„Bleib ein Mensch, Kamerad“

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Den Wiener Schriftsteller Jura Soyfer (neu) entdecken…

von Monika Halbinger

Auch wenn Jura Soyfer im Gedächtnis der Stadt Wien an mehreren Orten präsent ist, so z.B. in Form einer Gedenktafel an seinem letzten Wohnhaus in der Heinestraße 4 in unmittelbarer Nähe zum Praterstern, und von Literaturkennern nicht mehr unbedingt als Geheimtipp gehandelt wird, so ist es doch wieder an der Zeit, ihn verstärkt ins allgemeine Bewusstsein einer breiteren deutschsprachigen Öffentlichkeit und vor allem in deren Bücherschränke zurückzuholen. Das neue, von Erna Wipplinger, Margit Niederhuber und Christoph Kepplinger herausgegebene Buch „Jura Soyfer. Ein Lesebuch“ bietet hierfür eine Auswahl aus dem vielfältigen Schaffen dieses bedeutenden politischen Schriftstellers.

Mit seinen Gedichten, Feuilletons, Theaterstücken und Kabaretttexten war  Jura Soyfer ein Chronist der österreichischen Gegenwart der späten 1920er und 1930er Jahre mit ihren tiefen gesellschaftlichen Gräben.  Er dokumentierte den aufkeimenden Faschismus sowie den Übergang vom Ständestaat in die nationalsozialistische Diktatur. Die schwierige Wirtschaftslage verschärfte noch die sozialen Konflikte.  Soyfer, der als neunjähriger Bub mit seinen Eltern 1921 aus dem russischen Charkow (heute Ukraine) nach Wien geflohen war und aus einer ursprünglich wohlhabenden bürgerlichen Familie stammte, erhielt seine politische Sozialisation in der sozialdemokratischen Jugendbewegung der Stadt, was für Jugendliche aus dem bürgerlich-jüdischen Milieu nicht untypisch war. Ab 1931 studierte er dann Deutsch und Geschichte an der Universität Wien, die damals eine „Kampfzone“ war, mit zahllosen brutalen Übergriffen von nationalsozialistischen auf jüdische und linke Studenten.[1] Soyfer, der in den Anfängen vor allem für die „Arbeiter-Zeitung“ schrieb, sah in der Literatur ein Mittel der Aufklärung und des politischen Kampfes gegen Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit und soziale Missstände.

In „Verzweiflung der Jugend“ (S. 19)  thematisiert er die Perspektivlosigkeit  seiner Generation, in seiner Reportage „Honoratioren contra Hafendirnen“ (S. 22), die während seiner Deutschlandreise 1932 entstand,  geißelt er die Prostitution in Hamburg als eine Schattenseite des Kapitalismus. In „Naschmarkt, 2 Uhr früh“ (S. 38) schildert er ironisch den schweren Alltag der kleinen Händler, der sogar nicht dem weit verbreiteten, sozialromantisch verklärten Bild von Alt-Wien entspricht. Viele seiner Sozial- und Milieustudien erscheinen frappierend aktuell. Ein Beispiel dafür ist der Artikel „Motorräder“ (S.  28). Soyfer schildert einen Reporter, der den sozialen Aufstieg zweier Brüder beschreibt, die sich mit einem Motorradgeschäft selbständig gemacht hatten und reich geworden waren. Das Geschäft expandiert sogar in Krisenzeiten, basierend auf dem wirtschaftlichen Geschick der Brüder. Der Reporter sieht diese Geschichte als „Märchen der Wirklichkeit“ und als Indiz dafür, dass jeder doch alles erreichen, „vom Zeitungsjungen zum Millionär“ sich hocharbeiten kann. Erst am Ende wird klar, dass – entgegen der Annahme des Reporters  – die Brüder eben nicht ganz ohne Geld ihre Unternehmung begonnen hatten, sondern von den Eltern mit ein paar Tausend Schilling unterstützt wurden. Ernüchtert stellte der Reporter fest: „Diese Generation kann allerhand leisten. Aber ein richtiger Start, und ein gleicher Start für alle Fahrer – das wäre entscheidend.“ Soyfers Parabel ist auch für die heutige Gesellschaft, in der Wohlstand weniger erarbeitet, als ererbt wird, und die ökonomischen Voraussetzung des Elternhauses entscheidend für die Lebenschancen der Kinder sind, hochbrisant.

Nach den Februarkämpfen 1934 trat Soyfer – wie viele andere auch –  aus Enttäuschung über die Sozialdemokratie, der bereits seit 1933 verbotenen Kommunistischen Partei Österreichs bei. Viele sahen in dem zögerlich-unentschlossenen Verhalten der Sozialdemokratie gegenüber dem Austrofaschismus den eigentlichen Grund für den Niedergang der Ersten Republik. Dem Bürgerkrieg folgten dann auch das Verbot der Sozialdemokratischen Partei, der Gewerkschaften, aller sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen sowie die Ausrufung des Ständestaates.

Das Versagen der Sozialdemokratie beschreibt Soyfer in dem Romanfragment „So starb eine Partei“, dessen Vorspiel in vorliegendem Lesebuch abgedruckt ist (S. 43). Soyfer porträtiert hier mit dem Beamten  Franz Josef Zehetner einen österreichischen Opportunisten, der vorsichtshalber Mitglied verschiedener Parteien und Organisationen ist, um für alle politischen Entwicklungen gewappnet zu sein, sich selbst als zu kurz gekommen sieht und sich nach „Führung“ sehnt. Die Geisteshaltung dieses „typischen“ Kleinbürgers weist antisemitisches, demokratiefeindliches und illiberales Gedankengut, gepaart mit einer deutschnationalen Orientierung, auf.  Dieser leider Fragment gebliebene Roman antizipiert nicht nur die mentalen Grundlagen, die 1938 zum „Anschluss“ führten, sondert  zeigt verstörende Parallelen zur gegenwärtigen Verfasstheit bestimmter politischer Milieus in Österreich.

Im Jahr 1936, als  der austrofaschistische österreichische Bundeskanzler Schuschnigg mit Hitler das Juliabkommen schloss und damit keineswegs die österreichische Unabhängigkeit sicherte, sondern den verhängnisvollen „deutschen Weg“ einschlug, schrieb Jura Soyfer sein Stück „Der Weltuntergang“ (S. 103, 1. Bild), in dem der Menschheit die Zerstörung durch den Kometen Konrad droht, gewissermaßen als Allegorie im Angesicht einer sich immer weiter zuspitzenden realen Bedrohung.

1937 wurde Soyfer wegen kommunistischer Betätigung verhaftet, im Februar 1938 aufgrund einer Amnestie entlassen. Am 13. März 1938 erfolgte beim Fluchtversuch an der Schweizer Grenze die Verhaftung und Einlieferung ins Konzentrationslager Dachau. Von dort wurde er im September ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt, wo er am 16. Februar 1939 im Alter von nur 27 Jahren an Typhus starb. Tragischerweise war seine Entlassung schon bewilligt. Soyfer hätte seinen Eltern in die New Yorker Emigration folgen können.

In Dachau entstand Soyfers letztes und vielleicht berühmtestes Gedicht. Im „Dachaulied“ verwandelt Soyfer die zynische Phrase „Arbeit macht frei“ über den Lagereingang in ein Bekenntnis zur Menschlichkeit und spricht seinen Mithäftlingen Mut zu:

„Bleib ein Mensch, Kamerad.
Sei ein Mann, Kamerad.
Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,
Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!“ (S. 170)

Jura Soyfer war kein religiöser Jude, aber er war wohl einer jener Juden, deren moralisches Verständnis man in der jüdischen Sozialethik begründet liegen sehen kann. In vielen säkularen jüdischen Familien wirkte so das religiöse Judentum lange nach. Soyfer hatte einen tiefen Gerechtigkeitssinn und war sensibilisiert für gesellschaftliche Missstände.  Vielleicht war auch sein unerschütterlicher Glaube an die Menschheit, seine Zuversicht von seinem jüdischen Erbe geprägt.

Sein „Lied von der Erde“ (S. 110) aus dem Stück „Der Weltuntergang“ liest sich jedenfalls wie eine Hommage an diese Welt in ihrer ganzen Ambivalenz und soll deshalb mit ihren ersten 2 Strophen zitiert werden:

Denn nahe, viel näher, als ihr es begreift,
Hab ich die Erde gesehn.
Ich sah sie von goldenen Saaten umreift,
Vom Schatten des Bombenflugzeugs gestreift
Und erfüllt von Maschinengedröhn.
Ich sah sie von Radiosendern bespickt;
Die warfen Wellen  von Lüge und Haß.
Ich sah sie verlaust, verarmt – und beglückt
Mit Reichtum ohne Maß.

Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
In Armut und in Reichtum grenzenlos.
Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
Und ihre Zukunft ist herrlich und groß.

Die HerausgeberInnen haben die klug ausgewählten Texte 6 Themenkapiteln zugeordnet: Leben, Lieben, Weltbetrachtungen, Aktivismus, Kunst, Flucht/Gefangenschaft, jeweils versehen mit einer kurzen kontextualisierenden Einleitung. Zudem gibt es eine Zeittafel seiner Vita sowie Erinnerungen von Weggefährten und Freunden Soyfers im Kapitel „Biografisches“, wo unter anderem Otto Tausig, Helmut Qualtinger und Leon Askin zu Wort kommen. Diese drei waren es vor allem, die in der Nachkriegszeit seine Texte inszenierten. Tausig verweist auf das spezifisch Österreichische von Soyfers Literatur, „[n]icht nur deshalb, weil der Inhalt jedes Stückes ein Problem behandelt, das für Österreich bezeichnend ist, sondern vor allem, weil der Stil dieser Stücke in der Tradition des Wiener Volksstücks fest verankert ist.“ (S. 199)

Auch die Frage, wo Soyfer heute stünde, bleibt nicht undiskutiert. Die SchriftstellerInnen Elisabeth Reichart, Mieze Medusa, Julya Rabinowich, Doron Rabinovici und Heinz R. Unger beschäftigen sich mit Soyfer aus ihrer zeitgenössischen Perspektive. Doron Rabinovici ist überzeugt, dass Soyfer auch heute seine Stimme erheben würde. Er gibt aber zu bedenken, dass es auch heute nicht wenige gäbe, die Soyfer aufgrund seines Namens und Multilingualität  (Soyfer sprach in seiner Familie russisch, französisch und deutsch) nicht als „echten Österreicher“ ansehen würden. Und Julya Rabinowich weist auf die Umstände hin, die dazu führten, dass Soyfer um sein Leben gebracht wurde, und die durchaus aktuelle Parallelen aufzeigen : „Er wurde beim illegalen Queren einer Grenze aufgegriffen, und an jenen Hebeln, die die Justiz bedienten, saßen Menschen, die in vorauseilendem Gehorsam und noch vor der Vereidigung auf Hitler bereit waren, ihn zu verhaften und anschließend dorthin zu bringen, wo er Mensch blieb.“ (S. 186)

Als besonderes „Zuckerl“ ist dem Buch noch eine CD beigelegt, die einen ausgewählten Live-Mitschnitt der Gala enthält, welche anlässlich Soyfers 100. Geburtstag am 4. Dezember 2012 im Theater Rabenhof in Wien stattfand.

Es bleibt zu hoffen, dass dieses wohlüberlegt zusammengestellte Lesebuch zur Popularisierung des literarischen Werkes von Soyfer beiträgt und ihm viele neue LeserInnen beschert werden, auch wenn und gerade weil die Aktualität seiner Texte auf viele beunruhigend wirken wird.

Erna Wipplinger/Margit Niederhuber/Christoph Kepplinger (Hrsg.): Jura Soyfer. Ein Lesebuch, Wien 2015, Mandelbaum Verlag, Bestellen?

[1] Derzeit ist bis 28. März 2016 im Jüdischen Museum Wien die sehenswerte Ausstellung „Die Universität. Eine Kampfzone“ zu sehen, in der die ambivalente Rolle der Universität Wien für ihre jüdischen Studenten thematisiert wird. So bot sie einerseits die Möglichkeit der gesellschaftlichen Inklusion und des sozialen Aufstiegs durch Bildung, andererseits war sie ein Ort der blutigen, antisemitischen Gewalt, mit der sicherlich auch Soyfer konfrontiert wurde.