Protestrabbiner

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Am 29. August 1897 wurde in Basel der Erste Zionistenkongress eröffnet. Mit der Einberufung des Kongresses sollte es Theodor Herzl gelingen, den Grundstein für das politische Gebäude des Zionismus zu legen. Von den Schwierigkeiten auf dem Weg zum Kongress zeugt der vorliegende Text…

Der Zionismus stieß von Beginn an auch auf Ablehnung innerhalb der jüdischen Welt, vor allem aus religiösen Gründen. Der Zionismus wurde als säkulare Version des Messianismus verdammt. Sorge bestand auch, dass der Zionismus die mühsam erreichten Errungenschaften der gesellschaftlichen Emanzipation zerstören könnte. So veröffentlichten beispielsweise die von Herzl daraufhin als „Protestrabbiner“ bezeichneten Rabbiner Maybaum (Berlin), Horovitz (Frankfurt), Guttmann (Breslau), Auerbach (Halberstadt) und Werner (München), Mitglieder des Vorstandes des Rabbinerverbandes in Deutschland, eine Erklärung in deutschen Tageszeitungen. Herzl entschloss sich daraufhin, den ursprünglich in München geplanten Kongress in Basel einzuberufen.

Theodor Herzl:
Protestrabbiner
(16. Juli 1897)

Das neueste in der Judenbewegung sind die Protestrabbiner. Max Nordau hat diesen Typus bereits mit einem Wort gebrandmarkt, das bleiben wird: Es sind die Leute, die im sicheren Boot sitzen und den Ertrinkenden, die sich an den Bootrand klammern möchten, mit dem Ruder auf die Köpfe schlagen. So ist schon der gewöhnliche aggressive jüdische Zionsfeind. Nimmt man noch die Anstellung als „Seelsorger“ einer größeren Gemeinde hinzu, so ist der Protestrabbiner fertig. Fünf solche Protestrabbiner haben im „Berliner Tageblatt“ und an anderen Orten die nachstehende Erklärung erlassen:

Der geschäftsführende Vorstand des Rabbinerverbandes in Deutschland: Dr. Maybaum (Berlin), Dr. Horovitz (Frankfurt), Dr. Guttmann (Breslau), Dr. Auerbach (Halberstadt), Dr. Werner (München) veröffentlicht folgende Erklärung: „Durch die Einberufung eines Zionisten-Kongresses und durch die Veröffentlichung seiner Tagesordnung sind so irrige Vorstellungen über den Lehrinhalt des Judentums und über die Bestrebungen seiner Bekenner verbreitet worden, daß der unterzeichnete Vorstand des Rabbinerverbandes in Deutschland es für geboten erachtet, folgende Erklärung abzugeben:

1. Die Bestrebungen sogenannter Zionisten, in Palästina einen jüdisch-nationalen Staat zu gründen, widersprechen den messianischen Verheißungen des Judentums, wie sie in der heiligen Schrift und den späteren Religionsquellen enthalten sind.

2. Das Judentum verpflichtet seine Bekenner, dem Vaterlande, dem sie angehören, mit aller Hingebung zu dienen und dessen nationale Interessen mit ganzem Herzen und mit allen Kräften zu fördern.

3. Mit dieser Verpflichtung aber stehen nicht im Widerspruch jene edlen Bestrebungen, welche auf die Kolonisation Palästinas durch jüdische Ackerbauer abzielen, weil sie zur Gründung eines nationalen Staates keinerlei Beziehungen haben.

Religion und Vaterlandsliebe legen uns daher in gleicher Weise die Pflicht auf, alle, denen das Wohl des Judentums am Herzen liegt, zu bitten, daß sie sich von den vorerwähnten zionistischen Bestrebungen und ganz besonders von dem trotz aller Abmahnungen noch immer geplanten Kongreß fern halten.“

Das ist ein merkwürdiges Dokument. Der erste Eindruck, den wir davon haben, ist, daß es das Ansehen der Juden nicht gerade erhöhen wird. Die ganze Erklärung ist ja, wie jeder Jude auf den ersten Blick sieht, nach außen hin gewendet. Es ist eine jener verächtlichen und verachteten Beteuerungen, die um die Gunst der Feinde winseln.

Zum Glück sind nicht alle Rabbiner so. Namen, wie die von Mohilewer in Bialystok, Zadok Kahn in Paris, Rülf in Memel, Gaster in London und viele, viele andere können wir nur in aufrichtiger Verehrung nennen. Und wir tun es nicht als Parteileute. Der Zionismus ist keine Partei. Man kann zu ihm von allen Parteien kommen, gleichwie er alle Parteien eines Volkslebens umfaßt. Der Zionismus ist das jüdische Volk unterwegs. Und darum ist das Verhalten der Protestrabbiner ein ungeheuerliches.

Will einer von der jüdischen Nation, aus der er stammt, sich wegwenden und zu einem anderen Volk übergehen, so mag er es nur tun. Wir Zionisten werden ihn nicht aufhalten. Nur ist er ein Fremder für uns. Seine neuen Volksangelegenheiten kümmern uns nicht näher, aber auch ihn nicht die unserigen. Er hat bei uns nichts dreinzureden, und wenn er klug ist, wird er es auch gar nicht versuchen, denn es kann ihn bei Teutonen, Galliern, Angelsachsen nur verdächtig machen, wenn er sich noch um innere jüdische Sachen sorgt. Will er für seine assimilatorische Lösung der Judenfrage Genossen werben, so ist dazu das beste Mittel, daß er zeige, wie gut man ihn aufnimmt, wie voll man ihn anerkennt, wie wohl er sich befindet.

Aber dem Judentum angehören, das Judentum sozusagen berufsmäßig ausüben und es gleichzeitig bekämpfen, das ist etwas, wogegen sich jedes rechtliche Gefühl auflehnen muß.

Sehen wir uns nun Punkt für Punkt die „Erklärung“ der fünf Herren an. Sie beruht auf einer fundamentalen Unwahrheit. Die fünf Herren geben an, daß „durch die Einberufung eines Zionistenkongresses so irrige Vorstellungen über den Lehrinhalt des Judentums und über die Bestrebungen seiner Bekenner verbreitet worden“ seien. Wo haben die fünf Herren in der „Einberufung“ oder in der Tagesordnung des Kongresses irgend einen Hinweis auf den „Lehrinhalt des Judentums“ gelesen? Davon steht kein Wort, keine auch nur entfernte Andeutung in den Verlautbarungen der Einberufer. Folglich kann an den „so irrigen Vorstellungen über den Lehrinhalt“, den diese fünf Herren zu kennen angeben, auch etwas anderes Schuld sein, als die Einberufung des Kongresses. Die fünf Herren müssen übrigens recht herzlich gelacht haben, als sie die „so irrigen Vorstellungen über den Lehrinhalt usw.“ zum Vorwand nahmen. Und sie gehen nun zu Punkt 1 über. „Die Bestrebungen sogenannter Zionisten usw.“ „Sogenannt“ ist gut, „sogenannt“ ist sogar sehr gut. Es ist Ironie darin. Spätere Kommentatoren werden Punkt 1 der Erklärung den ironischen nennen. Was mögen die fünf Herren wohl für ein Gesicht dazu gemacht haben, als sie die „messianischen Verheißungen des Judentums“ in den Mund nahmen? Wir wissen ja schon, wie sie alles in sein Gegenteil drehen und umdeuten. Wenn sie von Zion sprechen, ist alles darunter zu verstehen, nur um Gottes willen nicht Zion.

Es ist uns von einem ebenso wahrhaft frommen wie gelehrten Manne eine gründliche Widerlegung dieses ersten Punktes zur Verfügung gestellt worden. Gerade aus der heiligen Schrift und den späteren Religionsquellen beweist unser Freund die Richtigkeit der zionistischen Bestrebungen. Aber wir versagen es uns, diese Gründe ins Treffen führen zu lassen, weil es sich nicht um eine theologische Diskussion handelt.

Und nun kommen wir zu Punkt 2. Was soll das heißen, wenn „das Judentum seine Bekenner verpflichtet, dem Vaterlande, dem sie angehören, mit aller Hingebung zu dienen“ usw.? Das hat doch nur einen denunziatorischen Sinn. Man merkt übrigens, daß die Wiege des Herrn Maybaum nicht in Deutschland gestanden hat. Die Protestrabbiner von Frankfurt, Breslau, Halberstadt und München halten einen des Deutschen mächtigeren Schriftsteller mit der Abfassung der Urkunde betrauen sollen. Ein Deutscher schriebe nie: „das Vaterland, dem ich angehöre“, sondern „mein Vaterland“, „dein Vaterland“, „ihr Vaterland“. Man gehört einem Vaterland nicht an, sondern es gehört einem; jedem einzelnem gehört das ganze Vaterland. Wem aber sein Vaterland nicht gehört, der ist übel dran. Er liebt es darum noch immer, weil er eben nicht aufhören kann, es zu lieben. Diese Liebe äußert sich nicht in hohlen Deklamationen, sie schließt jede Opferbereitschaft ein; aber sie schließt nicht aus, daß sich die Energischen auf sich selbst besinnen und nach einer Lösung suchen, durch die Abhilfe geschaffen werden kann. Und es ist durchaus keine! Spitzfindigkeit in der Auffassung der Zionisten: daß jeder seinem Vaterland ebensosehr diene, wie der Nation, der er angehört — hier ist das Wort am Platze wenn er den inneren Frieden der Bürgerschaft durch eine vernünftige und moderne Kolonisationsbewegung herbeizuführen trachtet.

Die fünf Herren verbeugen sich übrigens beim dritten Punkt, welchen man den ausweichenden nennen kann, auch vor den „edlen Bestrebungen“, jüdische Ackerbauer in Palästina anzusiedeln. Und das enthält eine leichte aber verständliche Augendienerei gegenüber gewissen wohlhabenden Glaubensgenossen, die für die Kolonisation große Opfer bringen wollen. Wir Zionisten halten nun freilich die Bauernansiedlung für törichter als edel, wenn es ohne völkerrechtliche Garantien geschieht. Wir wollen ja unsere armen, schwerbedrückten, verfolgten Brüder nicht nur in der Hast fortschaffen, sondern auch ihre Zukunft sichern. Und daß wir diese Garantien herstellen wollen, das wagt man zu verdächtigen, anzugreifen?

Die fünf Herren schließen mit der dringenden Aufforderung, man möge sich von dem „trotz aller Abmahnungen noch immer geplanten Kongreß“ fernhalten. Die Herren mögen abmahnen, so viel sie wollen, der Kongreß findet statt, weil er stattfinden muß, weil das zerstreute Volk seiner mit Sehnsucht und Hoffnung harrt. Beispiellos ist die Lage der Juden, und es wäre uns versagt, darüber in Ruhe und vollster Gesetzlichkeit, unter den Augen aller Welt zu beraten? Welcher rechtschaffene Christ wird darin etwas Tadelnswertes finden? Wenn unsere Bestrebungen keine Sympathien erwecken, so werden uns die Mächtigen dieser Erde einfach nicht unterstützen, so werden uns die Völker nicht bei dem Erlösungswerke helfen — und der Jammer wird eben fortdauern. Wessen Lage verschlechtern wir damit? Gibt es einen einzigen Vorwurf, den man uns nicht schon früher machte? Die Brand- und Hetzreden, die neunundneunzigmal gegen uns geführt wurden, wird man zum hundertsten Male halten. Aber auch das glauben wir nicht. Wir haben deutliche Zeichen dafür, daß unsere Loyalität und Offenheit selbst unseren Gegnern, vor die wir ruhig hintreten, nicht mißfällt. Schließlich spricht doch ein großes Leiden aus unserer Bewegung, und mit dem Menschlichen findet man immer den Weg zum Herzen der Menschen. Wer wird es uns verübeln, wenn wir, die zumeist nicht unmittelbar betroffen sind, am namenlosen Elend unserer Brüder nicht kalt vorübergehen?

Wo aber waren und sind die Protestrabbiner mit ihren Protesten, wenn unglückliche Juden, unglücklich nur, weil sie Juden sind, beschimpft, beraubt und erschlagen wurden und werden? Jetzt in Algier, und jetzt in Rußland, bald in Persien und bald in Galizien, hier und dort und überall Klagerufe. Und die Protestrabbiner murmeln dann höchstens in ihren Verdauungsstunden etwas von einer Mission; von einer Mission, die der krasseste Hochmut wäre, wenn sie überhaupt etwas bedeutete, denn die Kulturvölker würden und müßten sich entschieden verbieten, von uns missionarisiert zu werden. Wenn es eine jüdische Mission gab, so war das Christentum, und das ist auf die Herren Protestrabbiner nicht mehr angewiesen.

Der Zionismus aber, das sehen wir immer deutlicher, wird zu einer heilsamen Krise des Judentums werden. Die Gegensätze, die entstehen, müssen zu einer Klärung verrotteter Verhältnisse, und endlich zu einer Läuterung des Volkscharakters führen. Alles ist zum Guten. Es ist auch zum Guten, daß manche Rabbiner gegen ihr eigenes Volk eine solche Stellung einnehmen. Und wäre es auch nur, daß eine neue Bezeichnung für diese Herren gewonnen wurde, so ist auch das schon von Wert. Ein Mohilewer, ein Hülf, edle, bewundernswerte Männer, die in ihren treuen Herzen jedes Leid ihrer armen Glaubensgenossen mitlitten, die mitten drin im Volke stellen, wo es am schwersten verfolgt wird – sie hießen nicht anders als der erstbeste Hochzeits- oder Leichenredner. Jetzt haben wir die Unterscheidung. Damit sie fürder nicht mit den guten Rabbinern verwechselt werden, wollen wir die Angestellten der Synagoge, die sich gegen die Erlösung ihres Volkes wehnen, die Protestrabbiner nennen.

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