In Europa nichts Neues? – Israelische Blicke auf Antisemitismus heute

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Anita Haviv-Horiner ist gebürtige Wienerin, lebt in Israel und arbeitet in der politischen Bildung mit Schwerpunkt auf dem deutsch-israelischen Dialog. Ihr neues Buch ist ein Beitrag zur aktuellen Debatte um alte und neue Erscheinungsformen des Antisemitismus in Europa und die besondere Rolle Israels in diesem Kontext…

Von Herbert Voglmayr

In Europa ist das Thema Antisemitismus in den letzten Jahren sehr präsent geworden, sei es wegen des Aufstiegs nationalistischer Kräfte, infolge von Gewalttaten oder verbaler Angriffe in der Presse und den sogenannten sozialen Medien. Anita Haviv-Horiner sieht im Antisemitismus eine kulturelle Konstante der europäischen Geschichte und geht der Wechselwirkung zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Faktoren zu diesem Thema nach. Im Zentrum stehen 15 Interviews mit jüdischen Israelinnen und Israelis (zwischen 27 und 80 Jahren), die aus Europa nach Israel gezogen sind bzw. heute in Europa leben, wobei der Fokus auf den folgenden sechs Ländern liegt: Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen, Frankreich und Großbritannien. Die persönlichen Sichtweisen der Interviewten werden ergänzt durch die wissenschaftlichen Beiträge zweier Experten: der deutsche Politologe Samuel Salzborn befasst sich mit der aktuellen Entwicklung von Antisemitismus in Deutschland, der israelische Historiker Moshe Zimmermann gibt einen geschichtlichen Überblick über den Antisemitismus und seine aktuellen Erscheinungsformen.

Der biografische Charakter der Interviews vermittelt einen Einblick in jüdische Geschichte(n) in der Diaspora, in den israelischen Alltag sowie in – zumeist vom Holocaust geprägte – Familienschicksale. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Rolle Israels in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus. In den Gesprächen werden unterschiedliche, auch widersprüchliche Thesen zum Thema Antisemitismus geäußert, überhaupt vermittelt sich der Eindruck von Vielstimmigkeit. Das gilt – auch und ganz besonders – für die Wahrnehmung der Rolle des jüdischen Staates in diesem Kontext.

Von der traditionellen Judenfeindschaft zum modernen Antisemitismus

Samuel Salzborn analysiert aktuelle Entwicklungen von Antisemitismus in Deutschland vor allem anhand des Antisemitismusberichts der deutschen Bundesregierung. Er sieht im Antisemitismus ein geschlossenes geistiges System mit einem weltanschaulichen Allerklärungsanspruch, der die Jüdinnen und Juden für alles Übel dieser Welt verantwortlich macht und einer antimodernen Regression entspringt, die von Aufklärung und Moderne nichts wissen will.

Moshe Zimmermann gibt einen Überblick über die Geschichte des Antisemitismus, von der religiös motivierten Judenfeindschaft über den rassisch definierten Judenhass, der dann in die Katastrophe der Schoah geführt hat, bis zu neueren Formen des Antisemitismus, die sich nach 1945 herausbildeten. Er zeigt, wie der Begriff „Antisemitismus“ um 1880 in Umlauf kam mit dem Anspruch, eine angeblich moderne, wissenschaftliche Definition der Gegnerschaft zum Judentum zu formulieren. Im Zeitalter der Säkularisierung sollte nicht mehr die Religion, sondern die Natur, die ethnische Zugehörigkeit, die „Rasse“ über die Trennlinie zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“ entscheiden, die Konversion zum Christentum sollte keinen Ausweg mehr bieten, aus der Zugehörigkeit zum jüdischen Kollektiv auszusteigen. Die traditionelle, religiös fundierte Argumentation hatte im 19. Jhdt. an Gewicht verloren durch die Emanzipation der Jüdinnen und Juden sowie anderer Gruppen der westlichen Gesellschaften (Stichwort „Judenfrage“ und „soziale Frage“). Kurz gesagt, die traditionelle Judenfeindschaft wurde mit rassistischem Gedankengut aufgeladen. Dabei war das Ganze schon insofern nicht wissenschaftlich, als der Begriff „semitische Völker“ wissenschaftlich höchst umstritten ist. Wenn man aber schon davon ausgeht, müssten unter den Begriff „Antisemitismus“ auch andere Semiten wie die Araber fallen. Aber es ging ja um nichts anderes als Judenfeindschaft, also sprechen wir heute paradoxerweise auch vom „arabischen Antisemitismus“.

Nach 1945 kamen neue Formen dazu wie der sogenannte „sekundäre Antisemitismus“, der sich auf die Leugnung des Holocaust bezieht sowie auf die Ansicht, dass die Juden Vorteile daraus zögen, dass sie während der Nazi-Zeit Opfer waren. Weiters spielt der „israelbezogene Antisemitismus“ eine Rolle, der sich als Kritik am Staat Israel maskiert, wobei es oft schwierig ist, zwischen ehrlicher Kritik an israelischer Regierungspolitik und antisemitisch motivierter Kritik zu unterscheiden. Tatsächlich zeigt sich aber in Umfragen immer wieder, dass der israelbezogene Antisemitismus in den europäischen Gesellschaften viel stärker vertreten ist als die Argumente des „klassischen“ Antisemitismus. Und schließlich spricht man vom „neuen Antisemitismus“, der mit der Zuwanderung der muslimischen bzw. arabischen Bevölkerung nach Europa gekommen ist. Es ist zwar eine Tatsache, dass der Antisemitismus in der muslimisch/arabischen Bevölkerung im 20. Jhdt. durch den Nahostkonflikt und den Import nationalistischer Ideen aus Europa zugenommen hat, aber sie sind nicht die Hauptträger antisemitischen Gedankengutes in Europa. Die Statistik zeigt jedenfalls deutlich, dass antisemitisch motivierte Straftaten aus dem rechten Spektrum jene aus der muslimischen Bevölkerung bei weitem überwiegen.

Antisemitismus und die Krise der EU

Latenter Antisemitismus wird in gesellschaftlichen Krisensituationen meist zu akutem Antisemitismus und dient zur Ablenkung von politischen und sozialen Problemen. Eine solche Krise ist in Europa derzeit insofern gegeben, als nationalistische Kräfte versuchen, die EU zu zerstören und wieder zum Nationalstaat des 19. Jhdt. zu regredieren. Die extreme nationalistische Rechte, maskiert mit dem etwas freundlicheren Gesicht des Rechtspopulismus, drängt in die gesellschaftliche Mitte und zur politischen Macht, wobei sie aber nicht wirklich erfolgreich ist. In Österreich etwa stürzte die rechtsextreme FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) nach 18 Monaten Regierungsbeteiligung vor kurzem über ein Skandalvideo, das unter anderem die skrupellose Korruptheit von zweien ihrer Spitzenpolitiker dokumentiert. Ihre politische Leistung bestand vor allem in der rassistischen Hetze gegen Migranten und Muslime.

In Großbritannien, wo die Rechtspopulisten den Brexit angezettelt haben, ist nach drei Jahren nicht mehr erreicht als die britische Politik in endlosen parlamentarischen Brexitdebatten und -abstimmungen zu lähmen. Dabei wurde immerhin klar, dass ein harter Brexit ohne großen Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu haben ist. Derzeit kann noch niemand sagen, wie die Sache ausgehen wird, aber es wird wohl auf einen mehr oder weniger sanften Brexit hinaus laufen, der dann zwar „Austritt aus der EU“ heißt, aber de facto relativ nahe an der bisherigen Mitgliedschaft liegen wird. Das ganze Brexit-Chaos hatte jedoch zur Folge, dass vielen Leuten klar wurde, mit welch lügenhaften Argumenten die Brexiteers agiert und die britische Bevölkerung getäuscht haben.

In vielen europäischen Ländern ist die Zustimmung zur EU in den letzten drei Jahren stark gestiegen, besonders stark z.B. in Polen, wo die Regierung ja sehr EU-kritisch ist. In Österreich, wo die FPÖ gleich nach dem Brexit-Referendum das Thema Öxit (also den Austritt Österreichs aus der EU) in die politische Diskussion brachte, ist davon heute nichts mehr zu hören, weil die Wählerschaft der FPÖ davon kaum mehr etwas wissen will.

Hassbotschaften im Internet

Aber Hassbotschaften und Verschwörungstheorien blühen, vor allem in den sogenannten sozialen Netzwerken, und Minderheiten sind vermehrt Anfeindungen ausgesetzt. Katharina von Schnurbein, die Antisemitismusbeauftragte der EU, sagt dazu: „Die Schwelle für antisemitische und andere Hassäußerungen ist sehr viel niedriger geworden. Im Netz, wo man anonymer ist, schaukeln sich diese noch weiter hoch. Die Schleusen sind offen.“ Im Mai 2016 habe sich die EU-Kommission mit führenden IT-Unternehmen wie Twitter, YouTube, Facebook und Microsoft auf einen Verhaltenskodex geeinigt, in dem diese sich verpflichten, ihnen gemeldete Hassbotschaften binnen 24 Stunden zu untersuchen und gegebenenfalls vom Netz zu nehmen. In der Umsetzung gebe es bereits beträchtliche Fortschritte, so von Schnurbein.

Die jüngste Eurobarometer-Untersuchung hat unter anderem die Wahrnehmung von Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung untersucht und dabei festgestellt, dass 54 Prozent der Europäer die jüdische Gemeinde in ihren jeweiligen Ländern durch die Brille des Nahostkonflikts sehen, was einen verzerrten Blick zeigt, da es ja um EU-Bürger geht. Eine im Dezember 2018 veröffentlichte Studie der Europäischen Grundrechteagentur hat untersucht, wie Antisemitismus in den jüdischen Gemeinden Europas wahrgenommen wird (befragt wurden 16.300 Menschen in zwölf Ländern, in denen zusammen 96 Prozent der europäischen Juden leben). 89 Prozent glauben demnach, dass der Antisemitismus in ihrem Wohnsitzland in den letzten fünf Jahren zugenommen hat, und 72 Prozent zeigen sich besorgt über die zunehmende Intoleranz gegenüber Muslimen.

In den Interviews dieses Buches kommt klar zur Sprache, dass man Antisemitismus nicht isoliert bekämpfen kann, in Antworten wie: „Wer Juden hasst, hasst andere Minderheiten auch“ und ähnlichen Aussagen. Auch Katharina von Schnurbein meint, dass Antisemitismus nicht nur eine Bedrohung für die Juden sei, sondern eine für die Demokratie und die offene Gesellschaft insgesamt: „Hass bleibt nie in einer Ecke. Wenn man etwa meint, mit antimuslimischer Rhetorik Antisemitismus bekämpfen zu können, dann ist man auf dem Holzweg.“

Anita Haviv-Horiner, In Europa nichts Neues? Israelische Blicke auf Antisemitismus heute, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Euro 1,50, Bestellen?