„Dort völlig vergessen, hier völlig vereinsamt“

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Zum 150. Geburtstag von Karl Wolfskehl – Ein Emigrantenschicksal…

Von Jim G. Tobias

„Ich habe nämlich die Heimat verloren. Weißt du, was das heißt für einen Dichter“, schrieb Karl Wolfskehl im März 1947 an einen Freund in Deutschland. „Ich habe die Stätte verloren, wo ich gewirkt habe ein langes Menschenalter durch, die Stätte der Arbeit, der Freundschaft, der Liebe, des Überschwangs.“ Der deutsch-jüdische Dichter war 1938 ins neuseeländische Exil geflüchtet – „des Erdballs letztes Inselriff“, wie er das Land am anderen Ende der Welt nannte. Er kam im neunten Jahr seines Exils zu der bitteren Erkenntnis: „Dort völlig vergessen, hier völlig vereinsamt. Das ist mein Dasein.“

Karl Wolfskehl, Foto: Stadtarchiv Darmstadt (Best 35)

Karl Wolfskehl wurde am 17. September 1869 in eine gut situierte jüdische Familie hinein geboren. Nach dem Abitur studierte er Germanistik und Geschichte und promovierte 1893 über ein germanisch-mythologisches Thema, wobei er in seinem beigefügten Lebenslauf ausdrücklich vermerkt: „Ich, Karl Wolfskehl, Verfasser dieser Dissertation, bin Jude.“ Schon früh fühlte er sich dem Dichter Stefan George verbunden und publizierte erste Texte in dessen Literaturzeitschrift „Blätter für die Kunst“. Wolfskehl wurde als „Entdecker und Nachdichter alter germanischer Dichtung, als tiefer Erforscher und Kenner germanischen Sprachguts“ bekannt, schrieb die jüdische Zeitschrift Der Morgen. „Alles in allem also ein ganz und gar dem deutschen Kulturkreis angehöriger Mensch.“ Als wohlhabender Privatier genoss der Dichter ein sorgenfreies Leben in der Münchner Boheme. Durch Krieg und die einsetzende Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren verlor Wolfskehl sein Vermögen und musste nun seinen Lebensunterhalt verdienen. Er schrieb für die Feuilletons verschiedener Zeitungen, wie etwa die „Münchner Neuesten Nachrichten“ oder die „Frankfurter Zeitung“ und arbeitete als Lektor.

Mit der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten endete die unbeschwerte Zeit. Karl Wolfskehl flüchte bereits Ende Februar 1933 in die Schweiz. Seine „arische“ Frau Hanna und die beiden christlich erzogenen Töchter blieben in Deutschland. Ab 1934 übersiedelte er nach in Italien. Zu dieser Zeit erschien im Verlag Salman Schocken Wolfskehls Gedichtband „Die Stimme spricht“, in dem er seine enge Verbundenheit zum Judentum etwa in dem Gedicht „Herr! Ich will zurück zu Deinem Wort“ mit folgenden Versen dokumentiert: „Herr! Ich will zu dir, ich will fort. Herr! Ich weiß nicht aus und nicht ein! Ich bin allein.“ Nach Ansicht der Kulturwissenschaftlerin und Germanistin Caroline Jessen wurde der Band „zu einem der populärsten und wichtigsten Lyrikbände der deutsch-jüdischen Buchszene“.

Aus dem Band „Die Stimme spricht“, Schocken Verlag Berlin 1934, Repro: nurinst-archiv

Die Annäherung zwischen Hitler und Mussolini bestärkte Karl Wolfskehl, mit seiner Sekretärin und heimlichen Geliebten Margot Ruben nach Neuseeland zu emigrieren. Am 20. Mai 1938 begann die über sechswöchige Reise auf die andere Seite unseres Globus‘, die am 3. Juli im Hafen der neuseeländischen Stadt Auckland endete. Das Paar bezog eine kleine Wohnung. „Ich habe ein kleines Schneckenhaus in südlichem, durch die hiesige Regenfülle zu üppigem Prangen aufgesäugten Gartenidyll, und M. R. sorgt fürs Schriftliche so auch für alle häuslichen Necessitäten“, schrieb er im September 1938 an einen Freund in Europa.

Nicht zuletzt auf Fürsprache von Thomas Mann erhielt Wolfskehl im Januar 1939 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Margot, die er aufgrund des großen Altersunterschieds als seine Nichte vorstellte, schrieb seine Manuskripte in Reinschrift oder tippte seine Briefe. In dieser Zeit entstand der Lyrik-Zyklus „Mittelmeer oder die fünf Fenster“ mit seinem bekannten Gedicht „Feigenbaum“. Ein solcher stand im Garten seines Hauses, „ein Bruder im Exil“, der ihn an seinen mediterranen Sehnsuchtsort Italien erinnerte. „Liebend greift meine Hand dir grünen Hände, / Feigenbaum vom azurnen Mittelmeer“, heißt es in diesem Gedicht. Danach verfasste er die Verse-Sammlung „Hiob oder die vier Spiegel“. In einem Brief schrieb Wolfskehl dazu: „Das tragische Erlebnis, mein Leben genauso durchzitternd wie das Schaffen, heißt Hiob.“

Viele Werke wurden erst posthum veröffentlicht. Auch die umfangreiche Korrespondenz mit Weggefährten und Freunden aus Europa sowie Prominenten wie etwa Leo Baeck, Salman Schocken oder Martin Buber, um nur einige zu nennen, erschien erst nach seinem Tod. Die Briefe waren für ihn Gesprächspartner – er lebte von und mit Briefen. „Kam der Brief aus der Welt, so wurde bei dessen Vorlesen die Gestalt der Schreiber aufgerufen, ihr Wesen geschildert, Anekdoten berichtet und einstige Gespräche wiedergegeben“, notierte Margot Ruben. „Mit großen, erregten Schritten und wie im Fieber ging er im Zimmer auf und ab, stundenlang entrückt.“

Am 12. Juli 1946 erhielt Karl Wolfskehl die neuseeländische Staatsbürgerschaft. Zu dieser Zeit war die Gesundheit des Mittsiebzigers schon schwer angeschlagen, eine Lungenentzündung und eine Darmkrankheit fesselten ihn ans Bett. Ein weiterer Herzanfall folgte, sodass Karl Wolfskehl nach einem längeren Krankenhausaufenthalt am 30. Juni 1948 verstarb. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof von Auckland beigesetzt, auf seinem Grabstein steht neben seinem Namen in lateinischen und hebräischen Buchstaben „Exul Poeta“ (verbannter Dichter).

Wolfskehls literarisches Schaffen umfasste Prosa, Dramen und insbesondere seine Lyrik, die um religiöse und mythologische Themen kreist. Sein „Briefwechsel aus Neuseeland 1938–1948“ gehört zu den eindrucksvollsten Zeugnissen der Exilliteratur. Bei seiner Ankunft in Neuseeland notierte der Dichter: „Mein Ruhm endet im Hafen von Auckland, aber er beginnt auch im Hafen von Auckland.“ Eine Hoffnung, die sich für Wolfskehl leider nicht erfüllte. Von seinem einstigen Ruhm ist nicht viel übrig geblieben, jedoch blieb er „lebendig genug, um ihm in der deutschen Literaturgeschichte einen Platz auf Dauer zu sichern“, schreibt sein Biograf Friedrich Voit. Es bleibt zu hoffen, dass anlässlich des 150. Geburtstages von Karl Wolfskehl auch viele Leser außerhalb der Elfenbeintürme sein Werk neu entdecken.

Lesetipp:
Mehr über den vergessenen Dichter erfährt man in der spannenden und einfühlsamen Biografie des Germanisten Friedrich Voit (University of Auckland). Die imposante Publikation gibt einen fachkundigen Einblick in das Leben und Werk Karl Wolfskehls – mit Schwerpunkt auf seine Jahre in der Emigration.
Friedrich Voit, Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005, 816 Seiten, Wallstein Verlag, 24,90 €

Zur Serie:
Neue Heimat am Ende der Welt
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