Wurde eine Jüdin in einem Pariser Sozialbau „nur zufällig“ zum Mordopfer?

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Ein drogensüchtiger Nachbar stürzte Lucie Halimi aus dem Fenster in den Tod. Die Behörden schließen Antisemitismus als Motiv aus, Frankreichs Medien schweigen. Aber der Sohn der Getöteten sagt, die Familie des Täters habe seine Mutter als Jüdin angefeindet. Bei einer Trauerdemo kam es zu Zwischenfällen…

Von Danny Leder, Paris

Ein Mordfall wühlt Teile der jüdischen Bevölkerung in Paris auf, während zumindest bisher Frankreichs Medien das Ereignis weitgehend ignoriert haben, sieht man einmal von zwei ziemlich bescheidenen und verhaltenen Artikeln in der Lokalbeilage der Tageszeitung Parisien ab. Am vergangenen Dienstag (5.April), wurde eine 67 jährige orthodoxe Jüdin, die Ärztin und Kinderkrippen-Leiterin Lucie Sarah Halimi, in ihrer Wohnung, in einem Sozialbau im Pariser Migranten-Viertel Belleville, von einem Nachbarn schwer misshandelt, zum Fenster gezerrt und vier Stöcke in die Tiefe gestürzt. 

Der Täter ist ein 27 jähriger Angehöriger einer muslimischen, franko-afrikanischen Familie, die im zweiten Stock des selben Hauses wie Halimi wohnte. Der Mann war vor seiner Tat, so hieß es in ersten Zeugenberichten, in einen rabiaten Streit mit seiner eigenen Familie geraten. Die Familie hätte ihn ausgesperrt, daraufhin sei er in die Wohnung eines Nachbarn gelangt, mit dem er ebenfalls gestritten habe. Schließlich sei er auf den Balkon der Nachbarwohnung gelaufen und von dort in die Wohnung von Halimi hochgeklettert.

Die Polizei wurde alarmiert, eine dreiköpfige Streife erschien vor dem Gebäude, wartete dann aber auf Verstärkung durch eine Sondereinheit. Möglicherweise wurde in dieser Zeitspanne der Mord an Halimi verübt.

Der mehrfach vorbestrafte, drogensüchtige Täter soll bereits zuvor in psychiatrischer Behandlung gestanden sein. Nach seiner Festnahme wurde er von den Behörden wiederum in eine geschlossene psychiatrische Anstalt der Pariser Polizeipräfektur eingeliefert.

Sohn des Mordopfers widerspricht Staatsanwalt

Der zuständige Pariser Staatsanwalt, der jüdische Gemeindevertreter zu einer Aussprache empfing, schloss in einer ersten Stellungnahme „antisemitische Beweggründe“ aus. Aber der Sohn des Mordopfers, Yonathan Halimi, der in Israel lebt (wo auch Lucie Halimi in der Vorwoche beerdigt wurde), erklärte gegenüber dem jüdischen Magazin „Actualités Juives“: „Ich zweifle nicht daran, dass meine Mutter getötet wurde, weil sie Jüdin war“. Die Familie des Täters sei für „ihren Antisemitismus bekannt“, im Stiegenhaus habe es deswegen mehrere Zwischenfälle gegeben: „Eines Tages hat die Schwester des Mörders meine Schwester in den Stiegen gestoßen, ein andermal hat sie sie als dreckige Jüdin beschimpft“.

Der jüdische Abgeordnete der französischen Zentrumspartei UDI, Meyer Habib, erklärte: „Der Antisemitismus ist vielleicht nicht die Ursache aber mindestens der entscheidende Faktor des Mordes. Hätte der Mörder eine Dame, die aus Mali oder Algerien stammt, aus dem Fenster gestürzt? Das bezweifle ich sehr.“

Nicht der erste „unzurechnungsfähige“ Judenmörder

Es ist auch nicht das erste Mal, dass bei einem Mord an einem Juden, der Täter schon zuvor durch ein gestörtes Verhalten aufgefallen war. Begonnen hatten die antijüdischen Gewalttaten in Frankreich im November 2003, als in einem Sozialbau, nicht weit vom jetzigen Tatort, ein junger Muslim, der ebenfalls unter psychotischen Schüben litt, seinen jüdischen Nachbarn und Kindheits-Freund, Sébastien Selam, erstach und sein Gesicht anschließend auch noch mit einer Gabel entstellte. Der Täter sagte danach vor Zeugen: „Ich komme ins Paradies, ich habe einen Juden getötet“. Die Justiz erklärte ihn für unzurechnungsfähig.

Auch etliche der dschihadistischen Massenmörder, wie etwa der Mann, der das Massaker von Nizza im Juli 2016 verübte, waren zuvor bereits verhaltensauffällig gewesen. Tatsächlich zieht die dschihadistische Propaganda, so wie alle menschenverachtenden Ideologien, gestörte Persönlichkeiten in ihren Bann. Und der Islamismus, der diese Personen umgibt, befeuert den mörderischen Hass auf Juden.    

Trauerdemo in Belleville

Am Sonntag (9.April) nahmen im Zentrum des Migranten-Viertels Belleville rund 1000 Personen an einem Trauermarsch für Lucie Halimi teil, der zu ihrem Wohngebäude zog. Unter den – überwiegend jüdischen Marschierern – befand sich auch eine afrikanisch-stämmige Muslimin, die sich mit Rührung an Lucie erinnerte, die sie als Leiterin einer Kinderkrippe kennengelernt hatte: „Sie hatte ein unglaubliches Engagement für die Kinder“.

Während ein Teil der Demonstranten und die anwesenden jüdischen Würdenträger weiße Blumen vor sich her hielten und vor allem ihre Trauer zum Ausdruck brachten, kochte bei anderen Teilnehmern die Wut über die Gewalttaten, Drohungen und Demütigungen, die Juden manchmal in Vierteln erleiden, in denen junge Muslime eine Art von Vorherrschaft ausüben. 

„Wir kommen nur mehr zusammen, um unsere Toten zu betrauern“, meinte ein Demonstrant.

Und während in einem Teil der Kundgebung von „ Gerechtigkeit für Sarah“ die Rede war, rief eine Gruppe von jüngeren Demonstranten: „Rache für Sarah“ und „Keine Araber, kein Terror“. Ein Gebet wurde verlesen, die israelische Fahne ausgebreitet, die „Hatikwa“ angestimmt, gefolgt von einer noch frenetischer und von noch mehr Teilnehmern gesungenen „Marseillaise“.

Schreiduelle und kurze Verfolgungsjagd

Zuvor war es zu kurzen Schreiduellen zwischen ein paar arabischen und afrikanischen Hausparteien (des Gebäudes, in dem Halimi gewohnt hatte) und Teilnehmern der Trauer- Demo (darunter auch einige, wenn auch wenige Afrikaner) gekommen. Ein Trupp junger jüdischer Demonstranten verfolgte einige arabisch-stämmige junge Männer, die, so die Gerüchte, den Kundgebungsteilnehmern Schmähungen zugerufen hätten. Es gab aber keine Verletzte, behelmte Polizisten nahmen Aufstellung, mussten aber nicht eingreifen.

Die jungen Franko-Araber erklärten, hernach vor einer Kneipe versammelt, sie seien grundlos angegriffen worden. Die jungen Juden hätten „unter Polizeischutz agiert“ und „versteckte Waffen“ getragen. Der Täter habe seit langem in der Kneipe verkehrt, sie kannten ihn. Er habe „rein zufällig“ eine Jüdin getötet, es hätte genauso gut jemanden anderen treffen können. „Wir leben problemlos mit den Juden im Viertel zusammen, aber wenn diese jungen Juden einem Jungen von Belleville auch nur ein Haar krümmen, dann wird es kein Halten mehr geben“, drohte einer.   

Auf der anderen Seite des inzwischen aufmarschierten Polizei-Spaliers, bei den verbliebenen jüdischen Demonstranten, kam es zu wütenden Wortgefechten zwischen dem Parlamentarier Meyer Habib, der den französischen Rechtsstaat verteidigte und ein würdiges Verhalten einmahnte, und ein paar Kraftlackeln, die Habibs Argumente als „ewiges Gequatsche“ abtaten.

Letzteres war nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung der Demonstranten, die hauptsächlich aus volkstümlichen jüdischen Kreisen und den umliegenden ärmeren Pariser Vierteln kamen. Aber zweifellos überwiegt das Gefühl, die Juden seien gefährdeter denn je und würden von einer desinteressierten Öffentlichkeit und einem hilflosen Staat im Stich gelassen werden. Medien und Behörden, so der mehrfach geäußerte Verdacht, würden auch wegen der bevorstehenden Präsidentenwahlen diesen Mord herunterspielen – um die Hilflosigkeit der Regierung zu kaschieren. Das mag an den Haaren herbeigezogen sein, aber Tatsache ist, dass bei der Demo vom Sonntag kein einziges Kamera-Team eines TV-Senders zugegen war.

Bild oben: Die israelische Tageszeitung Yediot Achronot über den Mord: „Kein Sturz – ein Anschlag“