und Verhaltensmuster. Angaben zu NSDAP, Hitler und dem Nationalsozialismus tauchen kometengleich darin auf, um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Bosl, der die Jahre 1890 bis 1933 auf zehn Seiten (von insgesamt 265 Textseiten) abhandelt und jedwede Hintergründe oder Hinweise zum Entstehens des NS übergeht, vollbringt zudem das Kunststück die Jahre 1933 bis 1945 vollständig auszublenden, mit der fragwürdigen Begründung: „Seit dem Jahre 1933 aber hatte Bayern aufgehört eine eigene Staatspersönlichkeit zu sein, es hatte keine Geschichte mehr.“
Der Genozid an den Juden ist Bosl gerade einen Satz wert („In Nürnberg und München ging man unmenschlich gegen die Juden vor“). Etwas ausführlicher schildert er hingegen den bayerischen Widerstand und besonders erwähnenswert erscheint ihm: „Dieser letzte Papst (Pius XII.) alter, absolutistischer Kirchenautorität war durch alle Zeiten ein besonderer Freund der Deutschen.“

Der Schlussteil des Buches, („Das zeitgenössische Bayern nach 1945. Eine Einführung“), besteht im Wesentlichen aus kurzen Beschreibungen des Neubeginns und der Schwierigkeiten Bayerns seine Autonomie zu wahren. Besondere Sorgen bereiten Bosl sichtlich Überfremdungstendenzen oder das, was er dafür hält („Die Ausmaße und die Fremdeinflüsse des Prozesses (der Strukturveränderungen) haben sich bedeutsam erweitert. Die Zukunft wird zeigen, ob es noch eine individuelle bayerische Geschichte und ein besonderes bayerisches Menschsein geben kann und wird.“).

Bosl ist nicht in der Lage deutsche Schuld oder jedweden verwandten Gedanken aufzugreifen oder gar zu reflektieren. Entweder steht ihm seine eigene Verwicklung in die NS-Politik im Weg oder er verdrängt aus nationaler Eigenverliebtheit. Seine „Bayerische Geschichte“ wendet sich eindeutig ausschließlich an seine, die Erlebnisgeneration, eine Generation, die ‚alles‘ selbst miterlebt hat, einsehen musste, dass sie ‚nichts‘ ändern konnte und die nun lieber ‚darüber‘ schweigt.

An eine Jugend, die vielleicht Fragen stellen könnte, hat er bei der Abfassung seines Buches definitiv nicht gedacht.

1 Kommentar

  1. Das war mir auch schon aufgefallen, dass die Bezüge zu Bayern in den diversen Geschichtsbüchern, auch solchen zur deutschen Geschichte, fast stets unter den Tisch gefallen waren.
    Man wollte wohl vermeiden die Bayern zu den „worst guys“ zu stempeln. Allerdings schadete man sich damit nur selbst, wie das Fortleben bayerisch-nazistischer Strukturen bis in die Gegenwart gezeigt hat – denn, keiner in Bayern musste sich die ganze Zeit über letztendlich verantwortlich fühlen – im Zweifelsfall waren es die bösen Preußen und der „Österreicher“ Hitler, nirgends stand ja etwas Gegenteiliges zu lesen.
    Und die übrigen Deutschen hielten sich für unschuldig, weil sie sich noch gut daran erinnern konnten, dass die braune Politreligion einst aus München hochgekocht war.
    Ha, das ist es! – Die Megalüge der Deutschen. Eine Lebenslüge, die sich über Generationen bewährt hat und an der alle festhalten. Am Ende muss sich tatsächlich keiner wirklich schuldig fühlen.

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