„Ballonpaten“

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November 2014 in Berlin: Erinnerung an die Opfer der „Kristallnacht“ wird entwertet…

Von Martin Jander

Es gibt in der Gedenkkultur der Bundesrepublik Deutschland zwei wesentliche Tage, die der Erinnerung an die Shoah gewidmet sind: den 9. November (1938: „Kristallnacht“) und den 27. Januar (1945: Befreiung von Auschwitz). Das ist angesichts der deutschen Verbrechen und der vielen Opfer auf der ganzen Welt nicht wirklich viel. Beide Gedenktage werden darüber hinaus von einer breiten Allianz unterschiedlicher politischer Gruppierungen attackiert, umgedeutet und entwertet. Diese Entwicklung zeigt eine problematische Veränderung der deutschen Gesellschaft seit ihrer Vereinigung im Jahr 1989 an.

Mit der Feier des Mauerfalls vor 25 Jahren in Berlin wird der Angriff unterschiedlicher politischer Gruppen auf die Shoah-Gedenktage besonders deutlich sichtbar. Die Stadt Berlin gibt sich in diesem Jahr auch nicht einmal mehr den Anschein, der Erinnerung an die Reichspogromnacht neben der Erinnerung an den Mauerfall größeren Platz einzuräumen. Die von wenigen linken, christlichen und jüdischen Gruppen organisierten Gedenkveranstaltungen in Erinnerung an den 9. November 1938 finden weit außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung statt. „Berlin“ feiert den Mauerfall und erinnert sich an die Leiden der deutschen Teilung.

Gegen 19.30 Uhr werden am 9. November 8000 so genannte „Ballonpaten“ auf Anweisung ihrer  Koordinatoren auf einer Strecke von etwa 15 Kilometern von der Bornholmer Strasse bis zur East-Side-Gallery 8000 mit Leuchtstoffen gefüllte Luftballons in den dunklen Abendhimmel steigen lassen. Ungezählte „virtuelle Ballonpaten“ werden ihre Erinnerungen an den Mauerfall 1989 über facebook absetzen ((Vgl. hierzu: www.facebook.com/fallofthewall25)) und bei dem Bürgerfest am Brandenburger Tor wird unter dem Dirigenten Barenboim die Staatskapelle die Ode an die Freude (Beethoven: Symphonie Nr. 9) spielen. Das Zeichen für die Auslösung der Luftballons wird der Regierende Bürgermeister Berlins Klaus Wowereit geben. ((Zum Programm der „Lichtgrenze“ siehe: www.berlin.de/mauerfall2014/hoehepunkte/programm-7-9-november))

Mehr oder minder außerhalb des öffentlichen Interesses und des Blickpunktes der Medien werden auf Initiative der Amadeu Antonio Stiftung im Rahmen der Aktionswochen gegen Antisemitismus unterschiedliche kleinere Veranstaltungen zur Erinnerung an die Reichspogromnacht stattfinden. ((Zum Programm der Aktionswochen gegen Antisemitismus siehe: www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/kampagnen/aktionswochen-gegen-antisemitismus/veranstaltungskalender-2014/berlin)) Die jüdische Gemeinde in Berlin hält ihre Gedenkveranstaltung am Montag den 10. November 2014 ab. Sprechen wird dort lediglich der Innensenator Berlins Frank Henkel.

Leuchtballone in Erinnerung an die 91 ermordeten Juden, die etwa 30.000 in Konzentrationslager Verschleppten, die 267 zerstörten Synagogen sowie die 7500 zerstörten jüdischen Geschäfte, viele davon in Berlin, werden nicht aufsteigen und auch kein Philharmonisches Orchester wird an jene Hunderte Menschen erinnern, die am 9. September 1938 aus Furcht vor dem losgelassenen Mob Selbstmord begingen. Auch facebook wird keine Seite für Kommentare freischalten, auf der jedermann seine Empfindungen bzw. Erinnerungen an den Judenmord, die Trauer über ihren Tod oder die Erfahrungen über den letzten Besuchs in Israel artikulieren kann.

Der 27. Januar, der europäische Gedenktag in Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz, wird von einer breiten Allianz politischer Gruppen in ganz Europa angefeindet. Sie suchen den Tag mittels einer europäischen Gedenkinitiative zum 23. August zu entwerten. Der Tag des Abschlusses des Hitler-Stalin Pakts im Jahr 1939 soll zu einem Gedenktag an „alle Opfer totalitärer Herrschaft“ in Europa ausgebaut werden. In der Bundesrepublik Deutschland wird diese Initiative vor allem von der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) vorgetragen. In dieser Dachorganisation von Opferverbänden sind neben dem einschlägig bekannten Bund der Vertriebenen bis hin zur Initiative DDR-Museum in Pforzheim ein breites Spektrum von Initiativen zusammen geschlossen.

Die große Feier in Berlin am 9. November 2014, die das Gedenken an den 9. November 1938 an den Rand der öffentlichen Erinnerung drängt, wird von der gemeinnützigen Landesgesellschaft Kulturprojekte Berlin gemeinsam mit der Gedenkstätte Berliner Mauer und der Robert Havemann Gesellschaft ausgerichtet. Ohne tatkräftige Unterstützung der evangelischen Kirche, der großen Medien und von facebook wäre der Tag jedoch nicht als großer Erinnerungsevent organisierbar.

Es ist noch nicht lange her, während des so genannten Gaza-Krieges, da rollte eine massive Welle antisemitischer Propagandadelikte und Anschläge über Europa und die Bundesrepublik Deutschland. Sie löste eine heftige Debatte darüber aus, was eigentlich mit der so genannten „Vergangenheitsbewältigung“ in der nunmehr vereinigten Republik schief gelaufen sei, dass eine solche Explosion von Anti-Semitismus möglich wurde. Mit den Versuchen zur Entwertung und Zerstörung der beiden wichtigen Gedenktage in der Bundesrepublik Deutschland, dem 9. November und dem 27. Januar, haben wir eine der vielen verschiedenen Ursachen für diese Entwicklung vor unseren Augen und Ohren.

Vor allem im östlichen Europa, aber nicht nur dort, wird die Erinnerung an die Verbrechen des Kommunismus dazu instrumentalisiert, die Verwicklung in den Judenmord der Deutschen, die eigene Komplizenschaft, in den Hintergrund zu drängen und die Empathie mit den jüdischen Opfern sowie die Solidarität mit den Überlebenden zu schwächen. In der Bundesrepublik Deutschland wird jede Chance genutzt, die Empathie mit den Opfern der Shoah und die Solidarität mit ihren Nachkommen durch den laut vorgetragenen Verweis auf die Leiden durch den Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung am Ende des Krieges, die Teilung des Landes nach dem Krieg und die Leiden der DDR-Bevölkerung zu untergraben. Die Erinnerungskultur der vereinigten Republik, nähert sich der Erinnerungskultur der alten Bundesrepublik der 50er Jahre stark an.

Damit ist nicht gesagt, dass die Organisatoren der „Lichtgrenze“ und des ganzen Beiprogramms zum 25jährigen Mauerfall in Berlin verstockte Nazis wären. Die Freude über die Öffnung der Mauer, das Ende der Diktatur und seiner schärfsten Waffe, des Ministeriums für Staatssicherheit, haben natürlich ihren Platz in der neuen Republik. Aber muss man das so organisieren, dass die Erinnerung an den Startschuss der Ermordung der europäischen Juden mehr oder minder aus der öffentlichen Erinnerung der Gesellschaft verschwindet?

Jeder weiß, dass es vielfältige andere Möglichkeiten gäbe, dieser Freude an einem anderen Tag, oder bei einer anderen Gelegenheit Ausdruck zu verleihen. Wer den 9. November wählt, was das Parlament mit seiner Entscheidung zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober bewusst nicht tat, der hat sich dafür entschieden, die Erinnerung an den 9. November 1938 abzuwerten, an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu drängen.

Das ist keine rechtsradikale Aktion, wie das die „Deutschland den Deutschen“ oder „Mein Großvater war kein Verbrecher“ oder „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ brüllenden Gruppen tun. Die Verdrängung der Erinnerung an den 9. November ist aber die weniger krawallförmig, als ästhetisches Großevent inszenierte bildungsbürgerliche Entsprechung zur rechtsradikalen Forderung nach einer Beendigung des „Schuldkult“. Die Generation der Täterenkel wendet sich den Leiden ihrer Großeltern zu und will von den Fragen von Schuld, Haftung und Solidarität mit den Überlebenden nichts mehr hören.

Erinnerung und Gedenken können und sollen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht verordnet werden. Nur autoritäre Regime vermitteln mittels aufwendig inszenierter Großereignisse Gefühle und Haltungen. Wer einen Blick auf die Organisatoren und Initiatoren der 9. November Feier in Berlin wirft, der wird feststellen, dass es sich hier eher um eine zivilgesellschaftliche Initiative handelt, die von Medien, Kirchen u. a. aufgegriffen wurde. Eben das macht den Auftritt und das Engagement der „Ballonpaten“ zu einer solchen Herausforderung.

Bis weit in die Mitte der Gesellschaft hat sich eine Haltung festgesetzt, die Abschied genommen hat von der langsam und in vielen Konflikten mühsam erworbenen Einsicht, dass das Ansehen und der Respekt für Menscherechte und der Menschenwürde in der Bundesrepublik und in Europa dann Schaden nehmen, wenn die Erinnerung an die deutschen Verbrechen, die Würdigung der Opfer des Nationalsozialismus, die Solidarität mit den Überlebenden sowie mit Israel geschwächt wird.

Erinnerung und Empathie können und sollen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht verordnet werden. Aber ohne diese Empathie und ohne diese Solidarität ist die Demokratie in Gefahr. Der sichtbare Ausschluss und die Ausgrenzung der jüdischen Gemeinschaft und der Erinnerung an den 9. November 1938 aus den Feiern zum 9. November in Berlin ist ein beunruhigendes Zeichen.

2 Kommentare

  1. Sehr geehrte Redaktion,

    zu der vom Autor entwickelten These / Meinung einer angeblich schwindenden Sensibilität/ Aufmerksamkeit für die Verbrechen der Shoah, will ich mich nicht weiter äußern, wiewohl ich sie in der Tendenz für überzogen halte.

    Mit Erleichterung haben wir als Veranstalter LICHTGRENZE zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (https://fallofthewall25.com/) jedoch nachfolgenden Satz von Herrn Jander zur Kenntnis genommen.: „ Damit ist nicht gesagt, dass die Organisatoren der „Lichtgrenze“ und des ganzen Beiprogramms zum 25jährigen Mauerfall in Berlin verstockte Nazis wären.“

    Bitte richten Sie Ihrem Autor die dankbarsten Grüße von den Veranstaltern des Berliner Themenjahres 2013 „Zerstörte Vielfalt“ aus.(http://www.berlin.de/2013/berlin-im-nationalsozialismus/)

    Mit freundlichen Grüßen
    Torsten Wöhlert
    Kulturprojekte Berlin GmbH
    Stellv. Geschäftsführer

    • Sehr geehrter Herr Wöhlert,

      herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Es liegt, so scheint es mir, aber Ihrerseits ein Mißverständnis vor. Ich entwickle in meinem Beitrag nicht die These, dass wir es in der Bundesrepublik mit einer „schwindenden Sensibilität/ Aufmerksamkeit für die Verbrechen der Shoah“ zu tun haben. Das stimmt zwar auch, darüber schreibe ich aber in dem Beitrag „Ballonpaten“ nichts. Ich zeige hier eher, dass die Sensibilität gegenüber den Überlebenden der Shoah und ihren Nachfahren nachlässt. Gerade die Art und Weise wie Ihre Einrichtung für das Land Berlin und für die Bundesregierung die „Lichtgrenze“ und das Drumherum entwickelt und organisiert, ist Ausdruck dieser mangelnden Sensibilität. Ihre Verdienste um das Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ will ich damit keinesfalls schmälern. Was den 9. November 2014 angeht, so hat Ihre Einrichtung aber leider in diesem Jahr das im letzte Jahr gezeigte Verständnis für die Gefühle der Überlebenden und ihrer Nachkommen vermissen lassen.

      Mit freundlichen Grüßen
      Martin Jander

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