Erinnern heißt zurückgehen in die Familiengeschichte und in die politische Zeitgeschichte. Beate Niemann benennt eine beidseitige Verkettung im erinnerungskulturellen kollektiven Kontext. Sie hat das tabuisierte Familiengeheimnis durchbrochen, es öffentlich gemacht, als Zeitzeugin ihrer Eltern arbeitet sie gegen das Vergessen, das Verleugnen, das Verschweigen, das Relativieren…
Beate Niemann ist Verfasserin der Biographie über ihren Vater Bruno Sattler, „Mein Guter Vater, eine Täterbiographie“, die 2005 erschien. In ihrem neuen Buch schreibt sie erstmalig über ihre Mutter. Welches Erbe gab ihre Mutter der dritten und jüngsten Tochter mit auf ihrem Weg und was hat sie daraus gemacht? Niemann sagt: „Ich habe früh entschieden, nicht so werden zu wollen, wie meine Mutter. Mein abwesender Vater war meine Lichtgestalt, wenn meine Mutter mit mir schimpfte: ‚Du siehst nicht nur aus wie Dein Vater, Du bist auch wie er‘, war ich beruhigt, nicht so zu sein wie meine Mutter.“ Spät in meinem Leben musste ich bitter lernen, dass mein Vater ein überzeugter Nazi-Mörder war, meine Mutter die NS-Täterin an seiner Seite. Da wollte ich nicht mehr so aussehen wie mein Vater.“
Niemann Zeitgeschichte setzt sich fort, nicht nur in historisch nachgewiesenem Material, sondern in Bildern und Klischees, die den Nachkommen verbal oder nonverbal übermittelt wurden. Wie gehen ihre Kinder und Enkel mit dem Erbe um, inwieweit ist die NS-Täterschaft ihrer Großeltern in ihrem Leben präsent? Ihre Tochter – ehrenamtlich engagiert in der Flüchtlingsnotunterkunft im ehemaligen Rathaus Berlin-Wilmersdorf – und eine Cousine Niemanns enthüllen ihre Sicht auf die innerfamiliären Auswirkungen. Als enge Freunde und politische Wegbegleiter schreiben Marianne Horstkemper sowie Petra Lidschreiber und Yoash Tatari über die Jahre, in denen sie Niemann gut kennengelernt haben.
Beate Niemann, Ich lasse das Vergessen nicht zu. NS-Vergangenheit im familiären und kollektiven Gedächtnis, Lichtig Verlag 2017, 112 S., Euro 14,90, Bestellen?
Zeit ist Erinnerung
Warum ich wollte, dass Beate dieses Buch schreiben sollte
Im Spätsommer 2013 sollte ich Beate Niemann im Rahmen einer informellen Veranstaltung „Fachöffentlichkeit schulischen Gedenkens“ kennenlernen. In der Vorstellungsrunde sagte Beate Niemann: „Mein Vater war Bruno Sattler, Kriminaldirektor und SS-Sturmbannführer. In Einsatzorten in der Sowjetunion, Jugoslawien und Ungarn war er am NS-Massenmord beteiligt. Als Chef der Gestapo erarbeitete er in Belgrad einen Einsatzplan für den angeforderten Gaswagen. Bei diesem Gaswageneinsatz wurden innerhalb weniger Wochen tausende jüdischer Menschen vergast.“
Ich verspürte in mir sofort einen Zwiespalt zwischen spontanem Zurückweichen und Wissen-Wollen – trotz meines Entsetzens. Meine Neugierde an der neben mir sitzenden Frau Niemann obsiegte. Mir war bisher ihre Art, mit so deutlichen Worten über die Beteiligung an Massenmorden ihres Vaters zu sprechen und diese klar in einen historischen Kontext stellen zu können, nicht begegnet.
Ich fragte mich, was sie seinerzeit im Alter von 55 Jahren bewogen hatte, die elterlichen Familiengeheimnisse samt systemloyaler NS-Belastung aufzuspüren, zu recherchieren, Rückwirkungen von NS-Verstrickungen zu enttarnen, quellenfundiert zu belegen und lückenlos zu dokumentieren. Ich dachte: „Chapeau!“ Mich interessierte, welche Hindernisse ihr bei diesem Unterfangen in Deutschland gesellschaftlich in den Weg gestellt wurden und welche familiären Loyalitätskonflikte sie hierbei wohl mühsam überwinden lernen musste.
Gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Jürgen Müller-Hohagen arbeitete ich 2013 gerade an einer Anthologie „Beidseits von Auschwitz – Identitäten in Deutschland nach 1945“, an der Nachkommen beider Seiten mitarbeiten konnten, indem sie über ihre Identität schrieben, wie sie wurden, was sie sind. Ich fragte Beate Niemann, ob sie einen Beitrag schreiben würde.
Als ich ihr Manuskript „Warum tust Du das – wann hörst Du endlich auf – nun muss mal langsam Schluss sein“ im Frühsommer 2014 las, dachte ich darüber nach, wie viel an Schmerzen, Zorn, Erschütterung sie durchlebt haben mag, um sich nicht mehr der ihr auferlegten Loyalität zu ihren Eltern verbunden zu fühlen.
In Podiumsdiskussionen und in über einem Jahr währenden persönlichen Gesprächen, in denen wir uns nach und nach behutsam aneinander annäherten, wurden wir miteinander langsam vertraut. Ein wesentlicher Auslöser und Beginn unserer Freundschaft war der Moment, als andere jüdische Autoren aus dem Buch „Beidseits von Auschwitz“ und ich bei ihr im Mai 2016 zuhause waren. Ich war berührt von der uns wärmenden Gastfreundschaft und von der Atmosphäre, die sie umgibt.
Irgendwann verstand ich, dass sie das empörte Entsetzen über das historisch Geschehene antreibt. Sie sagte mir, „Fassungslos – im Sinne des Wortes zu sein – bedeutet für mich während des Lesens im Archiv, meinen Vater von der historischen Person Bruno Sattler zu trennen, um die erworbenen und notierten Fakten überhaupt aushalten zu können. Die Schwerarbeit beginnt zuhause, wenn es darum geht diese beiden Teile eines Menschen zu einer Person wieder zusammenzufügen. Diese innere Arbeit kann ich nur allein mit mir leisten. Ich nenne es, etwas scheibchenweise zulassen zu können“.
Beate Niemann wurde am 6.6.1942 in einem „arisierten“ Haus in Berlin geboren, das ihren Eltern aufgrund ihrer völkisch-antisemitisch-nationalsozialistischen Gesinnung zugesprochen wurde. Ihr Vater schrieb aus Belgrad: „Nun ist Beate im eigenen Haus geboren.“ Konkret heißt das, in einem Haus geboren worden zu sein, das ihre Eltern der jüdischen Besitzerin Frau Gertrud Leon, die von Todesgefahr bedroht war, abgepresst hatten. Beim Lesen der Zeilen über Niemanns Mutter wird deren Rohheit und ihr nicht vorhandenes Unrechtsbewusstsein schmerzlich spürbar. Wie anders ist es zu erklären, dass sie kurz vor der Niederkunft ihres dritten Kindes die Selbstverständlichkeit aufbringen konnte, die 61 Jahre alte Frau Leon in den sicheren Tod zu schicken? Allein dadurch, dass es für die NS-Volksgenossen von 1933 an Jahr für Jahr immer leichter wurde, sich in jener Zeit legal jüdisches Eigentum aneignen zu können?
Bruno Sattler wurde nach Auflösung der Belgrader Dienststelle im Oktober 1944 zur Gestapo nach Groß Raigern / Süd Böhmen versetzt und im Dezember 1944 nach Wien. Hier gehörte er dem „Sonderstab ungarische Rückführungsaktion“ an. Damit wurde die Ermordung der ungarischen Juden und Roma umschrieben. Am 9. Mai 1945 floh Sattler in Zivilkleidung bei Linz nach Deutschland und versteckte sich bei Verwandten im Harz.
Niemanns Vater hatte nicht die Gelegenheit – wie so viele andere Alt-Nazis, ehemalige NSdAP-Mitglieder, Bystander, Claqueure, Profiteure, Kriegsverbrecher… – unbehelligt und fast nahtlos seine Karriere neu zu starten. Seine Tochter hörte als Kind, dass er 1947 nach seiner geglückten Flucht aus Österreich aus Westberlin verschleppt und in der DDR in einem Geheimprozess verurteilt wurde. Da Beate Niemann nicht nur von ihrer Mutter, ihren beiden älteren Schwestern und dem Freundeskreis der Familie (Kameraden, Bundesbrüder…) seit frühester Jugend über die NS-Untaten ihres Vaters getäuscht wurde und sie ihn darüber hinaus wegen der DDR-Haft als „unschuldiges Opfer“ eines Unrechtsregimes ansah, setzte sie zu seinen Lebzeiten alles daran, ihn freizubekommen – das misslang.
Bruno Sattler nutzte seine Machtposition im NS-Regime, um eine behinderte Nichte und einen behinderten Neffen vor der sogenannten Euthanasie, vor der von den Nationalsozialisten angeordneten und durchgeführten Ermordung „lebensunwerten“ Lebens, zu bewahren. Gleichzeitig ließ er qua seines Amtes zigtausend andere Menschen, die er aus Rassegründen für „lebensunwert“ ansah, ermorden und schreckte nicht vor erpresserischer Besitzaneignung und Raubmord zurück. Mit dieser bitteren Erkenntnis lebt die Tochter bis heute.
Ich danke Beate Niemann für das große Vertrauen, das sie mir entgegengebracht hat und für ihre Bereitschaft als auch für ihre Leistung, die sie vollbringt, gegen das Vergessen anzuschreiben und aufzutreten.
Vor mir liegt ihr Manuskript zum Buch „ Ich lasse das Vergessen nicht zu“, darauf ein Opalglas Briefbeschwerer aus den 1920er Jahren mit dem Judaika Motiv „Schadai“, umrahmt von einem Davidstern, den sie vor Jahrzehnten auf einem Berliner Trödelmarkt erstanden hatte. Geschichte spiegelt sich in dem Opalglas. Ein Atemzug des Innehaltens. Da denke ich an den bündelweise geraubten Hausrat, die gestohlenen silbernen Schabbat Leuchter, das unter Todesdrohung abgepresste Gold, an die zwangsweise Übertragung jüdischen Besitzes in „arischen“ Besitz, an die massenhaft ermordeten Menschen…
Zeit ist Erinnern, Beate in herzlicher Verbundenheit zugeneigt. Meine Wertschätzung gilt der mutigen Auseinandersetzung mit ihrer belasteten familiären Geschichte.
Nea Weissberg im Dezember 2016