Das unselige Erbe

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Ein Buch zur Geschichte der Psychiatrie in Israel…

Von Roland Kaufhold

Die israelische Hochschullehrerin Rakefet Zalashik hat mit ihrem Buch „Das unselige Erbe“ einen bedeutsamen Forschungsbeitrag zur Geschichte der Psychiatrie in Israel sowie dem damaligen Palästina vorgelegt. Die Studie erschien 2010 in Israel und nun auch auf deutsch. Die Autorin, dies sei angemerkt, hat auch schon an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg gearbeitet.

In ihrer umfassenden, die Jahre von 1920 bis vor allem 1960 umfassenden Studie stellt sie sie aus historischer wie auch aus medizinisch-psychiatrischer Sicht die Geschichte der Psychiatrie in Israel dar. Die Shoah und der Umgang mit den Überlebenden der Shoah in Israel nimmt hierbei einen zentrale Position ein.

Das Buch umfasst vier Kapitel. In „Moderne Psychiatrie im Heiligen Land“ beschreibt Rakafek Zalashik, wie sich das in Europa geborene antisemitische Fantasma von der „psychopathologischen Andersartigkeit“ der Juden auch im fernen Palästina niederschlug. Der Anteil der psychisch Kranken war auch unter den nach Palästina Eingewanderten hoch. Dort wurde jedoch anfangs bei der diagnostischen Erfassung primär zwischen den askenasischen und sephardischen Juden unterschieden: Die Psychiater stellten die psychisch kranken Einwanderer den psychisch Kranken des „alten“ Jischuw und der „minderwertigen“ arabischen Bevölkerung gegenüber.“ Der jüdisch-russische Psychiater Rafael Becker hatte schon 1919 in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Volk und Land“ die These vertreten, dass das Leben in Palästina „für jüdische Geisteskranke eine therapeutische Komponente“ haben werde. An dem frühen, von antisemitischen Anteilen nicht freien psychiatrischen Diskurs über eine „jüdische Psychopathologie“ hätten sich auch jüdische Psychiater beteiligt. 1895 hatte die jüdische Frauenvereinigung Ezrat Nashim in Palästina eine psychiatrische Anstalt für Frauen errichtet; 1922 gründete die Mandatsverwaltung in Bethlehem eine psychiatrische Klinik; dort wurden sowohl jüdische als auch arabische Patienten behandelt. Der Psychoanalytiker Dorian Feigenbaum, der 1920 in Palästina eingetroffen war, war während der Zeit der britischen Mandatsregierung maßgeblich am Entstehung der Psychoanalyse in Palästina beteiligt. Er war jedoch immer wieder Intrigen ausgesetzt, wurde 1923 als Anstaltsleiter wieder abgesetzt, vermutlich auch, weil er an Freud orientierte Vorträge über das Unbewusste und über die Traumatheorie hielt. Hugo Bergmann sprach 1923 in einem Brief am den Journalisten Robert Weltsch von einer „Intrige von ein paar dummen, blöden Frauen von Jerusalem“.

Im Kapitel „Die Deutschen kommen“ wird der Einfluss der – infolge der nationalsozialistischen Verfolgung nach Palästina geflohenen – Psychiater und Psychoanalytiker auf den Aufbau der Psychohygiene in Palästina beschrieben wie auch auf den Diskurs über Eugenetik.

Die kontroverse Diskussion etwa über den Wiener Psychoanalytiker Martin Pappenheim, dessen Tochter Else Pappenheim emigrierte hingegen in die USA,  – dieser war am Aufbau der Anstalt Bnei Berak (ab 1937) sowie als beratender Psychiater im Gesundheitswesen tätig, man verdächtigte ihn, nicht ausreichend zionistisch zu sein – spiegelte die Spannungen „zwischen dem eingesessenen zionistischen Jischuw und den aus Deutschland und Österreich geflüchteten Psychiatern“ wider. Die große Anzahl – allein zwischen 1933 und 1939 kamen 650 Ärzte nach Palästina – neu eingewanderter Ärzte verursachte massive Ängste vor der neuen Konkurrenz, was 1933 in Magazinen wie „Harefuah“ offen debattiert wurde. Andererseits gab es Appelle zur Solidarität mit den bedrohten Kollegen.

1935 kam es zur Gründung der Neuropsychiatrischen Gesellschaft Eretz Israel, auch um den Neueinwanderern einen Neustart in Palästina zu erleichtern; aber auch die statistische Erfassung von Psychosen wurde voran getrieben. Abraham Rosenthal und Heinz Herrmann nahmen wichtige Positionen in der Fachgesellschaft ein; Rosenthal wurde kurz danach, während der „arabischen Aufstände“ von 1936 – 1939, ermordet.

Auch unter den aus Europa geflohenen Psychiatern wurden eugenetische Positionen vertreten, in Tel Aviv, Jaffa und Jerusalem entstanden entsprechende Beratungsstellen. Aus heutiger Sicht löst dies, wie auch Rakefet Zalashik hervorhebt, großes Befremden aus. Präventivmedizin im Erziehungswesen und Psychohygiene galten bald als zentrale gesellschaftliche Herausforderungen.

Die Bedeutung von Henrietta Szold, Leiterin der Jugend-Alijah, sowie von Siegfried Lehmann wird ausführlicher gewürdigt, wie auch von Kurt Blumenthal. Dieser gehörte zu den ersten Psychiatern, die auch den Einfluss der nationalsozialistischen Verfolgungserfahrungen auf psychische Erkrankungen benannten: „Blumenthal ignorierte weder, dass der Patient von den Nationalsozialisten verfolgt worden war, noch dessen Status als illegaler Flüchtling in Palästina, wertete diese Umstände jedoch nicht als Hauptauslöser der Krankheit.“ Es werden damalige Studien über die schwierige Situation von Kindern beschrieben, die im Rahmen der Kindertransporte alleine, ohne ihre Eltern, nach Palästina gelangt waren.

Das 3. Kapitel beschreibt die „Professionalisierung der israelischen Psychiatrie 1948 – 1960“. Von großem Einfluss war hierbei der enge Austausch, der nach der Staatsgründung Israels zwischen israelischen Psychiatern und amerikanischen Psychiatern entstanden; um 1950 gab es in Israel 50 ausgebildete Psychiater: „Durch die engen Verbindungen in die USA wurde auch in Palästina die Psychohygiene immer wichtiger.“ Es entstanden erste klinische Berichte über Shoahüberlebenden. Es sollte jedoch noch Jahrzehnte dauern, bis diesen in angemessenerer Weise auch fachlich begegnet werden konnte. Die Entwicklung der Gesundheitssystems und der entsprechenden Gesetzgebung in diesen ersten Jahren Israels wird ausführlich beschrieben. Gerade beim Umgang mit Straftätern blieb der Spannungsbogen zwischen einer juristischen und einer psychiatrischen Interpretation ausgeprägt, Stichwort: Zwangseinweisung; eine Thematik, die bis heute aktuell geblieben ist. Die große Zahl von Neueinwanderern auch in den 1950er und 60er Jahren stellte Israel vor immer neue Herausforderungen. Es kam zu einer Professionalisierung des Gesundheitssystems; aber Vernachlässigung und Paternalismus blieben der Gegenpol der Entwicklung.

Sehr anregend geraten ist das abschließende Kapitel über „Schoah-Überlebende und die israelische Psychiatrie“. Israel hat so viel Überlebende wie kein anderer Staat aufgenommen, sehr viele von ihnen waren auch im 1948er Unabhängigkeitskrieg beteiligt: „22.300 Schoah-Überlebende nahmen am Unabhängigkeitskrieg des Staates Israel teil. Sie stellten etwa die Hälfte der kämpfenden Soldaten.“

Auch ihre Behandler – sofern es überhaupt solche gab – hatten überwiegend Verfolgsungserfahrungen gemacht und litten gleichfalls unter Schuldgefühlen. Im Vordergrund stand die zwingende Notwendigkeit des Staatsaufbaus und der Integration der so zahlreichen Geflüchteten: „Die besonderen Probleme, an denen psychisch kranke Schoah-Überlebende litten und leiden, werden vom israelischen Gesundheitswesen bis heute weder anerkannt noch gebührend behandelt“ beklagt die Verfasserin. Sehr aktuell könnte auch die Diskussion über die ausgeprägten Sorgen wirken, die „unkontrollierte Einwandererströme“ verursachten. Auch im Israel der 1950er bis 1970er Jahre dominierte der Wunsch nach einer stärkeren Auswahl arbeitsfähiger Menschen unter den  Neueinwanderern. Erst in den späten 1980er Jahren gab es in Kliniken Bemühungen, lebensgeschichtliche Interviews mit Schoahüberlebenden zu führen. Es war ein weiterer Schnitt in dem unermesslich schwierigen Versuch, ihren schwersten Traumatisierungen gerecht zu werden. 2001 beschloss das israelische Parlament die Gründung von drei Altersheimen für Schoahüberlebende, die in der Nähe der psychiatrischen Klinik Shaar Menashe lagen. Ein Resümee von Zalashik lautet: „Das schwierigste Kapitel der israelischen Psychiatriegeschichte ist sicher das Verhältnis der israelischen Psychiater zu den nach Israel eingewanderten Schoah-Überlebenden, deren Trauma von der israelischen Medizin zunächst kaum beachtet wurde.“

Das Buch ist ein anspruchsvolles Werk, verfasst vor allem für ein Fachpublikum, aber gut lesbar für alle Interessierten. Es bildet eine sinnvolle Ergänzung zu Eran Rolniks Werk Buch „Freud auf Hebräisch. Geschichte der Psychoanalyse im jüdischen Palästina“ (2013).

Rakefet Zalashik: Das unselige Erbe. Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel, Frankfurt/M.: Campus 2012, 216 S., Euro 24,90, Bestellen?