Aus dem Archiv – zum 95. Geburtstag von Peggy Parnass
Das Gespräch mit Peggy Parnass fand aus Anlass der Premiere des Films »Überstunden am Leben« in Parnass’ Wohnung im Hamburger Stadtteil St. Georg statt. Das Filmporträt gibt einen Einblick in ihre Arbeit und ihr Leben als Gerichtsreporterin, Schauspielerin, Frauenbewegte und Friedensaktivistin. Ihre Eltern Simon Pudl und Hertha Parnass wurden von den Nazis in Treblinka ermordet. Wie fast alle ihrer Verwandten. 1939 wurden Peggy Parnass und ihr Bruder Gady mit einem Kindertransport nach Schweden geschickt und überlebten so die Shoah.
Ein Interview von Gaston Kirsche
Wie geht es Dir?
Unterschiedlich. Im Moment ganz gut, ich freue mich auf das Interview und dich zu sehen. Ich wusste ja gar nicht mehr wie du aussiehst. Ich mag deine Mutter sehr gerne, kenne deine Eltern zwar nicht mehr so gut, aber immerhin.
Schreibst du gerade an einem Text, beschäftigt dich gerade etwas besonders?
Ja, immer mal wieder abrupt, für Demos. Ich reagiere nicht mehr schreibend, dafür aber deutlich sprechend. Alles, was von mir veröffentlicht ist, hat irgendjemand getippt. Nicht eine Person, viele Unterschiedliche. Ich selbst kann mit Technik überhaupt nicht umgehen, habe weder einen Computer noch Internet. Wenn Leute jetzt was von mir haben wollen, dann müssen sie das mitschreiben oder aufnehmen oder sonst wie. Das sind dann vor allem Texte für politische Veranstaltungen. Texte, die Andere dann auf Demos vortragen können. Ganz spontan, was mir dann gerade durch den Kopf geht, unvorbereitet.
Zum Beispiel für Proteste gegen Abschiebungen habe ich mal was von Dir gehört.
Ja, für Alle, auch für Sinti und Roma habe ich einmal eine große Demonstration angeführt und gesprochen. Also immer da, wo es gerade brennt. Das ist unverändert, das war immer so.
Was auch deinen Büchern anzumerken ist, etwa dem Band ‚Prozesse‘. 17 Jahre lang warst Du Gerichtsreporterin für Konkret. Du machst auch Lesungen, wie jetzt im Hamburger Schauspielhaus?
Ja, im Moment mit dem tollen Schauspieler vom Schauspielhaus Michael Weber, zum dritten Mal. Immer ausverkauft! Michael Weber war vorher mit den ganzen Büchern von mir vier Tage in London, hat alles gelesen und entschieden, was er lesen will. Die ganze Lesung war seine Idee.
Was für Texte hat Michael Weber ausgesucht, Prozessberichte?
Ja, auch, es sind ein Haufen Bücher, viele Texte. Ich schreibe ja keine Romane, ich erfinde ja nichts. Ich würde nie einen Roman schreiben. Ich finde das Leben dermaßen aufregend und spannend, das ist gar nicht zu überbieten durch irgendwelche Phantasien. Es geht um sehr reale Dinge, die aber natürlich durch meinen Kopf gehen und durch meine Gefühle gehen – ich beschreibe ja nicht kommentarlos. Michael Weber hat gelesen was er gerne lesen wollte.
Davor, vor drei Jahren habe ich mit Burghart Klaußner Abende gemacht, Im Polittbüro und in den Kammerspielen. Da hat er Texte von mir für sich zum Lesen ausgesucht. Er wollte die weichen Texte lesen, ich die Harten. Wir haben beide gelesen an diesen Abenden.
Das war etwas ganz anderes als mit Michi Weber, weil Burghart sein ganzes Gefühl rein legt beim Vorlesen. Er ist grandios, er ist brillant. Der liest meine Texte so, dass sie für mich neu sind. Unglaublich. Michi Weber ist ein guter Schauspieler, der auch gut liest, aber nüchtern. Das ist etwas anderes. Aber ich habe mich darauf gefreut, es noch einmal mit ihm zu machen.
Was sind harte, was sind weiche Texte?
Die Weichen sind die Liebevollen. In den Weichen habe ich auch über Andere erzählt. Über Menschen, die mir etwas bedeuten. Zum Beispiel über Tante Flora und Onkel Rudi. Sie hat zwei Jahre Auschwitz, er zwei Jahre Buchenwald überlebt. Jetzt ist die Straße neben unserer alten Schule, die war in der Karolinenstraße 35, in Flora-Neumann-Straße umbenannt worden. Sie hat das leider nicht mehr erlebt, es hätte sie sicher sehr gewundert.
(Ein Telefonklingeln unterbricht sie: Ja? Hallo Shlomith! Ein Anruf der Schwägerin aus einem Kibbuz in Israel, wo sie mit Peggys Bruder Gady lebt. Peggy zieht nach Beendigung des Telefonates Fotos aus einem Papierstapel neben dem Kopfende ihres Bettes.)
Guck mal hier, das ist Gady, mein Bruder. Und das ist Kim, mein Sohn. Beide haben schwarzhaarige Eltern und selber jede Menge hellblonde Locken. Hier ist Gady mit mir im Schwurgericht bei einem Prozessbesuch.
Du hast gefragt wie es mir geht. Ich bin wacklig, habe mir vor zwei Jahren den Lendenwirbel gebrochen. Aus lauter Leichtsinn und Übermut. Seitdem habe ich Schwierigkeiten. Nachher schmeiße ich Schmerzmittel ein, weil ich dann in die Stadt will.
Das heißt du bist eingeschränkt.
Ja, das schon. Aber ich habe jetzt eine Menge Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Filmcollage. Zwei nette junge Männer, die ich vorher gar nicht kannte, vom Medienpädagogischen Zentrum mpz, haben eine Lesung gefilmt. Da war ich gar nicht erpicht drauf, ich hatte wieder ein paar Nächte nicht geschlafen. Und die Beleuchtung im Schauspielhaus war so etwas von grauenhaft, eiskalt. Das soll festgehalten werden? Oh, wie furchtbar!
Aber ich weiß nicht wie, sie haben es toll gemacht, es ist ein tolles Filmdokument geworden, von Michi Weber und mir. Hast Du das auch gesehen?
Davon ist ja ein Ausschnitt in dem Film „Überstunden an Leben“ über Dich drin.
Von dem ganzen Abend habe ich sogar Kopien, wenn du hinter das Bett gehst, in die große Kiste dort, und es hoch holst, kannst du eine Kopie haben. Das haben sie toll gemacht. Dann kamen sie auf die Idee, mehr zu machen. Dann habe ich denen alle Filme gegeben, die ich hatte, weil Peter Alexa vom Filmclub in der Hafenstraße die mir empfohlen hat: Das mpz habe ein tolles Filmarchiv. Und jetzt haben die alle Filme, die ich noch hatte, in denen ich mitgespielt habe, auch viele Mitschnitte von Talkshows, bei denen ich mit diskutiert habe. So sind sie auf die Idee gekommen, eine Filmcollage über mein Leben zu machen. Als Ausgangsmaterial hatten sie viele Interviews, die ich gegeben habe, die ich hier in einer Ecke gestapelt hatte, Texte, auch Fernsehaufnahmen. Das haben sie selber zusammen gekramt, aufgehoben vom Fußboden und mitgenommen. Und dann einen sehr schönen Film gemacht.
Erst war ich skeptisch, habe ihn auch erst gesehen, als er fertig war. Aber der Film ist toll geworden.
Finde ich auch, der Film lebt von deinen klaren Aussagen, von deiner Präsenz vor der Kamera.
Ich rede ja nie drumherum, dafür ist mir das Leben zu kurz, sondern: direkt und gerade.
Eine Stelle die mich beeindruckt hat ist ein Auszug aus einer Talkshow, wo du inmitten von Offizieren der Bundeswehr sitzt und für Pazifismus eintrittst…
Das vergesse ich nie! Da hatten sogenannte Feministinnen Werbung dafür gemacht, dass Frauen Soldatinnen werden können, im Namen der Gleichberechtigung. Ich will auch Gleichberechtigung. Aber nicht Frauen rein in die Armee, sondern Männer raus. Die Anderen haben leider gewonnen.
Und da gab es diesen Fernsehabend, mit lauter schicken jungen Mädchen, kleinen Jungs, alle in Uniform, und so fand die Debatte statt. Es freut mich sehr, dass dies im Film mit drin ist, den die Beiden gemacht haben, Jürgen Kinter und Gerhard Brockmann.
Das war ein schrecklicher Abend, die haben mich so was von niedergemacht und ausgelacht, zum Teil. Ich bin sehr froh, dass das in dem Film drin ist.
Du bist aber im Film auch zu sehen, wie du eine Demonstration gegen die Beteiligung von Frauen an der Bundeswehr anführst.
Ja, überhaupt gegen die Bundeswehr.
Du hast schon als Kind die Nazis erlebt?
Ja, da war schon alles klar. Es war kein Geheimnis, dass sie uns umbringen wollten.
Für Juden war Vieles verboten. In einem Text beschreibst du, wie ihr als Familie in ein Schwimmbad gegangen seit.
Alles, alles was wir machten war verboten. Meine süße kleine Mutti, die hat Vieles gemacht, weil sie wollte, dass wir auch Spaß haben. Dabei wusste sie, dass es schlimme Folgen haben würde, wenn wir erwischt worden wären. Wir durften gar nichts: nicht ins Kino, nicht in Schwimmbäder, nicht ins Theater. Wir durften nicht auf einer Parkbank sitzen; das war für Juden und Hunde verboten. Wir durften überhaupt nichts.
Da war eine lange Schlange, wir kamen gut durch, haben schön gebadet. Aber als wir drin waren, wussten wir auch: wir müssen hier ja wieder raus. Und Mutti war als Jüdin zu erkennen mit ihren schwarzen Locken. Ja, mit ihren schönen großen Augen, ihrem schönen Mund, mit vollen Lippen.
Da war die Angst, die wahnsinnige Angst. Wir durften auch nicht Eis essen. Da kam immer der Eiswagen: „Eis, Eis!“, Klingelingeling. Da haben wir Eis geholt, in einer Waffel, einer Doppelwaffel; unten eine Waffel, dazwischen Eis, drüber auch eine Waffel. Wunderbar, aber das war natürlich auch verboten. Sie hat es trotzdem gemacht, damit wir Eis essen konnten.
Dann kam die Trennung..
Für sie muss das die absolute Hölle gewesen sein. Ihre einzigen Kinder, der vierjährige Junge, der blonde Lockenkopf, und ich. An mir hatte sie keine Freude, ich habe immer gekotzt, nach jeder Mahlzeit. Ich konnte nicht Essen und war sehr ernst. Es gibt keine Kinderfotos von mir, auf denen ich lache oder lächele – es gab ja gar nichts zu Lachen. Das kam erst später, dann hatte ich eine wilde und fröhliche Zeit, viel später. Da habe ich dann drauf los gelebt wie verrückt, aber Jahrzehnte später.
Ihr Kinder seid dann nach Schweden geflüchtet?
Sie hat uns in den Zug gesetzt und so getan als wäre das eine Ferienreise, und in einem halben Jahr würde sie nachkommen. Ich wusste, sie kann nicht nachkommen. In Schweden habe ich dann noch etwas versucht. Ich bin zum König gegangen, weil ich dachte, der hat hier das Sagen. Bis zu einem Adjutanten habe ich mich vorgeschrien und vorgeheult. Keiner wollte mir glauben, was in Deutschland los ist, ich habe es denen erzählt: Dass sie meine Eltern retten müssen, weil die sonst umgebracht werden. Schreckliche Phantasien hat das Kind, dachten die. Aber irgendetwas ist durch gedrungen, sie haben sich immerhin an meinen Vormund gewandt. Die dachten erst, der hätte mich geschickt, aber der hatte keine Ahnung.
Später, als ich erwachsen war, haben mich Leute angesprochen: Bist du nicht das Kind, damals mit dem kleinen Bruder, das zum König gegangen ist? Das sah einen Moment so aus, weil das so unerwartet und ungewöhnlich war, dass sie sich tatsächlich einsetzen wollten. Aber dann brach der Krieg aus, das war genau da, zu dem Zeitpunkt. Da ging gar nichts mehr.
Mein Vater war sowieso schon weg, der war ja mit dem Polentransport weggeschickt worden.
Nur noch eure Mutter war mit euch in Hamburg?
Ja, und ihre Schwester mit ihrer Familie. Ja. Da lebten die ja alle noch. Pudl, unser Vater, hatte eine riesengroße Familie. Die waren zwölf Kinder. Alle umgebracht. Über 100 Verwandte von mir wurden vergast, erschossen, von den Nazis ermordet. Die Geschwister von meinem Vater habe ich gar nicht kennenlernen können, die lebten in Wien. Kamen aus Polen, Tarnopol. Sind nach Wien ausgewandert, vor langer Zeit. Alle umgebracht. Bis auf einen Onkel, der ist nach London ausgewandert, weit vor dem Krieg schon. Bei dem haben wir dann auch zusammen drei Jahre in London gelebt. Gady, mein Bruder, blieb in London. Wir waren staatenlos geboren. Eine einzige Scheiße, so wie für die, die jetzt herkommen, keine Nationalität haben, oder sich nicht ausweisen konnten. Wir waren immer überall illegal, hatten gar keine Rechte, gar nichts. Als Kind nannten wir ihn Bübchen, jetzt heißt er Gady. Gady hat jetzt zwei Nationalitäten, er ist Engländer und Israeli. Und ich habe eine ergaunert, ich bin Schwedin. Das hat das Leben sehr vereinfacht. Aber vorher war es schwer.
Wann bist du schwedische Staatsbürgerin geworden?
Danach.
Nach Ende des Krieges?
Ja. Lange danach. Aus London bin ich zurück nach Schweden, in der Zeit. Da habe ich immer jemanden zum Heiraten gesucht. Einer hat mich angezeigt bei den Behörden, weil mich weigerte, mit ihm zu schlafen. Ich sei eine Abenteurerin, die eine Scheinehe eingehen will. Dadurch wurde alles sehr kompliziert. Dann half mir aber ein Kollege. Ich schrieb damals für die kommunistische Tageszeitung. Ich schrieb Filmkritiken. Filme waren mir wichtig. Dadurch konnte ich immer gratis ins Kino. Und die Straßenbahnfahrt haben die ersetzt. Ansonsten hatten die kein Geld dafür. Die Zeitung hieß Ny Dag, Neuer Tag. Der Kollege war der Musikkritiker bei der Zeitung, und sah, dass nichts klappte: Einer holte seinen Großvater zum Heiraten aus dem Altersheim, aber der starb dann schlagartig, bevor es zu einer Heirat kam. Alles ging schief, da meinte der Kollege: Das kann ich doch machen. Er fand das sehr praktisch, denn er war sehr sexy, sah gut aus, hatte viele viele Frauen, viele Geliebte. Und dann konnte er immer sagen: Ich würde dich ja so gerne heiraten, aber ich bin schon verheiratet. Eben in der Scheinehe mit mir. Die Abmachung war, dass sobald ich einen Pass hatte, zum ersten Mal, dann käme sofort die Scheidung. Aber sechs Jahre lang hat er sich geweigert, sich scheiden zu lassen. Das war sehr, sehr unbequem, weil damals konnte der Ehemann bestimmen, ob man reisen darf, was man überhaupt darf. Den habe ich zwar nie mehr gesehen, ich war ja weg aus Schweden, aber der hat sich andauernd eingemischt. Das Leben war sehr kompliziert. Jetzt bin ich eine große, blonde Schwedin (lacht).
Dann bist Du nach Hamburg gegangen?
Ich bin auf der Durchreise hier hängen geblieben. Ich war in London gewesen, wollte zurück nach Schweden, hatte aber keine Wohnung. Damals musste man sich eintragen in eine Liste, um eine Wohnung in Schweden zu bekommen. Die Wartezeit auf eine freie Wohnung betrug sieben Jahre. Ich hatte überhaupt nichts, war auf dem Rückweg nach Schweden. Auf der Durchreise durch Hamburg wollte ich meine Cousine besuchen, die ich elf Jahre nicht gesehen hatte. Die war wie ein Zwilling für mich, als wir klein waren. Ich war nur ein paar Monate älter, wir waren immer und jeden Tag zusammen. Sie hatte einen nichtjüdischen Vater, dadurch war sie nicht umgebracht worden.
Als wir festgenommen waren, nachdem unser Vater schon weg war in Polen … ach, ich habe keine Lust, darüber zu reden.
Ja.
Aber nach drei Tagen bin ich dann bei meiner Cousine ins Bett gekrochen, da sagte Urselchen: Du bist nicht da, du bist nicht da; du bist doch tot, du bist doch tot. Du bist nicht da, du kannst nicht da sein. Sie sagte völlig unter Schock: Du bist doch tot. Und Urselchen besuchte ich wieder auf der Durchreise. Sie sagte: Morgen fängt die Uni an, ihr erster Tag an der Uni. Da sagte ich: Ich komme mit, ich will bei dir sein. Am ersten Tag schon habe ich Leute kennengelernt, natürlich. Die fanden mich sehr ungewöhnlich, denn ich war sehr frei aufgewachsen, und hier waren die noch sehr spießig. Da hatte ich schnell viele Studenten um mich, (Peter) Rühmkorf, (Klaus Rainer) Röhl, (Dick) Busse … Mit ihnen zusammen habe ich dann eine Theatergruppe, eine Studentenbühne gegründet. In die Bestehende durfte ich nicht rein, und die anderen, wenn sie zu mir hielten auch nicht. So haben wir ein eigenes Kabarett gegründet, das hieß die „Pestbeule“. Dahinten hängt ein Plakat.
Da über den Fotos von Rosa Luxemburg und Ulrike Meinhof.
Das Plakat hat Röhl mir mal geschickt. Da war ich allerdings wiederum schon in Paris, als dass raus kam. Da bin ich in Paris hängen geblieben. Aber ich hatte davor eine Wohngemeinschaft mit denen vom Studententheater. Es war eine sehr schöne Zeit, eine hoffnungsfrohe Zeit.
Hattest Du zu der Zeit des Studententheaters schon Kontakt zu deiner Tante Flora und deinem Onkel Rudi Neumann?
Nein, da noch nicht. Die waren da noch nicht in Deutschland. Die waren nach der Zeit in den KZ erst fünf Jahre in Belgien, wo sie auch aufgeflogen waren mit ihrer kommunistischen Widerstandsgruppe. Dadurch kamen sie nach Auschwitz und Buchenwald. Sie wurden verpfiffen. Kamen dann wieder nach Brüssel, wo sie ein Kinderheim leiteten. Sie sagten später, das sei die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Das war ein Heim für Kinder, die verstreut in den Wäldern lebten, jüdische Kinder. Völlig verwahrlost, völlig kaputt. Fünf Jahre haben sie das Heim geleitet, dann wurde es aufgelöst, die Kinder wurden nach Amerika, nach Palästina geschickt. Dann wussten sie nicht, wohin, und kamen nach Hamburg zurück, wo sie ursprünglich mal hergekommen waren. Dann haben wir uns erst kennengelernt. Auf Demos. Wir haben uns auf jeder Demo getroffen. Dadurch waren wir uns sehr nah.
War das die Zeit vom Ostermarsch?
Weiß ich nicht so genau. Beim Ostermarsch war ich von Anfang an dabei. Ich kann das nicht in Zeit einordnen.
Die Zeit der Proteste gegen die Wiederbewaffnung…
Ja, gegen die Bundeswehr, natürlich. Zur Bundeswehr bin ich gegangen als die anfingen, Akademiker auszubilden. Da haben wir uns in die noch leere Bundeswehrhochschule reingesetzt für einen Tag und dagegen protestiert.
Als ich nach Deutschland kam, bin ich sofort eingetreten in zwei Dinge: In die damals bestehende Jüdische Gemeinde, und in die IDK, die Internationale der Kriegsdienstverweigerer. Sofort. Und immer Mitglied geblieben, obwohl ich aus der Gemeinde mehrfach austreten wollte, aber aus irgendeiner Sentimentalität bin ich immer noch drin. Aus eigentlich überhaupt keinem Grund, denn Sentimentalität ist nicht das, was ich gut brauchen könnte.
Als Atheistin?
Nicht nur das, auch sonst, es ist ja keine linke Gemeinde.
Dein Engagement gegen Krieg und Rüstung ist eine Konstante in deinem Leben.
Ja. Wir leben hier zur Zeit wie die Maden im Speck. Wir leben zwischen den Kriegen. Die reichlich produzierten deutschen Waffen werden ja nicht bei uns eingesetzt. Da haben wir Glück.
Weniger Glück haben diejenigen, an deren Länder diese Mordinstrumente geliefert werden: Wie die Türkei, Saudi-Arabien, Ägypten und viele, viele Andere.
Zu Flora und Rudi Neumann …
Hast Du sie gekannt?
Leider nein, aber ich war bei der Veranstaltung zur Straßenumbenennung dort im Karolinenviertel, als du an sie erinnert hast.
Wunderbare Menschen. Die nach Allem, was sie erlebt hatten, Menschen weiter liebten. Immer Anteil nahmen. Die hatten immer viele Leute um sich herum. Wenn da jemand rumgejault hat, er sei erkältet, sagten sie gleich: ‚Oh du Armer, bist du erkältet‘. Sagt sie, die halb tot geschlagen worden war. An der alles kaputtoperiert worden war. Er, völlig kaputtgeschlagen, alles zu Bruch gehauen, alles: „Pass auf, dass es keine Grippe wird, ich mach dir eine Hühnersuppe“. Leck mich doch am Arsch!
(Peggy Parnass zeigt an die Wand gegenüber.) Das ist Peter Weiss dort auf dem Foto neben mir. Da sitzen wir da, wo wir jetzt gerade sind. Hier haben wir auf der Bettkante gesessen.
Peter Weiss ist ja in Schweden geblieben.
Ja. Er kam immer mal wieder her. Er rief mich an, als mein Buch „Prozesse“ erschienen war, wir kannten uns bis dahin nicht. Er meinte, er hätte gerade mein Buch gelesen, würde mich gerne treffen und mit mir reden. Oh ja, gerne, erwiderte ich. Dann kam er ab und zu, er wohnte dann in einem Hotel hier um die Ecke am Hauptbahnhof, im Reichshof. Damit er nah dran ist und wir uns unkompliziert treffen können. Dann war ich einmal, als wir verabredet waren, bei einer Freundin, die weiter weg wohnte, und kam ins Hotel, wo Peter Weiss auf mich wartete. Ich sollte ihn abholen. Kam aber zehn Minuten zu spät. Sonst bin ich immer überpünktlich. Er saß da, im Foyer, kreidebleich schlotternd, und schrie: ‚Dass Du mir das antust, dass du mich hier alleine lässt mit all den ganzen Deutschen! Du hast mich mit denen allein gelassen!‘
Da habe ich erst mitgekriegt, wie verstört er noch war. So brach das aus ihm heraus. Und das, obwohl es ein internationales Hotel ist. Wir gingen dann sofort. Es dauerte eine Stunde, bis er wieder normal sprechen konnte. Wir sind schon reichlich kaputt.
Und so ging es auch meinen Freunden Georg Stefan Troller, der dir sicher ein Begriff ist, und Ralph Giordano. Beide so erfolgreich geworden, so bewundert, so umschwärmt, Frauen standen immer Schlange. So berühmt durch ihre Arbeit, aber tief drin so verstört, und immer noch das kleine Kind, das anerkannt werden möchte. Die Erfahrungen als Kinder, wenn der beste Freund, die beste Freundin plötzlich nicht mehr mit dir spielen wollen. ‚Warum? – Weil Du Jude bist!‘
Beide. Der Eine bis in den Tod, der Andere jetzt noch, im hohen Alter. Das sitzt so tief, das ist nicht zu verwinden. Überhaupt nicht. Da hilft nichts.
Ralph Giordano ist in Hamburg und bundesweit offiziell anerkannt.
Sehr anerkannt. Aber ich hatte auch mal Krach mit ihm.
Warum?
Aus politischen Gründen natürlich. Das, was uns verband, ist die Verfolgung. Das ist die Basis. Was uns trennte, ist der Blick auf Israel und die Palästinenser. Da war die Frage, weitere Auseinandersetzung, oder gar nicht mehr darüber reden – nie wieder über Politik. Dann gut Freund sein, so dass wir miteinander Essen gehen können. Wenn Giordano nach Hamburg kam, sind wir Essen gegangen. Oder wenn Troller kam, etwa zu Buchvorstellungen. Ganz einfach, dass diese massive gemeinsame Basis immer noch da ist, das Drumherum habe ich ausgeblendet. Dafür habe ich mich dann entschieden. Immer wenn Giordano nach Hamburg kam, rief er vorher an, lud mich zum Essen ein. Bei mir konnte er sich dann beim Essen ausweinen.
Du hast mal das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen …
… aber erst mal ein Jahr lang abgelehnt. Und dann haben Troller aus Paris angerufen und Giordano aus Köln: ‚Peggyleinchen, sei doch nicht so, es ist doch jetzt alles anders. Es hat sich alles geändert, es sind doch nicht mehr die gleichen Leute. Und wir haben doch auch erst gezögert und uns das überlegt, aber dann doch zugesagt. Es ist doch sehr nett.‘ Dann habe ich mich überreden lassen nach einem Jahr Nein. Ich habe zugesagt, aber es am Tag danach schon wieder bereut. Und es nie wieder angeguckt.
Ja.
Was schön war: Damals war Karin von Welck als Hamburgs Kultursenatorin für die Verleihung an mich zuständig, mit ihren schönen großen Augen. Ihre Funktion war, es mir dran zumachen. Da war sehr viel Presse. Sie hat immerhin, als sie es mir angelegt hat, den ganzen Presseleuten gesagt: Wenn sie wüssten, wie schwer es war Peggy dazu zu kriegen, das überhaupt anzunehmen. Die hat kein Geheimnis daraus gemacht.
Warum hast du die Annahme des Bundesverdienstkreuzes bereut?
Ich will damit nichts zu tun haben. Was weiß ich, wer das Alles verliehen gekriegt hat im Laufe der Zeit. Bestimmt nicht Freunde von mir. Obwohl, Esther Bejarano hat es auch bekommen, ein Zweites erhöhtes irgendwie. Da war ich dabei, und Esther sagte zu mir: Du Peggy, muss ich mich jetzt beim Senat bedanken? Da bin ich wütend geworden: Nein Esther, das musst du ganz bestimmt nicht, die können sich bei dir bedanken, dass du es überhaupt angenommen hast. Das hat mich so in Rage versetzt. Das fehlt noch!
Vielleicht wollten Ralph Giordano und Georg Stefan Troller, das du das Bundesverdienstkreuz annimmst, um zu zeigen, dass es auch AntifaschistInnen gibt in Deutschland?
Nein. Eine Auszeichnung von den Deutschen dafür bekommen, dass ich Antifaschistin bin? Ganz bestimmt nicht! Dafür gibt mir niemand einen Preis oder ein Lob, oder einen Dank. Nein, das nun wirklich nicht. Nein, das habe ich bekommen, obwohl ich Antifaschistin bin. Nicht weil ich ich bin, sondern obwohl ich ich bin.
… trotzdem dass du Antifaschistin bist.
Trotz Allem, was ich bin: Nicht nur Antifaschistin, das geht ja auch noch darüber hinaus. Manchmal lese ich jetzt in Todesanzeigen, die ich vor lauter Schiss lese im Abendblatt, da steht dann: Bundesverdienstkreuz. Was weiß ich wofür verliehen.
Ansonsten wurde ich sehr gerne ausgezeichnet. Es gibt ein paar Auszeichnungen, besonders eine, für die ich erst seit kurzem dankbar bin, weil ich gar nicht wusste, wer das war, der Name sagte mir nichts. Liegt da nicht mein Buch „Prozesse“ irgendwo? Im Nachbarzimmer, die Ecke rum? Da ist ein Stapel gleich links hinter der Tür. Weiter links. Warte, ich komme hin. Vor den anderen Bücherstapeln. Liegt da vorne an. Warte, ich komme! Ah, da. Jetzt kann ich es dir sagen. Ist das Ding noch an?
Das Ding ist noch an.
Bekommen habe ich den Joseph-Drexel-Preis für hervorragende Leistungen im Journalismus. Den bekam ich von Professor Eugen Kogon überreicht, da kann ich doch froh sein!
Kogon, ein wunderbarer Mensch, der auch verzweifelte, völlig verzweifelte. Ich habe mit ihm telefoniert, nicht lange bevor er starb, er wohnte irgendwo ganz anders. Er sagte, ich habe ja nichts erreicht, ich kann ja gar nichts erreichen. Es hat sich alles nicht gelohnt, war völlig verzweifelt.
Dann habe ich bekommen: Den Fritz-Bauer-Preis für mein Buch Prozesse bekam ich dann von Professor Ulrich Klug, dem damaligen Hamburger Justizsenator. Ich wusste damals, in den 80er Jahren, gar nicht wer Fritz Bauer ist. Keiner wusste, wer Fritz Bauer war. Von dem sprach kein Mensch. Dann war ich mal im Abaton, im Kino, sah zwei Filme nacheinander. Als ich raus ging, bekam ich mit, dass viele Leute rein rannten ins Kino. Ich fragte, was läuft denn jetzt? „Eine Dokumentation über Fritz Bauer.“ Interessant, dachte ich. Da habe ich zum ersten Mal gesehen, wer das überhaupt ist. Was er macht, wie er aussieht – dieser tolle Kopf! Ein toller Dokumentarfilm, den eine Frau aus Berlin gemacht hat, Ilona Ziok. Und erst danach, weil die Ilona Ziok das angestoßen hat, gibt es Spielfilme über Fritz Bauer. Plötzlich: „Fritz Bauer, Fritz Bauer!“ Mein Freund Burghart Klaußner hat in einem der Filme den Fritz Bauer wunderbar gespielt.
Jetzt bin ich sehr, sehr glücklich, dass ich den Fritz-Bauer-Preis bekommen habe, wo ich jetzt weiß, was für ein toller Mensch er war und wie schwer er es hatte. Der wurde ja fast tot gejagt.
Alle Fotos: © Privatarchiv Peggy Parnass
„Peggy Parnass – Überstunden an Leben“, D 2017, 65 Min., Jürgen Kinter, Gerhard Brockmann.
Die Premiere des Filmes war im Filmclub der Hamburger Hafenstraße.
Einmalige Vorführung des Filmes im Rahmen der Reihe Holocaustüberlebende im Gespräch. Im Anschluss werden sich Peggy Parnass und die Filmemacher den Fragen des Publikums stellen. Auch Landesrabbiner Shlomo Bistritzky wird ein Grußwort sprechen. Organisiert vom Verband Jüdischer Studierender Nord. Im Anschluss gibt es Brezl & Wein. Eintritt frei – Um Anmeldung wird gebeten: vorstand@vjsnord.de.
Montag , 27. Januar 2020, 19 Uhr, Bucerius Law School, Jungiusstraße 6, 20355 Hamburg.