Zurück im Zorn mit dem Drachen in der Hand

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Die Proteste gegen Israel im Gazastreifen reißen nicht ab. Dabei geht es den Drahtziehern dahinter vor allem um zwei Sachen: Aufmerksamkeit und die Mobilisierung der Palästinenser unter der Flagge der Hamas…

Von Ralf Balke

Drachenfliegen ist ein klassischer Outdoor-Spass. Die ganze Familie kann daran teilhaben, wenn die zumeist selbst gebastelten bunten Kreationen aus Nylon, Papier und Leichtholz sich in die Lüfte erheben. So auch im Gazastreifen. Dort hält man übrigens seit April 2011 den Weltrekord im Drachensteigen. Damals ließen 13.000 Schulkinder mehrere Tausend dieser Fluggeräte mit Friedensbotschaften in den Himmel steigen und verwiesen damit den bisherigen Rekordhalter, die chinesische Stadt Weifang, auf Platz Zwei. Gedacht war das Spektakel als Abschluss eines Sommercamps des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, kurz UNRWA. Nun dürften die Jugendlichen von einst längst das Erwachsenenalter erreicht haben. Aber die Kunst des Drachenbauens haben sie wohl nicht verlernt – ganz im Gegenteil!

Wie man die Tage auf dem Gazastreifen im Grenzgebiet zu Israel sehen konnte, haben die Palästinenser aus den Spielzeug längst eine Waffe gemacht. Immer wieder lassen sie von dort aus Drachen steigen, an denen brennende Textilklumpen oder sogar Molotow-Cocktails hängen. Diese sollen israelisches Territorium erreichen und dort Brände entfachen, was angesichts der bereits herrschenden hohen Temperaturen und Trockenheit recht einfach ist. Bei den unmittelbar im Umland zum Gazastreifen gelegenen Moschavim und Kibbuzim herrscht deswegen große Unruhe und erhöhte Alarmbereitschaft. Mehr als 30 Hektar Felder wurden auf diese Weise in der Nähe des Kibbuz Be’eri schon verwüstet und ein Schaden von über 175.000 Schekel, rund 41.000 Euro, angerichtet, heißt es aus dem Eshkol Region Council, der Regionalverwaltung.

Aber der Familienspass ist geblieben. Wie Fotos und Videos sowohl von der israelischen Armee, als auch von palästinensischer Seite beweisen, sind selbst kleine Kinder und viele Frauen mit von der Partie, wenn diese Waffen, die für wenige Cent gebaut werden können, wieder auf ihre Reise geschickt werden. Sie dienen als menschliche Schutzschilde – eine gängige Praxis bei der Hamas im Gazastreifen oder der Hisbollah im Libanon. Schließlich weiss man aus Erfahrungen nur allzu gut, dass die israelische Armee im Regelfall nicht dort zurückschlägt, wo sich viele Zivilisten aufhalten. Und sollten doch einmal Kinder oder Frauen unter den Opfern sein, so ist das wie ein Jackpot im Kampf um die Aufmerksamkeit in den Medien. Als Ende April der 15jährige Mohammed Ayoub bei einer Demonstration von israelischen Kugeln tödlich getroffen wurde, meldete sich sofort Nikolay Mladenov, UN-Gesandter für den Nahostfriedensprozess auf Twitter zu Wort. „Es ist abscheulich auf Kinder zu schießen!“ Das sind die Nachrichten, die die regierende Hamas hören möchte. Auch bei der Gestaltung der Drachen machen sich ihre Erbauer Gedanken. Das häufigste Motiv sind die Farben der palästinensischen Nationalflagge, aber auch einige mit Hakenkreuzen bemalte wurden bereits gesichtet.

Der „Drachen-Terrorismus“, wie er in den israelischen Medien mittlerweile genannt wird, ist die neueste Eskalationsstufe im Zusammenhang mit den seit nunmehr über sechs Wochen andauernden Demonstrationen im Gazastreifen an der Grenze zu Israel. Ihre Organisatoren sprechen euphemistisch von einem „Marsch der Rückkehr“. Bis Mitte Mai sollen die Proteste andauern und auf den sogenannten „Nakba-Tag“ aufmerksam machen, den „Tag der Katastrophe“, was in der Diktion der Palästinenser das Gründungsdatum des Staates Israel ist. Abhängig von der Quelle, sind bis dato bei den Versuchen, die israelischen Grenzanlagen zu stürmen, zwischen 40 und 47 Palästinenser erschossen worden oder auf eine andere Weise zu Tode gekommen. Rund 5.500 bis 7.900 Verletzte wurden gezählt. In den palästinensischen Angaben werden gerne auch die Personen als „Opfer“ gelistet, die, wie jene sechs jungen Männer am vergangenen Sonntag, bei sogenannten „Arbeitsunfällen“ umkamen: dem Hantieren mit Sprengstoff. Demonstriert wird immer am Freitag. Mal sind es 30.000 Personen, die mobilisiert werden können, mal nur 10.000.

Die israelische Armee hat bereits angekündigt, alle Drachen oder Ballons vom Himmel zu holen, bevor sie israelisches Gebiet erreichen können. Das geschieht zumeist mit Drohnen. Auch will man gezielt gegen diejenigen vorzugehen, die mit derartigem Fluggerät am Boden zu sehen sind. Armeesprecher Offizier Avichai Edery, zuständig für die Kommunikation in arabischer Sprache, erklärte dazu: „Das Phänomen der brennenden Drachen ist etwas, das wir sehr wohl zur Kenntnis nehmen und für eine äußerst ernste Angelegenheit halten.“ Und in einem Tweet sagte er ferner: „Explodierende Drachen sind kein Kinderspielzeug. Und wir betrachten sie auch nicht als ein solches. Aus Sicht der Armee ist die Hamas für alles, was innerhalb des Gazastreifens geschieht, verantwortlich. Selbst für das, was von dort losgeschickt wird.“

Doch weder die Massendemonstrationen an den Grenzanlagen noch der „Drachen-Terrorismus“ können Israel wirklich ernsthaft gefährden. Das weiss selbstverständlich auch die Hamas-Führung. Deshalb stellt sich die Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Aktionen, die bis dato so vielen Palästinensern das Leben gekostet hatten. Zum einen soll der wöchentliche „Marsch der Rückkehr“ für Aufmerksamkeit sorgen. Die eigentliche Botschaft soll lauten: „Wir sind noch da!“ Denn die politisch Verantwortlichen in der Region sind von der ewigen Blockade- und Opferhaltung mehr als genervt und haben andere Sorgen. „Vor allem Präsident Abd al-Fattah al-Sisi hat seine Geduld mit den Palästinensern verloren und kann ihre ewigen Beschwerden über jeden Siedler, der ihnen einen Olivenbaum gestohlen hat, nicht mehr hören“, sagt der Journalist Danny Rubinstein. „Er will einfach nur sicher sein, dass die Hamas IS-Terroristen aus dem Nordsinai keine Unterstützung oder Rückzugsmöglichkeiten gibt.“ Als Akteure mit einem Konzept oder Plan werden die Palästinenser – und das betrifft sowohl die Hamas als auch die mit ihr im Dauerclinch liegende Autonomiebehörde von Präsident Mahmoud Abbas – schon lange nicht mehr wahrgenommen. Mittlerweile haben sich die Prioritäten verschoben, der Gegner heisst für die sunnitischen Staaten nicht mehr Israel, sondern Iran. Und die Palästinenser sind in Riad, Kairo oder in den Emiraten eher zum Störfaktor geworden.

Zum anderen pfeift die Hamas derzeit finanziell aus dem letzten Loch. Die Wirtschaft im Gazastreifen steht vor dem Kollaps und soziale Unruhen sind nur eine Frage der Zeit. Aus diesem Grund hält sie die Auseinandersetzung mit Israel auch auf kleiner Flamme, einen richtigen Krieg könnten die regierenden Islamisten aktuell nicht mehr wirklich stemmen. Deswegen mehrten sich in den vergangenen Tagen die Gerüchte, dass man mit Israel einen längerfristigen Waffenstillstand anstrebe. Das jedenfalls wurde in israelischen Sicherheitskreisen verlautet. Über die Option eines Austauschs von Gefangenen sowie den sterblichen Überresten zweier getöteter israelischer Soldaten, die sich ebenso wie zwei israelische Geiseln in der Hand der Terrororganisation befinden, als ersten Schritt einer Annäherung soll gerade ein heftiger Streit ausgebrochen sein. Yahya Sinwar, Hamas-Chef in Gaza ist sehr daran interessiert, Ismail Haniyah aus der oberen Führung der Islamistengruppe strikt dagegen. Vor einem solchen Szenario können die aktuellen Demonstrationen als Verweis dienen, dass man es dem zionistischen Erzfeind noch einmal ordentlich gezeigt hätte und nicht einfach so eine Verhandlungsrunde einläutet – kurzum, es geht darum, das Gesicht zu wahren.

Auch im Kontext der Rivalitäten mit der in Ramallah regierenden al-Fatah und Abbas sind die Demonstrationen zu bewerten. Die Hamas kann sich im Unterschied zu dem greisen Palästinenserpräsidenten dadurch profilieren und Punkte sammeln. Doch in Ramallah bleibt man nicht untätig. Anlässlich der für den 14. Mai angesetzten offiziellen Eröffnung der amerikanischen Botschaft in Jerusalem soll – wenig originell – „ein Tag des Zorns“ ausgerufen werden, so Ahmed Majdalani vom Exekutivkomitee der PLO. Dieser Event als auch die von der al-Fatah geplanten Demonstrationen könnten der Hamas wiederum den Anlass liefern, sich etwas Neues einfallen zu lassen, um dem „Marsch auf Rückkehr“ eine neue Dimension zu verleihen. Aber vor allem die Drohungen des Irans und der Hisbollah, Israel vom Norden her anzugreifen, könnten so etwas wie der rettende Strohhalm der Islamisten im Gazastreifen sein. In einem solchen Krisenfall käme ihnen in den strategischen Konzepten der Mullahs in Teheran die Aufgabe zu, eine zweite Front im Süden zu eröffnen, und zwar mit massiver iranischer Unterstützung. Und das wären mehr als nur einige dutzend Drachen aus Nylon, Papier und Leichtholz.