Vom „Yiddishen Arbeiter Sport Klub“ zur Résistance

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Die allerersten Widerstandskämpfer in Paris kamen vornehmlich aus zwei linken jüdischen Sportvereinen. Eingeweihte nannten die Untergrundtruppe schlicht „Die Sportler“…

Von Danny Leder, Paris

Der Journalismus ist mein Beruf, aber Tischtennis meine Passion. 1982 zog ich aus meiner Ursprungsstadt Wien nach Paris, um als Korrespondent deutsch-sprachiger Medien zu arbeiten. In meinem ersten Pariser Wohnviertel im 10. Arrondissement,  nahe der „Gare de l’Est“ (Ost-Bahnhof), landete ich folgerichtig  in der Tischtennis-Sektion  eines bezirkseigenen Sportklubs, dem CPS-10.     

Aber erst als ich eine Broschüre zur Geschichte des „Club populaire et sportif“ durchblätterte, ging mir ein Licht auf. In der Bildunterschrift zu einem Gruppenfoto von Vorkriegssportlern des CPS hieß es: Simon Tyszelman, hingerichtet. Henri Schlos, starb in der Deportation. Sylvia Brotfeld, starb in der Deportation. Maurice Feld, hingerichtet. Roberte Ghertman, aus der Deportation zurückgekehrt, und so weiter…    

Ich wusste bereits, dass der volkstümliche Pariser Nordosten und allen voran der zehnte Bezirk schon seit dem 19. Jahrhundert das Einzugsgebiet der aus Osteuropa eingewanderten Juden war. Dass sich hier die meisten Textil-, Kürschner-, Schuhmacher- und Tischlerei-Werkstätten und entsprechenden Läden befanden, in denen die Migranten arbeiteten, und dass noch in der Zwischenkriegszeit jiddisch oft zum Straßenalltag gehörte. Hier erschienen zeitweilig gleich mehrere jiddische Tageszeitungen, darunter ab 1926 der „Pariser Haynt“, der der zionistisch-religiösen Misrachi-Bewegung nahestand (und nach dem Krieg unter dem Namen „Undzer Veg“ bis 1977 als Tagblatt fortbestand) und ab 1934 die kommunistische „Naie Presse“, die ebenfalls noch in den Nachkriegsjahren existierte (die für Leser in Deutschland und Österreich seltsam anmutende Schreibweise der jiddischen Wörter und Namen rührt daher, dass die meisten jüdischen Einwanderer in Frankreich im 19. und ersten Teil des 20. Jahrhunderts aus osteuropäischen Gebieten stammten, in denen die Transkription des Jiddischen aus der hebräischen Buchstabierung nicht ins Deutsche erfolgte wie etwa in den von der k.u.k-Monarchie verwalteten Gebieten, sondern phonetisch häufig ins Polnische übertragen wurden, von wo sie direkt in die französische Schriftsprache gelangten).   

Freiwillig zur Armee

 Mir war auch bekannt, dass sich in den Bezirken des Pariser Nordostens tausende jüdische Einwanderer, die noch gar nicht eingebürgert waren und oft nicht einmal über eine behördliche Aufenthaltsgenehmigung verfügten, jeweils zu Beginn der beiden Weltkriege freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatten. Dass 1941-42, unter der deutschen Besatzung und dem mit ihr zusammenarbeitenden Regime von Philippe Pétain, die französische Polizei in diesen Vierteln massenhaft jüdische Familien festnahm, in Sammelzentren pferchte, von wo sie in die Vernichtungslager in Polen per Viehwagons verfrachtet wurden. Ich wusste aber auch, dass eine beachtliche Minderheit dieser Juden von Nachbarn und manchmal sogar Polizisten gewarnt wurden und sich rechtzeitig verstecken konnten. 

Gleich neben dem Zugang zu meinem Wohnhof  hatte ich eine Mahntafel beim Eingang eines sechsstöckigen Gebäudes entdeckt. Das vormalige Möbelwarenhaus (später von einer Werbe-Agentur übernommen) hatte ab 1943 als innerstädtisches KZ gedient. Juden, die nicht sofort deportiert worden waren (meistens weil mit Nichtjuden verheiratet), mussten dort alle nur denkbaren Gegenstände, die anderen Juden und manchmal auch den selben Juden zuvor geraubt worden waren, umladen, sortieren, restaurieren, bevor der wertvollere Teil der Güter nach Deutschland geschickt wurde. Ungefragt sagte mir eines Tages ein Taxifahrer, der mich dort absetzte: „Da wurden im Krieg Menschen gefangen gehalten. Da stürzten sich immer wieder Verzweifelte aus den oberen Stockwerken in den Tod.“ 

„Soldaten ohne Uniform“

Darüber hinaus waren mir in meiner Nachbarschaft zahlreiche Steintafeln über Hauseingängen aufgefallen, die an Résistance-Kämpfer erinnerten. Viele trugen Namen, die aus dem Jiddischen stammten. Die Aufschriften erinnerten an „Soldaten ohne Uniform, gefallen damit Frankreich lebt“.  Alljährlich schmückten Veteranenverbänden mit Blumen diese „Soldaten ohne Uniform, gefallen damit Frankreich lebt“, wie es auf den Tafeln heißt. 

Aber nun entdeckte ich, dass fast alle diese Gefallenen dem CPS oder einem weiteren Sportverband, dem YASK („Yiddischer Arbeiter Sport Klub“), angehört hatten.  Der YASK, bereits 1929 gegründet, war das urwüchsige Auffangbecken für sportlich begeisterte jüngere Juden aus Osteuropa. Diese, oft aus der religiösen Tradition ausgescherten Migranten fanden Geborgenheit und Hilfe in zahlreichen „Landsmanshaftn“, die jeweils Einwanderer aus bestimmten Regionen und „Shtetln“ in der Fremde vereinte. Und von den „Landsmanshaftn“ führte der Weg geradewegs zum YASK.   

Die „Yaskisten“ sportelten in allen Domänen, vom Fußball über Leichtathletik und Turnen bis hin zum weiblichen und männlichen Basketball. Außerdem spielte das politische Engagement bei den Linksparteien eine entscheidende Rolle. Die Aufbruchsstimmung  kulminierte im Machtantritt der gemeinsamen Regierung der französischen Linksparteien, dem „Front populaire“  (1936-1938).  Unter Leitung des (noch heute in Frankreich allgemein verehrten) Sozialisten Leon Blum, der aus einer jüdischen Familie stammte, führte die Volksfront-Regierung erstmals in Frankreich den bezahlten Urlaub (zwei Wochen), die 40-Stundenwoche und Kollektivverträge ein.  

Der YASK trat dem landesweiten Arbeiter-Sportbund FSGT bei. Aber diejenigen, die einen Sportklub wollten, der sich ausschließlich mit der Kommunistischen Partei (KPF) verband und über das jiddisch-sprachige Milieu hinausreichte, gründeten 1935 den CPS. Allerdings beteiligten sich etliche Mädchen und Burschen, die in den selben Vierteln und Klicken verkehrten, abwechselnd an den Aktivitäten beider Vereine, je nach Zeitpunkt und angebotener Sportart. 

Nach Hitlers Einmarsch 1940 verblassten die verbliebenen Trennlinien zwischen YASK und CPS vollends. Allerdings hatten in einer ersten Phase die Sowjetunion und die von ihr gesteuerte KPF ihre jüdischen Anhänger in tiefste Verwirrung gestürzt:  ab August 1939 galt der berühmt-berüchtigte Hitler-Stalin Pakt. In dessen Folge bemühte sich die Pariser KPF-Führung eine Zeitlang um eine Verständigung mit den deutschen Besatzern.

Die Abkehr der Moskau-hörigen KP-Führung von dieser beschämenden Haltung kam erst nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941. Nun wechselte die KPF nicht nur ihre Haltung gegenüber den Nazi-Besatzern, sondern gab auch, auf Weisung Stalins, Order zum sofortigen bewaffneten Aufstand.  In Paris sollte eine Stadtguerilla entstehen – ein zu diesem Zeitpunkt völlig aussichtsloses Unterfangen, das vom Chef der französischen  Exil-Führung in London,  General Charles De Gaulle, als verfrüht kritisiert wurde.

Nur die aller Wenigsten leisteten damals in Paris dem Aufruf der KP unmittelbar Folge, und unter diesen Wenigen überwogen junge Juden, die meistens aus den Reihen des YASK und CPS stammten. Weshalb sie von Eingeweihten „die Sportler“ genannt wurden.    

An ihrer Seite engagierte sich eine kleine Schar (nicht-jüdischer) Jungkommunisten, armenischer Kommunisten (darunter Verwandte und Freunde des späteren Chansonier Charles Aznavour), spanische und italienische Antifaschisten, deren Opfermut nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, weil sie nicht unmittelbar bedroht waren. 

Erster Gefallener – ein Volleyballer

Der erste jüdische Gefallene im Widerstand war der Mützenmacher-Geselle, Jungkommunist und CPS- Volleyballer Samuel Tyszelman. Seine aus Polen eingewanderten Eltern hatten ihn „Szmul“ genannt, für seine Kumpel hieß er „Titi“. Er wurde bei einer der ersten Straßenkundgebungen gegen die Besatzer im August 1941 gemeinsam mit dem Werkzeugmacher Henri Gautherot festgenommen. Beide wurden hingerichtet. Zwei Tage später wurde in der Metro-Station Barbes ein deutscher Uniform-Träger, zum ersten Mal seit der Kapitulation Frankreichs, erschossen. „Ich habe Titi gerächt“, erklärte der Attentäter, der Jungkommunist Pierre Georges, der später unter seinem Kriegsnamen „Colonel Fabien“ Berühmtheit erlangte (Nach ihm ist der Platz vor der imposanten Parteizentrale der KPF im zehnten Arrondissement benannt).

Das Plakat der Besatzer über die Hinrichtung von Samuel Tyszelman und Henri Gautherot sollte abschreckend wirken. Zwei Tage später erschoss ein Rächer erstmals einen deutschen Offizier in Paris

Aus seinem Londoner Exil reagierte General De Gaulle mit harscher Kritik auf diesen ersten bewaffneten Anschlag – nicht weil ein deutscher Soldat getötet worden war, sondern weil De Gaulle solche Angriffe für verfrüht und auf Grund des damaligen Kräfteverhältnisses für selbstmörderisch hielt.

Erst ab 1943, als die Besatzer und das Kollaborationsregime dazu übergingen, ganze Jahrgänge junger Franzosen ins Reich (also in die Territorien Deutschlands und Ex-Österreichs) zur Zwangsarbeit zu verschicken, versteckten sich Tausende in ländlichen Gegenden, woraus sich mancherorts beständige Guerilla-Einheiten entwickelten. Mit Ausnahme der Kommunisten konzentrierte sich aber die Résistance in urbanen Zonen naturgemäß die längste Zeit (also bis knapp vor der Landung der Alliierten) auf Propaganda, Spionage für die Alliierten, Verstecken und Vernetzen gefährdeter Personen und Boten der Alliierten, Herstellung von falschen Ausweisen und Lebensmittelkarten,  Anlegen von Waffendepots und eher diskrete Sabotage-Aktionen  

Dieses rote Plakat der Besatzer mit den Fotos hingerichteter Widerstandskämpfer vom Februar 1944 erlangte Berühmtheit. Die überwiegend migrantische und jüdische Résistance-Truppe wurde als “Armee des Verbrechens” gegeißelt. Nach der Befreiung wurden die Hingerichteten der “Affiche Rouge” gewürdigt, besungen, verfilmt… Sie sind auch als “Le groupe Manouchian” bekannt – benannt nach dem armenischen Kommunisten Missak Manouchian, den die KPF zum “Militär-Komissar” des städtischen Widerstands ernannt hatte (überdies ein Freund des damals noch sehr jungen Charles Aznavour und seiner Familie).

„L’Affiche rouge“

In Paris gelang es einer Sondereinheit der – französischen – Kriminalpolizei die Widerstandsgruppe von maximal 65 Personen aus dem Migrantenmilieu, die serienweise Attacken auf Besatzer, Kollaborateure und kriegswichtige Infrastrukturen durchgeführt hatten, bis Ende 1943 weitgehend auszuforschen. Nachhaltige Berühmtheit erlangte ihr Opfergang durch die so genannte „Affiche rouge“, ein – rotgefärbtes, auffälliges – Plakat, das die Besatzer anlässlich der Hinrichtung von 23 dieser Kämpfer im Februar 1944 verbreiteten. In der Diktion der Nazis und der französischen Kollaboration prangerte das Plakat eine „Befreiung durch die Armee des Verbrechens“ an. In den Begleittexten zu den Fotos von acht Hingerichteten war von „polnischen und ungarischen Juden“, einem „italienischen Kommunisten“, einem „roten Spanier“ und dem „armenischen Bandenchef“, die Rede, denen „56 Anschläge, 150 Tote und 600 Verletzte“ angelastet wurden. Das Plakat sollte Abscheu erwecken, Zeitzeugen erinnerten sich aber an Reaktionen des Mitgefühls von Passanten für die Hingerichteten.    

Nach Kriegsende war die KP, nicht zuletzt dank des Prestiges ihrer Résistance-Kämpfer, auch bei einem beträchtlichen Teil der jüdischen Überlebenden im Pariser Nordosten eine Zeitlang tonangebend. Dafür sorgten Leute wie Henri Segal, der den CPS wieder aufbaute und als Verbands-Sekretär leitete. Die Besatzungszeit  hatte Segal überlebt, weil ihm 1944 eine spektakuläre Flucht aus einem Internierungslager gelungen war: er gehörte zu einer Gruppe Gefangener, die einen 150 Meter langen unterirdischen Tunnel gegraben hatten, durch den sie aus dem Lager gelangten.    

In der Nachkriegs-Periode hielt auch noch die stramme Partei-Disziplin der jüdischen Mitglieder KPF. So konnte die KP-Führung erwirken, dass sich der YASK (der inzwischen auch von KP-Mitgliedern geleitet wurde) zugunsten des CPS auflöste.   

Rettende Ohrfeige eines Österreichers

Als ich in den CPS zu Ende der 1980er Jahre eintrat, traf ich nur mehr wenige, die dem jüdischen Gründer-Milieu des Vereins entstammten. Gabriel Grynberg gehörte nicht zu diesem historischen Kern des CPS, aber ich möchte ihn hier erwähnen. Der heute 87 jährige „Gabi“, wie er im Verein genannt wird, ist noch immer imstande, mich an der Tischtennis-Platte mit heimtückischen Schmetterschlägen zu nerven. 

Die deutsche Okkupation hatte Gabriel versteckt bei Bauern in der Bretagne überlebt. Er bewahrte sich an diese Zeit idyllische Erinnerungen: „Ich fühlte mich am Bauernhof glücklich. Manchmal tauchte ein deutscher Soldat auf, der mich mochte. Ich erinnere mich, dass er Österreicher war. Ich war ja ein Kind und naiv, da habe ich ihm eines Tages gesagt: Ich bin Jude. Darauf gab er mir eine schallende Ohrfeige und schrie, ich solle das nie sagen.“ 

Was mir Gabriel zwischen zwei Tischtennis-Partien anvertraute, ist Zufall. Und trotzdem bin ich dem CPS für diese Begegnung dankbar. So konnte ich mich an der Haltung eines unbekannten Österreichers in Wehrmachts-Uniform erfreuen, der vor 75 Jahren auf seine Weise zur Rettung eines jüdischen Kindes beitrug.  

Bild oben: Mitglieder des “Club populaire et sportif” 1940. Die Hälfte der Abgebildeten wurden hingerichtet oder deportiert.