Gefangenenbefreiung (Pidjon Schwujim)

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Parascha 405. Ansprache für Freitag, den 28. Oktober 2011 (Noach)…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Benjamin Netanyahu sagte bei der Rückkehr des Soldaten Gilad Shalit aus fünfjähriger Geiselhaft, nun sei seine Mission als israelischer Ministerpräsident erfüllt. Angesichts der vielfältigen Aufgaben und Herausforderungen eines israelischen Ministerpräsidenten klang das reichlich übertrieben, doch im jüdischen Bewusstsein und in den jüdischen Herzen schlägt er damit  eine bekannte Saite und Weise an. Die Gefangenenauslösung (Pidjon Schwujim) gilt in der jüdischen Tradition als besonders gutes, ja, als das beste Werk (BB 8a-b). Im großen Gesetzeskodex des Moses Maimonides steht wörtlich: „Es gibt kein größeres Gebot als die Gefangenenauslösung“ (Ejn Lecha Mizwa Gedola KeMizwa Pidjon Schwujim, Hil. Matnot Anijim 8, 10). Dafür  dürfen alle wohltätigen Spenden zweckentfremdet werden, theoretisch sogar die Spenden zum Wiederaufbau des Tempels (SchA, Jore Dea 252, 1). Wer aber die Erfüllung dieser Pflicht versäumt, vergieße in jedem Augenblick des Zuwartens das Blut des Gefangenen (ebd. 252, 3). Der Kinoschocker Lebend begraben von Rodrigo Cortes veranschaulicht in beklemmender Weise die Aktualität dieser Aussage. Er schildert den verzweifelten und vergeblichen Überlebenskampf einer amerikanischen Geisel, die im Irak in einem Sarg unter der Erde gefangen gehalten wird. Was der Zuschauer keine 94 Minuten erträgt, musste Gilad Shalit 1940 Tage aushalten.

Das biblische Vorbild des Gefangenenbefreiers ist kein Geringerer als unser Vater Abraham. Das Kapitel 14 des Buches Genesis, das wir nächste Woche in der Synagoge hören, erzählt vom Zug von vier Königen aus Mesopotamien gegen fünf Städte am Ufer des Toten Meeres. Als Abraham erfuhr, dass die Eindringlinge seinen Neffen Lot und viele andere Bewohner aus der Stadt Sodom verschleppt hatten, zögerte er keinen Augenblick. Er machte sich mit seinen Bewaffneten auf dem Weg und ruhte nicht, bis er alle Gefangenen befreit und zurück gebracht hatte (14-16). Einen Lohn für die gute Tat lehnt er ausdrücklich ab (23). Ein noch größeres Vorbild für die Gefangenenauslösung wäre freilich Gott selbst, der in der Bibel vor allem als Sklavenbefreier in Erscheinung tritt (Ex 20, 1) und den wir jeden Morgen als denjenigen preisen, der die „Gefesselten befreit“ (Matir Assurim).

Eine Einschränkung gibt es bei der Pflicht der Gefangenenauslösung allerdings: der Freikauf darf nicht zu teuer bezahlt werden, um die Erpresser nicht zu weiteren Geiselnahmen zu ermuntern. Der entsprechende Grundsatz im Talmud lautet: „Man soll nicht zuviel Lösegeld für Gefangene zahlen, um nicht dem Gemeinwohl zu schaden“ (mGit 4, 6). Dazu gibt es eine exemplarische Geschichte aus dem mittelalterlichen Deutschland. Im 13. Jahrhundert lebte in der Stadt Rothenburg ob der Tauber der bedeutende jüdische Gelehrte Rabbi Me’ir ben Baruch, den man in der jüdischen Tradition voller Bewunderung Maharam nennt. Er war der Oberrabbiner des Reiches, auch wenn er diesen Titel nicht trug. Seine Rechtsgutachten zu allen Fragen des jüdischen Lebens besaßen Gesetzeskraft. Er gutachtete z. B. auch zur Frage der Lösegeldforderung. Da solche Fälle eben nicht selten vorkamen, verfügte er zur Entlastung der finanziell überforderten Gemeinden, dass die Geiseln mit ihrem eigenen Vermögen für ihren Freikauf hafteten und, dass sie damit auch gegen ihren Willen ausgelöst werden dürften. Damals verschlechterte sich die Stellung der Juden im Reich zusehends. Rechtlich galten die Juden schon länger als „Kammerknechte“ des Kaisers (servi camerae). Doch Kirche und Kaiser verstanden diesen Status zunehmend als Sklavenstand. Rudolf  von Habsburg, der Leib und Gut der Juden als sein Privateigentum betrachtete, untersagte ihnen die Bewegungsfreiheit. Daraufhin flohen viele Juden aus dem Reich. 1286 machte sich auch der Maharam auf den Weg ins Land Israel. Doch er wurde vor der Überquerung der Alpen erkannt und an Rudolf ausgeliefert. Der Kaiser sperrte  ihn in die Festung Ensisheim im Elsass ein und erwartete ein saftiges Lösegeld, zur Entschädigung für seine entlaufenen Juden und die entgangene Steuer. Die deutschen Juden brachten nicht weniger als 23 000 Pfund Silber für ihren einsitzenden Meister zusammen. Doch der Tausch kam nicht zustande, auch weil sich der Rabbi getreu dem besagten talmudischen Grundsatz einer solchen hohen Lösegeldzahlung widersetzte. Er starb sieben Jahre später in Gefangenschaft. Damit war aber das Geiseldrama noch lange nicht zu Ende. Nun wollten die Kaiserlichen das Lösegeld für die Leiche. Erst vierzehn Jahre nach dem Ableben des Rabbis löste ein reicher Jude aus Frankfurt, Alexander ben Salomon von Wimpfen, seine sterblichen Überreste für eine horrende Summe aus und wurde zum Lohn für diese gute Tat nach seinem Tod neben dem Rabbi bestattet. Ihren Doppelgrabstein kann man bis heute auf dem alten Judenfriedhof von Worms, der Geburtsstadt des Maharam, besichtigen.

Auch der so genannte „Gefangenenaustausch“, bei dem Gilad Shalit freikam, erstaunte durch seine Unverhältnismäßigkeit: Einer gegen mehr als tausend! Dass es höchste Zeit war, konnte man der armen Geisel ansehen. Schon lange hat man nicht mehr so einen Juden gesehen: eingeschüchtert, abgemagert, hohlwangig, leichenblass. Während sich gleichzeitig wohlgenährte palästinensische Gefangene aus den israelischen Gefängnissen zur großen Siegesfeier nach Gaza-Stadt begaben. In der Welt freilich ist nur ein Israel wohlgelitten, dass bereit ist, so einen horrenden Preis für sein Überleben zu bezahlen. Von Israel wird verlangt, dass es auf Vergeltung verzichtet, auch wenn es von den Palästinensern mit Bomben und Raketen terrorisiert wird; dass es sich von den Golanhöhen zurückzieht, auch wenn auf der anderen Seite der Schlächter von Damaskus steht; dass es seine heiligen Stätten in Hebron, in Bethlehem, in Ostjerusalem preisgibt, auch wenn Juden seit biblischen Zeiten dort leben; dass es das Rückkehrrecht der Palästinenser ins israelische Kernland akzeptiert, auch wenn die Juden zur Minderheit im eigenen Land würden usw.. Eine ganz bescheidene Gegenfrage: Wie viel Platz darf eigentlich das alte jüdische Volk auf dem großen Planeten Erde beanspruchen? Oder sollen die ca. 6 Millionen israelischen Juden wieder nach Europa und in die arabischen Länder zurückkehren, wo sie nach zweitausend Jahren voller Verfolgungen vertrieben worden sind? Oder sollen sie sich gar in Luft auflösen?

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr

2 Kommentare

  1. Prof. Krochmalnik bringt es auf den Punkt! Endlich spricht mal einer aus, was sich  sonst niemand traut! Ich bin keine Anhängerin von Gush Emunim oder „Bibi“,  auch keine jiddische Mame, nur e aal Juddefrau. Jeder vernünftig denkende Mensch weiss dass der letzte Absatz die Lage realistisch beschreibt, leider.
    shalom
     

  2. Herzlichen Dank, Herr Prof. Krochmalnik, für die Parallelen, die Sie zogen mit Ihrer Erinnerung an das (christlich-)deutsch-jüdische Verhältnis in vergangenen Jahrhunderten. Viel zu selten wird heute, in Zeiten, in denen Deutschland als einer der wichtigsten Partner und Verbündeten Israels angesehen wird, auf diese höchst unpopuläre Vorgeschichte eingegangen. Die nahezu ausschließliche Fixierung auf die Geschehnisse im Dritten Reich ‚erschlägt‘ nur zu gern vorangegangene Ereignisse, die in ähnliche Richtung verliefen.

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