Aber der ist doch Jude

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In meinem Buch „Alltag im Gelobten Land“ hatte ich ein winziges Kapitel eingefügt, das mir als Schlüsselerlebnis tief in der Seele hängen geblieben ist. Hier noch einmal der komplette Wortlaut…

Von Ulrich W. Sahm

Befremdlich war ein Treffen mit einem Diplomaten der deutschen Botschaft in Tel Aviv. Es liegt einige Jahre zurück. Die Botschaft hatte bei Einladungen und Begegnungen mit deutschen Korrespondenten beschlossen, zwischen »Entsandten« und »Ortsansässigen« zu unterscheiden. Die Korrespondenten protestierten. Während der Diskussion kam die Frage auf, wieso denn Peter Finkelgruen, damals von der Deutschen Welle »entsandt«, ebenso nachteilig behandelt wurde wie die »Ortsansässigen«. Aus dem Diplomaten platzte heraus: »Aber der ist doch Jude.« Seitdem behandelt die deutsche Botschaft in Tel Aviv alle deutschen Korrespondenten ohne Unterscheidung zwischen Juden und Nicht-Juden.

Heute, nach der Lektüre von „Das Amt und die Vergangenheit“, hätte ich mich über diese beiläufige Anmerkung nicht mehr so sehr aufgeregt. Gegenüber Peter Finkelgruen handelte es sich um frontalen Antisemitismus. Doch dahinter steckten noch ganz andere Motive, die ich hier zum ersten Mal der Öffentlichkeit übergebe.

Kohls Besuch, ursprünglich 1983 geplant, hatte eine dramatische Vorgeschichte. Der Besuch war angesagt, als Menachem Begin Ministerpräsident noch war. Plötzlich trat er zurück und verschwand in seine Privatwohnung in Jerusalem, um niemals mehr öffentlich aufzutreten. Da er ohne jede Begründung zurückgetreten war, gibt es nur Spekulationen über dessen Beweggründe. Meistens heißt es, dass es das Debakel des Libanonkrieges von 1982 war und das Massaker in dem von Israel besetzten Beirut mitsamt den Flüchtlingslagern Sabra und Chatillah. Aber möglicherweise war es der Anblick seines mit deutschen Flaggen geschmückten Amtssitzes, der Begin angespornt hatte, so urplötzlich das Handtuch zu schmeißen. Die offizielle Visite Kohl stand bevor. Die begleitenden Journalisten saßen schon in Frankfurt im Flugzeug, als der Besuch wegen Begins unerwartetem Rücktritt abgesagt werden musste.

So wurde Kohl im Januar 1984 dann von Begins Nachfolger Jitzchak Schamir empfangen.

Ehe Kohl sich auf den Weg nach Israel aufmachte, tat er den berühmt gewordenen Spruch von der „Gnade der späten Geburt“. Das war freilich eine zynische Lüge. Denn David Witzthum vom israelischen Fernsehen kannte sich aus und hatte einen kleinen Filmstreifen ausgegraben, der Kohls eigenem Spruch in peinlicher Weise als Lüge entlarvte. Witzthum strahlte ihn in seiner Nachrichtensendung am Abend vor Kohls Ankunft aus. Zu sehen war der Kanzler, wie er einen Schützenpanzer der Bundeswehr erklimmte und mit dem darin sitzenden Soldaten ein paar Worte austauschte. Dabei erzählte Kohl, dass er in seiner Jugend, also während des Zweiten Weltkriegs, als Flakhelfer gedient habe. So wie Papst Ratzinger nicht die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend zum Strick gemacht werden sollte, wollen wir auch Kohl keine Vorwürfe machen, Flakhelfer gewesen zu sein. Aber nach Israel zu kommen und von einer „Gnade der späten Geburt“ zu reden, war falsch, geschmacklos und dank der Entdeckung Witzthums noch dazu eine Verhöhnung seiner jüdisch/israelischen Gastgeber.

Die Stimmung zwischen Deutschland und Israel war damals angespannt. Unter anderem ging es um die deutsche Absicht, Panzer an Saudi Arabien zu verkaufen. Während heute die Saudis stillschweigende strategische Partner im Kampf gegen Irans Hegemonialbestrebungen sind, fürchteten die Israelis damals noch eine Attacke auf ihre pure Existenz. Deutsche Beihilfe dazu wurde damals, also keine 39 Jahre nach dem Ende des Holocaust, als Rücksichtslosigkeit angesichts der noch frischen Vergangenheit aufgefasst. Hinzu kam, dass Begin, der ursprüngliche Gastgeber Kohls und nun Schamir Holocaustüberlebende waren und sich ohnehin persönlich überwinden mussten, einem Deutschen die Hand zu schütteln.

Während jenes Besuches im Januar 1983 gelang es Kohl und der deutschen Delegation, in fast jedes bereitstehende Fettnäpfchen zu treten. So wurde Kohls Pressesprecher Peter Boenisch (2005 verstorben) dabei beobachtet, wie er in einem schwarzen knöchellangen Ledermantel einen Besuch durch die Altstadt Jerusalems absolvierte. Den begleitenden Israelis, darunter der Holocaustüberlebenden und Maariv-Korrespondentin Inge Deutschkron, kamen Assoziationen mit den Mänteln der SS. Boenisch machte zudem Schlagzeilen, indem er der israelischen Regierung vorwarf, „den Holocaust zu instrumentalisieren“.

Ich fragte einen befreundeten israelischen Diplomaten nach seiner Reaktion dazu. „Ich kann nicht glauben, dass ein deutscher Pressesprecher so etwas behauptet“, sagte der Diplomat. Wir hatten uns beim großen Empfang für Kohl im Ausstellungsgelände in Tel Aviv getroffen. Ich schlug dem Diplomaten vor, einfach zu Boenisch gehen und ihn zu fragen, ob er das tatsächlich gesagt habe. Ohne nachzudenken bestätigte Boenisch gegenüber dem Israeli jenen Spruch.

Es sei hier angemerkt, dass die Israelis bis heute unter dem „Holocaust-Trauma“ leiden, zumal es nicht an Politikern wie Präsident Ahmadinidschad oder Organisation wie der Hamas und Hisbollah mangelt, die Israel mit physischer Vernichtung drohen oder Israels Existenzrecht mit den unterschiedlichsten Argumenten in Frage stellen. Keinem anderen Staat weltweit wird bis heute das Existenzrecht abgestritten, wegen Grenzfragen, Menschenrechtsverletzungen, vermeintlichen oder echten Verstößen gegen das Völkerrecht usw. Es gibt kaum ein Land in der Welt, wo es nicht auch Besatzung, Völkerrechtsverstöße, Menschenrechtsverletzungen und ähnliches gäbe. Doch niemand käme auf die Idee, das Existenzrecht der künstlichen arabischen Staaten, der Volksrepublik China, Polens, Russlands oder gar der USA in Frage zu stellen. Den Israelis vorzuwerfen, in ihrer Politik den „Holocaust zu instrumentalisieren“ kam und kommt deshalb der These gleich, dass Israel kein Recht habe, sich zu verteidigen und seine Existenz zu sichern.

Es gab noch weitere Zwischenfälle. Die israelische Presse beobachtete diesen Staatsbesuch mit zunehmendem Misstrauen. Deutschkron beklagte sich, dass ihre Berichte stark gekürzt auf Seite 29 ihrer Zeitung verdrängt worden waren. Haaretz trieb es auf die Spitze. In der Freitagsausgabe veröffentlichte die Zeitung keinen langen Bericht über das wichtigste politische Ereignis jener Woche, sondern brachte auf Seite drei nur ein Bild mit einer entsprechend fiesen Bildunterschrift: „Der deutsche Bundeskanzler Kohl auf dem Tempelberg von Jerusalem mit dem Nachfolger des Mufti von Jerusalem, der mit Hitler befreundet war“ (sinngemäßes Zitat aus der Erinnerung). Der israelische Rundfunk brachte in seinem Wochenrückblick am Samstag morgen einen auffallend langen und unsinnigen Bericht über horrend hohe Preise für Orangensaft in der südlichen Touristenstadt Eilat, und kein einziges Wort über Kohls Anwesenheit in Israel.

Aber zurück zu Peter Finkelgruen. Die Unterscheidung zwischen ortsansässigen und entsandten Korrespondenten hatte ausgerechnet bei jenem Kohlbesuch eine direkte Folge. Denn uns, den Ortsansässigen und dem „Jude“ Peter Finkelgruen wurde mitgeteilt, dass wir aus „Platzmangel“ nicht an dem offiziellen Essen für Kanzler Kohl im King David Hotel teilnehmen könnten. Lediglich die „Entsandten“ seien eingeladen. Daraufhin beschloss ich, vor allem wegen des oben geschilderten antisemitischen Zwischenfalls, in die Offensive überzugehen. Es war Samstag und zum Glück hatte ich die private Telefonnummer von Botschafter Niels Hansen. Obgleich der mit Sicherheit voll in den Vorbreitungen für den äußerst wichtigen Kohlbesuch steckte, nahm sich Hansen ganze zwei Stunden Zeit, mit mir zu diskutieren. Zeitweilig war das Gespräch sehr angespannt, zumal ich Hansen schließlich drohte, die Geschichte mit Finkelgruen zu veröffentlichen, und das ausgerechnet während Kohl-Besuchs in Israel. Am Ende war auch Hansen klar, dass ein solcher Eklat vermieden werden musste. Ganz kurzfristig mietete die Botschaft einen weiteren Saal im King David Hotel und konnte so die bisher nicht geladenen Gäste an dem Festessen beteiligen, darunter auch die „ortsansässigen“ deutschen Korrespondenten. Da Hansen so reagierte, bestand kein Anlass mehr, die Geschichte zu veröffentlichen. Heute hat sie eher einen „historischen“ Wert.

Es sei hier angemerkt, dass Kanzler Kohl im Juni 1995 Israel einen zweiten offiziellen Besuch abstattete. Offenbar hatte Kohl vieles dazu gelernt. Sein zweiter Besuch, mitsamt „gemeinschaftlichem Gesang von deutschen wie israelischen Volksliedern“ im Garten der Residenz von Ministerpräsident Jitzhak Rabin, verlief ohne jeden Zwischenfall und durchaus „offen und freundschaftlich“, wie es in einer Bilanz der deutsch-israelischen Beziehungen dargestellt wird. Dieses muss ich hier einfügen, um klar zu stellen, dass ich keinesfalls eine Antipathie gegen Kohl hegte oder hege.

Allerdings sei hier noch erwähnt, dass jener Presseattaché keineswegs der einzige Fall eines Antisemiten im Dienst der deutschen Botschaft in Tel Aviv war.

In seiner Ausgabe vom 19.7.1976 rezensierte „Der Spiegel“ ein frisch erschienenes Buch von Jörg Uthmann. Unter dem ersten deutschen Botschafter in Israel, Rolf Pauls, war Uthmann der persönliche Referent. Ich war damals schon in Israel und hatte mit Uthmann auch mal eine Tasse Kaffee getrunken. Sein Buch „Doppelgänger, du bleicher Geselle. Zur Pathologie des deutsch-jüdischen Verhältnisses“ (Seewald Verlag, Stuttgart; 192 S.) hatte Uthmann nach seinem Weggang aus Israel in New York verfasst. Ich hatte es mit Schrecken gelesen und wollte eine Besprechung darüber in einer großen deutschen Zeitung unterbringen, was mir nicht gelungen ist. Mein altes Manuskript ist nicht mehr auffindbar.

Es reicht, an dieser Stelle aus dem Spiegel von damals zu zitieren, um zu verstehen, wes Geistes Kind dieser junge Diplomat an der Deutschen Botschaft in Tel Aviv war:

Deutsche und Juden seien geistige Doppelgänger; der Zionismus und der Antisemitismus hatten einen „gemeinsamen Denkansatz“, behauptet ein deutscher Diplomat in einem Buch…

Um diesen immerhin räsonablen Kern seiner Doppelgänger-These hat Uthmann freilich einen wirren Haufen von abstrusen und teilweise politisch bedenklichen Theorien gesponnen. Gegen Ende seines Buches entdeckt Uthmann nicht mehr und nicht weniger, als dass die klassenlose Gesellschaft der Kommunisten, der heutige Staat Israel und Hitlers Großdeutsches Reich auf eine Stufe zu stellen seien — eine Bemerkung, die er im letzten Kapitel seines Buches noch verschärft.

Man könne nicht umhin, meint er dort, „zwischen dem dritten deutschen und dem dritten jüdischen Reich (sprich: Israel) gewisse Parallelen zu konstatieren“. So sei ja nicht zu bestreiten, dass es einen „gemeinsamen Denkansatz von Zionismus und Antisemitismus“ gebe…

Die Dokumente, deren Photokopien Botschaftsrat von Uthmann dem SPIEGEL überreichte, mögen echt sein oder falsch — in keinem Fall beweisen sie, dass zwischen Hitlers SS und den jüdischen Guerilla-Kriegern eine ideologische Verbrüderung stattgefunden hat.

Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41210911.html

(C) Ulrich W. Sahm