Altneuland – Viertes Buch

Passah

 

Erstes Kapitel

In der Villa des alten Littwak hatte man die Passahfeier vorbereitet. Es war Abend, als die Gäste zurückkehrten. Der russische Pope von Sepphoris war schon vor einer Stunde eingetroffen. Jetzt kam auch David in Begleitung des Franziskanerpaters Ignaz. Dieser war ein wohlgenährter rotbackiger, blond-bärtiger Mann, den die braune Kutte noch gedrungener erscheinen ließ. Er stammte aus Köln am Rhein und lebte schon seit einem Vierteljahrhundert in Tiberias, doch hatte er noch seinen unverfälschten kölnischen Dialekt im Munde. Anders als Deutsch konnte der gute Pater nicht sprechen. Der Pope und der Anglikaner Mr. Hopkins machten darum löbliche Anstrengungen, sich mit Pater Ignaz in seiner Muttersprache zu verständigen.

Der Sedertisch war im Speisesaale des Erdgeschoßes hergerichtet. Etwa zwanzig Gedecke lagen auf dem schimmernden Linnen. David hatte allen Gästen die Plätze angewiesen und saß selbst am unteren Ende der Tafel, der sein Vater präsidierte. Der Stuhl zur Rechten des alten Littwak blieb aber leer, weil er für die kranke Mutter bestimmt war; sie konnte nicht an der Feier teilnehmen. Zur Linken des Hausvaters saß Mrs. Gothland.

Das schöne uralte Melodrama des Seders begann. Der erste Becher war eingeschenkt und der Hausherr sprach das Kiduschgebet, worin für die Frucht des Weinstockes und für alle Gnaden gedankt wird, welche Gott seinem Volke erwiesen hat.

„Ewiger, unser Gott! Du hast uns bestimmte Zeiten zur Freude, Fest- und Feiertage zur Wonne gegeben, wie diesen Festtag des ungesäuerten Kuchens, die Zeit unserer Freilassung zur heiligen Verkündung, zum Andenken unseres Ausganges aus Mizrajim…“

Als dieses Gebet vorüber war, trank man den ersten Becher. Kingscourt sah nur zu. Da neigte sich Mrs. Gothland zu ihm, in englischer Sprache flüsternd:

„Sie müssen alles mittun, was die anderen machen. Es ist der Brauch.“

Kingscourt würgte einige Deibel hinunter, hatte aber Humor und gute Lebensart genug, die sonderbaren Gebräuche den übrigen Gästen gleich zu befolgen. Die christlichen Seelsorger schlossen sich auch jetzt nicht aus.

Jetzt wusch der Hausvater sich die Hände in einem silbernen Becken, das Mirjam ihm dienend reichte. Hierauf nahm er von der vor ihm stehenden Sederschüssel ein Stückchen Petersilie, tauchte es in das Salzwassergefäß, sprach den Segen und aß es. Dann wurde jedem der Tischgäste ein wenig Petersilie gegeben, und jeder aß es. Kingscourt mit einer lustigen Grimasse, über die seine Nachbarin Mrs. Gothland sanft lächelte. Dann wurden das Ei und der Knochen mit dem gebratenen Fleisch von der Sederschüssel genommen, und die verhüllte Platte hob man hoch mit den feierlichen Worten:

„Dieses ist das Brot des Leidens, das unsere Vorfahren im Lande Mizrajim gegessen haben…“

Wieder half Mrs. Gothland dem Verständnisse Kingscourts nach, indem sie mit dem Finger die Stelle in der vor ihm liegenden Hagadah wies, wo neben dem hebräischen Urtexte die deutsche Übersetzung zu lesen war. Dann wurde der zweite Becher Weines eingeschenkt, und David, welchem es als dem jüngsten Manne in der Tischgesellschaft zukam, erhob sich zu der überlieferten Frage:

„Mah nischtaneh halajloh haseh? … Wodurch ist diese Nacht ausgezeichnet vor allen übrigen Nächten? Denn in allen anderen Nächten können wir essen Gesäuertes und Ungesäuertes — in dieser Nacht nur Ungesäuertes. In allen anderen Nächten können wir essen allerlei Kräuter — in dieser Nacht nur bittere Kräuter…“

Dann wurden die flachen Passahbrote der Sederschüssel aufgedeckt, und alle zusammen antworteten auf die Frage des Jüngsten:

„Einst waren wir Knechte des Pharao in Mizrajim, da zog uns der Ewige unser Gott heraus von dort, mit starker Hand und ausgestrecktem Arme…“

Und so nahm die Feier, halb Gottesdienst und halb Familienschmaus, ihren Fortgang, ergreifend für jeden, dessen Herz von Ehrwürdigem gerührt werden konnte. Denn dieses jüdischeste aller Feste reichte weiter hinauf in die Vergangenheit der Menschen als irgendeine lebende Übung der Kulturwelt. So wie jetzt wurde dies alles, geübt vor vielen, vielen Jahrhunderten, und die Welt hatte sich seither verwandelt, Völker waren untergegangen, andere waren in der Geschichte erschienen, der Erdkreis hatte sich erweitert, unbekannte Kontinente tauchten aus den Meeren, ungeahnte Naturkräfte erleichterten und verschönten das Leben — und nur dieses eine Volk war noch da wie ehemals, hegte noch die unveränderten Gebräuche, treu sich selbst und eingedenk der Leiden seiner Altvorderen. Es betete noch immer mit tausendjährigen Worten zum Ewigen, seinem Gotte, das Volk der Knechtschaft und Freiheit — Israel!

Einer war an dem Sedertische, der sprach die hebräischen Worte der Hagadah mit der Inbrunst eines Heimgekehrten. Ihm war es ein Wiederfinden und manchmal schnürte ihm Rührung die Kehle zu, daß er sich zusammennehmen mußte, um nicht laut aufzuschluchzen. Bald dreißig Jahre waren es her, daß er selbst als Knabe das ‚Mah nischtaneh‘ gefragt hatte. Dann war die ‚Aufklärung‘ gekommen, die Loslösung von allem Jüdischen und endlich logisch der Sprung ins Leere, da er gar keinen Halt mehr im Leben besaß. An diesem Seder kam er sich vor wie der verlorene Sohn.

Als der erste Teil der Feier vorüber war und die Speisen aufgetragen wurden, rief ihm Kingscourt über den Tisch zu:

„Fritz, ich wußte gar nicht, daß Sie ein so perfekter Hebräer sind.“

„Offen gestanden, ich wußte es selbst nicht!“ war seine Antwort. „Aber es scheint, daß man das aus der Jugend her nicht vergißt.“

In den Tischgesprächen kehrte öfters der Name eines Herrn wieder, den Kingscourt und Friedrich noch nicht kannten: Mister Joseph Levy. Die beiden Steinecks nannten ihn nur „Joe“, in der englischen Abkürzung. Es klang in ihrem Munde wie „Tschoh“.

„Es ist doch ein furchtbares Unrecht, daß Tschoh nicht da ist!“ sagte der Architekt laut.

„Ja“, ergänzte sein Bruder, „daß Joe heute fehlt, ist nicht in der Ordnung. Die Feier ist nicht vollständig. Sie verstehen?“

„Nee, janz und jar nich“, erklärte Kingscourt. „Es intriguiert mich schon die ganze Zeit, was Sie eigentlich von diesem unbekannten Joe wollen.“

„Er kennt Joe nicht!“ schrie der Architekt und hielt sich die Seiten vor Lachen.

„Das ist eine Lücke in ihrer Bildung, meine Herren!“ sagte der Professor. „Joe muß man kennen. Ohne Joe säße mancher heute nicht, wo er sitzt. Joe hat die merkwürdigsten Dinge mit den geringsten Mitteln vollbracht. Joe ist ein wunderbarer Kerl. Er besitzt nämlich eine Eigenschaft, die seltener ist als Gold, seltener als Platin, seltener als Uran, seltener als das Seltenste, was es gibt.“

„Deibel, Sie spannen mich, Professor! Und diese Eigenschaft wäre?“

„Einfacher, gesunder Menschenverstand! Sie verstehen?“

„Ich fange an… Nun möcht‘ ich aber den wundervollen Mann auch sehen!“

Der Architekt machte ein Sprachrohr aus seinen Händen und rief lustig:

„Tschoh, Tschoh!“

Mrs. Gothland winkte dem Schreihals zu, er möge schweigen. Dann sagte sie:

„Lieber Freund, so laut können nicht einmal Sie sprechen, daß er Sie hört. Es wäre denn, daß Sie sich an das Telephon bemühen. Dann ist es freilich leicht. Sie brauchen nur den Anschluß an Marseille zu verlangen. Unser guter Joe ist heute nachmittag in Marseille angekommen. Er läßt alle grüßen. Ich habe vorhin mit ihm telephoniert.“

„Wa-as?“ schrie der Architekt. „So plötzlich? Ohne ein Wort zu sagen?“

„Ja, er hat sich vor einigen Tagen plötzlich entschlossen“, berichtete Mrs. Gothland weiter. „Sie kennen ja unseren Joe. Es wurde ihm gemeldet, daß ein Fabrikant in Lyon eine neuartige Maschine hergestellt habe. ‚Das muß man sich ansehen‘, sagte Joe und fuhr noch am selben Tage nach Europa hinüber. Da die Blätter dort von seiner bevorstehenden Ankunft telegraphisch verständigt wurden, so hat er zur Stunde wahrscheinlich eine Belagerung von Fabriken, Maschinenagenten und Ingenieuren auszuhalten. So ist es immer, wenn Joe nach Europa geht.“

Reschid Bey bemerkte:

„Es erwarten ihn gewöhnlich schon die Vertreter aller möglichen Industrien. Er arbeitet mit England, Deutschland, Frankreich und besonders mit Amerika. Morgen wird er vielleicht auf dem Wege nach Amerika sein, wenn er nicht nach London geht oder hierher zurückreist. Man weiß bei Joseph Levy nie vorher, was er tun wird. Nur das eine weiß man: es ist das Richtige. Er schließt schneller einen Handel über fünf Millionen Dollars ab, als ein anderer sich einen Rock kauft. Die Amerikaner sind von ihm entzückt. Er bestellt rasch, zahlt gut und irrt sich nie.“

„Donnerwetter, der Mann jefällt mir!“ brummte Kingscourt. „Was ist er denn hier?“

„Generaldirektor des Industrieamtes“, sagte David. „Es gibt freilich kein Amt, das Joseph Levy nicht bekleiden könnte. Das ist einmal ein Mensch, der alles versteht, was sich einem gesunden Blick und einem eisernen Willen erschließt. Er hat eine blitzartige Intelligenz und klärt Ihnen im Nu die verworrenste Situation auf. Und wenn Joe Levy sich etwas vornimmt, dann können Sie gleich einen Eid ablegen, daß er es auch durchsetzt. Ich dachte mir, daß dieser Vollmensch Sie interessieren würde, meine Herren. Sie sollen ihn nach Tisch wenigstens reden hören, da ich ihn heute nicht anders als im Bilde zeigen kann.“

„Da müssen wir wohl ans Telephon ran?“ meinte Kingscourt.

„Nicht nötig!“ lächelte David. „Sie werden es bequemer haben. Und nicht nur Sie, auch spätere Zeiten werden seine Rede vernehmen. Ich dachte mir, daß es immerhin merkwürdig wäre, die Stimme des Befehlenden festzuhalten, der den neuen Auszug der Juden ordnete. Darum bat ich Joseph Levy, den Bericht über die Besiedlung unseres Landes in den Phonographen hineinzusprechen. Sie kannten ja diese sinnreiche Erfindung schon vor zwanzig Jahren, meine Herren. Ich ließ die Wachsrollen, auf die Joe seinen Bericht gesprochen hat, vervielfältigen. Einige hundert Exemplare schenkte ich jetzt zum Passahfeste den Schulen. Wir aber werden uns heute an der ersten Vorführung dieser Denkwürdigkeit erfreuen.“

Kingscourt fand es sehr ergötzlich:

„Janz famos. Da haben Sie einen reichen Gedanken jehabt, verehrtester Mann der Zukunft. Ohnehin fragte ich mich schon die ganze Zeit nach dem Überjang. Das Fertige sehn wir ja vor uns. Aber wie ist es jeworden? Da liegt schließlich des Pudels Kern begraben. Daß es Eisenbahnen, Häfen, Fabriken, Automobile, Tele-, Phono-, Photo- und Gott weiß was für Grafen jibt, das wußten auch wir minderjebildeten Europäer schon, bevor wir den erstaunten Fuß auf Palästinas Erde setzten. Aber wie haben Sie das alles herüberverpflanzt? Darum wollt‘ ich Sie eben ooch jebeten haben.“

„Joe wird Ihnen den Anfang sagen, nachdem wir Ihnen das Ende gezeigt haben“, antwortete David. „Und dieser Sederabend schien mir dafür eine weihevolle Zeit. Wir lesen heute in unserer alten Hagadah, wie die Weisen einst an einem solchen Abende zu Bene-Berak zusammen kamen, und sich die ganze Nacht hindurch über den Ausgang aus Mizrajim unterhielten. Wir sind die Nachfahren von Rabbi Elieser, dem Sohne Asarias, Rabbi Akiba und Rabbi Tarphon. Und dies ist unser Abend von Bene-Berak. Altes will in neues übergehen. Wir werden zuerst unseren Seder in der Weise unserer Vorfahren zu Ende führen. Dann möge sich die andere Zeit melden, wie sie gekommen ist. Wieder gab es ein Mizrajim und wieder einen glückhaften Auszug. Dieser wurde selbstverständlich auf eine Art gemacht, welche dem Kulturzustande und den technischen Mitteln zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entsprach. Es konnte nicht anders sein. Es konnte auch nicht früher sein. Das technische Zeitalter mußte erschienen sein. Die Völker mußten die Reife zur Kolonialpolitik erlangt haben. Statt der Segelschiffe mußten die großen Schraubendampfer mit zweiundzwanzig und mehr Seemeilen Geschwindigkeit existieren. Kurz, das Inventar von 1900! Wir mußten neue Menschen geworden und doch auch dem alten Stamm nicht untreu sein. Und auch die wohlwollende Teilnahme der Völker und ihrer Fürsten mußte dabei sein, sonst wäre das ganze Werk nicht möglich gewesen.“

„Gott hat uns geholfen!“ sagte der alte Littwak und murmelte hebräische Worte.

Reverend Hopkins erinnerte seine geistlichen Kollegen von den anderen Kirchen an den Osterstreit des Altertums, und wie sich all der müßige Hader nun in Harmonien aufgelöst habe. Heute könnten sie als Christen friedlich im Hause eines Juden zur Passahfeier zusammenkommen und nähme keiner Anstoß an den Anschauungen des anderen. Denn ein Frühling der Menschheit sei auferstanden.

„Er ist wahrhaftig auferstanden!“ sagte der Pope von Sepphoris.

 

Zweites Kapitel

Die Nachtischfeier folgte, und als sie mit allen Vorschriften der Hagadah fertig waren, gingen sie in den Salon hinüber, wo schon der Phonograph mit Joes Erzählung auf einem Tischchen bereit stand. Es war der Kingscourt wohlbekannte Apparat, verbessert durch eine einfache automatische Vorrichtung, welche die Rollen nacheinander abgleiten ließ. Die ganze Erzählung konnte so abgespielt werden, ohne daß eine Unterbrechung fühlbar geworden wäre. Wollte man aber eine Pause machen oder sich etwas wiederholen lassen, so genügte ein Handgriff, um die Walze aufzuhalten oder einige Sätze weit zurückzustellen. Alle hatten auf Lehnstühlen und Sofas Platz genommen. David setzte sich an das Tischchen, stellte den Schalltrichter nach den Zuhörern hin, rückte einen kleinen Knopf an dem Apparat und sagte:

„Unser Freund Joe Levy hat das Wort.“

Im Phonographen schnurrte es ein wenig, dann wurde mit völliger Deutlichkeit eine kraftvolle Mannesstimme laut:

Meine geehrten Anwesenden!

Ich soll Ihnen über die neue Judenwanderung berichten. Die ganze Sache war sehr einfach. Ich glaube, es wird zuviel Wesens daraus gemacht. Um die politische Vorbereitung hatte ich mich nicht zu kümmern. Glücklicherweise. Ich bin kein Politiker, war es nie, werde es nie sein. Ich hatte meinen Auftrag und führte ihn aus. Unsere Gesellschaft war unter dem Titel „Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina“ gegründet worden. Sie hatte mit der türkischen Regierung einen Besiedlungsvertrag geschlossen. Die Bedingungen dieses Abkommens sind aller Welt bekannt. Als ich vor Abschluß des Charters gefragt wurde, ob wir die großen Geldleistungen an den türkischen Staatsschatz alljährlich würden erschwingen können, bejahte ich es unbedingt. Bei Unterzeichnung des Charters hatten wir der türkischen Regierung zwei Millionen Pfund Sterling bar zu erlegen. Dazu kam noch die jährliche Abgabe von fünfzigtausend Pfund Sterling durch dreißig Jahre und ein Viertel des Reinerträgnisses der „Neuen Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina“, ebenfalls an den türkischen Staatsschatz zu entrichten. Nach Ablauf der ersten dreißig Jahre aber werden wir bekanntlich den Reinertrag der neuen Gesellschaft mit der türkischen Regierung teilen, falls diese es nicht vorzieht, den letzten zehnjährigen Durchschnitt der von uns erhaltenen Geldleistungen als für immer gleichbleibende Abgabe zu beziehen. Die Erklärung hierüber hat uns die türkische Regierung im siebenundzwanzigsten Vertragsjahre kundzumachen. Wir können allerdings schon heute vermuten, daß die türkische Regierung lieber den halben Reinertrag der neuen Gesellschaft in Anspruch nehmen wird, weil dabei für sie viel mehr herauskommt. Für diese Abgaben erhielten wir die Verwaltung der zu besiedelnden Gebietsteile, deren Oberhoheit dem Sultan dabei erhalten blieb.

Nun waren das freilich sehr große Geldleistungen und es regten sich anfänglich Zweifel, ob die neue Gesellschaft so gedeihen könne. Das Land war bettelarm und unsere Ansiedler sollten aus dem Proletariat aller Länder herkommen. Zwar gab es mehrere große Stiftungen für jüdische Nationalzwecke. Ihr Gesamtbetrag wurde Ende 1900 mit zwölf Millionen Pfund Sterling festgestellt. Aber es waren ja außer den Zahlungen an die türkische Regierung noch große Aufwendungen für den privatrechtlichen Ankauf von Grund und Boden, für das Ansiedeln ganz mittelloser Menschen, für die Urbarmachung, Bepflanzung, Aufbesserung des Landes nötig. Woraus sollten alle diese Erfordernisse bestritten werden? In unserem engeren Komitee gab es Furchtsame, die den Zusammenbruch des Unternehmens vorhersagten. Meine Freunde und ich trugen den Sieg über diese Bedenken davon. Es gelang uns, darzutun, daß wir die Berechnung nicht nur auf Grund des Vorhandenen anstellen müßten, sondern auch auf Grund dessen, was nach aller menschlichen Erfahrung durch den Beginn unserer Arbeiten hinzukommen würde. Unser für die Zukunft errichtetes Werk würde auch durch diese selbst erhalten und gestärkt werden. Nach zehn Jahren sind die Knaben, die wir hinführen, Männer. Wenn wir Menschen haben, haben wir alles. Die Menschen aber bringen wir selber hin, erziehen sie, wie wir sie brauchen und benützen sie, wie es uns und ihnen, das heißt der Gemeinschaft, frommt. Es ist das einfachste Raisonnement von der Welt. Man macht es im kleinsten Ländchen, bei den unbedeutendsten Völkern. Nur die Juden hatten dieses ABC des Volkstums verlernt.

Es kam noch ein Wichtigeres hinzu, das unsere Juden merkwürdigerweise nicht wußten, obwohl sie es täglich auf anderen Gebieten ausübten: die Unternehmungslust! Ich will dazu ein Beispiel geben. Als zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Goldfunde im unwirtlichen Klondyke gemacht wurden, strömten erwerbshungrige Scharen nach dem eisigen Alaska. Ich spreche nicht von den Goldsuchern, sondern von den Unternehmern, die sich den Goldsuchern an die Fersen hefteten. Plötzlich wanderten Betten, Tische, Stühle, Hemden, Stiefel, Röcke, Konserven, Weinflaschen, Ärzte, Lehrer, Sänger nach Klondyke — mit einem Wort, alles, was man braucht und nicht braucht, wanderte hin, weil einige Leute dort Geld in der konzentriertesten Form erlangten. Die Nachströmenden waren nur zum Teile Goldgräber. Sie gingen nicht dem Verdienste nach, der in der Erde verborgen war, sondern dem, der schon zutage lag. Sie wollten an dem bereits gefundenen Golde verdienen.“

Der Professor konnte sich an dieser Stelle nicht enthalten, ein lautes „Sie verstehen?“ dazwischenzurufen, aber sein Bruder zischte ihn so heftig nieder, daß er beschämt schwieg. Und der Phonograph sprach weiter:

„Ich habe dieses grelle Beispiel gewählt, um zu zeigen, wie jede Erwerbsgelegenheit, wenn sie den Unternehmungsgeist anspricht, schnell noch andere Erwerbsgelegenheiten schafft. Jeder praktische Mensch weiß das beinahe instinktiv, ohne erst auf die Professoren der Nationalökonomie zu warten, die es ihm in geheimnisvollen Ausdrücken erklären. Tatsächlich gehörten wir Juden schon seit langer Zeit zu den findigsten Unternehmern. Nur auf unsere eigene Zukunft hatten wir früher nie wirtschaftliche Hoffnungen gebaut. Warum? Weil die Sicherheiten fehlten. Wenn die Sicherheiten aber geschaffen wurden, mußten wir in diesem Lande mindestens dieselbe Unternehmungskraft betätigen wie in anderen Ländern.

Darum machte mir das Hervorkommen der notwendigen Kapitalien keine übermäßige Sorge. War das Land bereit und die Einwanderung eingeleitet, so mußte jedes angemessene Gelderfordernis aufzubringen sein. Und darum bejahte ich die Frage, ob wir die Geldleistungen an die türkische Regierung in diesem Umfange auf uns nehmen könnten, ohne befürchten zu müssen, daß es uns dann an den Investitionskapitalien fehlen werde. Das war von mir kein Experiment. Es war die Anwendung von weltalten Tatsachen und Erfahrungen.

Der Charter wurde abgeschlossen. Wir erlegten die Bezahlung. Da mir von diesem Augenblick an die Leitung der Kolonisation übertragen war, bedang ich mir vor allem aus, daß der Charter vorläufig noch nicht veröffentlicht werden dürfe. Ich wollte kein tumultuarisches Einwandern haben. Es wäre gewiß zu argen Unordnungen gekommen. Die ärmsten, gierigsten Leute wären hierhergestürzt, Kranke und Alte hätten sich hergeschleppt. Wir würden vor allem anderen Hungersnot und Epidemien gehabt haben. Es gibt ein altes französisches Theaterstück, das heißt: die Furcht vor der Freude. So wie es darin zugeht, so halte auch ich Furcht vor der Freude meiner armen Juden. Ich mußte sie behutsam vorbereiten. Ich mußte auch uns vorbereiten.

Das Direktorium der neuen Gesellschaft wurde eingesetzt. Das Direktorium ernannte mich zum Generalmanager auf fünf Jahre. Dann erhielt ich für die ersten Ausgaben den Kredit von einer Million Pfund. Einer meiner Ingenieure meinte, das sei wenig.“

„Verdammt wenig!“ schrie Kingscourt und winkte heftig: „Stoppen Sie ‚mal den Klapperkasten!“

David hatte den Phonographen schon zum Stillstand gebracht.

„Wenn Sie mich ollen Meerjreis ernstlich aufklären wollen, müssen Sie mir jefälligst einiges sagen, sonst versteh‘ ich Ihren janzen Joe mitsamt seinem Telephonographen nich… Was ist das für ’ne neue Jesellschaft? Ist das dieselbe, von der in Neudorf mehrstenteils die Rede war? Und was ist das für’n Direktorium? Und woher haben Sie das Jeld, wenn’s auch nich viel ist?“

David nickte mit dem Kopfe:

„Alle diese Fragen begreife ich. Joe Levy glaubte freilich nicht, daß er davon erzählen müsse, weil jedes Kind es weiß. Die neue Gesellschaft von damals und heute sind eins und dennoch verschieden. Es war ursprünglich eine Aktiengesellschaft und ist heute eine Genossenschaft. Die Genossenschaft ist vermögensrechtlich die Erbin der Aktiengesellschaft.“

„Sie verstehen?“ rief der Professor.

„Nee! Haben die Aktionäre ihr Jeld hergeschenkt? Dann ist es ’n Märchen.“

„Mr. Kingscourt“, entgegnete David, „es wird Ihnen gleich klar sein, wenn Sie die verschiedenen Rechtspersönlichkeiten auseinanderhalten. Wir haben da drei juristische oder moralische Personen: die Stiftungen, die Ende 1900 ein Vermögen von zwölf Millionen Pfund hatten. Zweite Person: die Aktiengesellschaft, die von den unserer Sache ergebenen Londoner Finanziers mit einem Kapital von zehn Millionen Pfund Sterling gegründet wurde, nachdem die Erteilung des Charters gesichert war. Dritte Person: die Genossenschaft der Kolonisten. Die letzteren waren durch ihre auf den Kongressen gewählten Führer vertreten. Diese Führer setzten die Massen erst dann in Bewegung, als sie mit der Aktiengesellschaft über deren spätere Vergenossenschaftlichung einig geworden waren.“

„Sie erstaunen mich, edler Märchenprinz!“ lachte Kingscourt. „Auf solche Sache wären Aktienmenschen, Syndikatshyänen eingegangen?“

„Es waren keine Syndikatshyänen, Mr. Kingscourt“, erwiderte David. „Es waren anständige Geschäftsleute, die sich mit einem anständigen Gewinne begnügten. Das Abkommen wurde zwischen Kapital und Arbeit gerecht getroffen. Das Geld allein, die Arbeit allein konnten den Schwierigkeiten nicht beikommen. Die Geldleute sollten ihre Sicherheit haben, die Arbeitsleute auch. Wäre das nicht vorher in Ordnung gebracht worden, so mußte mit der Zeit eine oder die andere Ungerechtigkeit eintreten: entweder hätte sich das Volk über die Rechte der Aktionäre hinweggesetzt, oder es wäre in ihre Sklaverei geraten. Beidem wurde durch die Vereinbarung vorgebeugt, daß die Genossenschaft der Kolonisten berechtigt sei, nach Ablauf von zehn Jahren die Aktien der neuen Gesellschaft einzulösen. Als Ablösungssumme wurde die fünfprozentige Kapitalisierung des in den letzten fünf Jahren erzielten Durchschnittsertrages bestimmt. Die Ablösungssumme durfte aber nicht weniger als das tatsächlich eingezahlte Aktienkapital nebst Zinsen betragen.“

Hier wagte Friedrich ein wenig schüchtern die Bemerkung:

„Das scheint mir doch eine unmögliche Bedingung. Woher sollten die mittellosen Kolonisten solche Summen erschwingen, um die Aktien der Gesellschaft zurückzukaufen?“

„Nee, mein Sohn“, meinte Kingscourt, „mir ist es jetzt schon klar wie Kloßbrühe. Wenn die Kolonisation gelang, waren die Kolonisten nicht in Verlegenheit, sich das Geld zu verschaffen. Sie konnten es als aufstrebende Genossenschaft auch jepumpt kriegen.“

„Richtig!“ sagte David. „Als die Genossenschaft an die Einlösung der Aktien zu gehen beschloß, nahm sie das notwendige Geld in Form einer vierprozentigen Anleihe auf. Schon daran hat die Genossenschaft ein gutes Geschäft gemacht. Der Reinertrag vom fünften bis zum zehnten Jahre war durchschnittlich eine Million Pfund gewesen. Für die Einlösung der Aktien waren also zwanzig Millionen erforderlich. Mit einer jährlichen Zinsverpflichtung, die dem bisherigen Reinertrage gleichkam, konnte aber die Genossenschaft zu vier Prozent fünfundzwanzig Millionen Kapital erhalten. Es blieben somit nach Erwerbung des Aktienvermögens noch fünf Millionen Gewinn von dieser Operation übrig.“

„Verdammte Jungens!“ staunte Kingscourt. „Wodurch war denn die Aktiengesellschaft so reich geworden?“

„Hauptsächlich durch die Wertsteigerung des Bodens, den sie angekauft hatte“, sagte David. „Diese Werterhöhung war den Arbeitern zu verdanken, und ihnen mußte sie schließlich gerechterweise zugute kommen. Sie sehen jetzt auch, wie wir den Übergang des Bodens an die Gemeinschaft vollziehen konnten. Das Gemeingut wurde Eigentum der Genossenschaft, die von da ab den offiziellen Namen ‚Neue Gesellschaft‘ trug.“

Architekt Steineck rief:

„Unseren lieben Gästen wird es vielleicht nicht gefallen, daß wir uns solcher anrüchigen Mittel wie Aktien und dergleichen bedient haben. Wir konnten uns aber nicht anders helfen.“

„Da irren Sie sich groß“, erwiderte Kingscourt „wenn Sie mich für ’n solches Hornvieh halten. Ich habe ja in Amerika jelebt. Ich weiß doch, was ’ne Harke ist. Eine Aktiengesellschaft ist ’n Jefäß, da kann man Jutes und Schlechtes hineintun. Ebenso, könnte einer sagen, eine Flasche sei verwerflich, weil man sie mit Gift oder Fusel füllen kann. Auch solche Kolonialgesellschaften hat’s doch in der Jeschichte jenug jegeben. Es waren miserable und ausjezeichnete drunter. Die ostindische Kompagnie war doch nicht schlecht. In eurer neuen Jesellschaft find‘ ich sogar ’nen sittlichen Grundzug. Das mit der Verjenossenschaftlichung … Nu möcht‘ ich aber hören, wie’s weiter war. Lassen Sie doch ‚mal Ihren Klapperkasten wieder laufen.“

 

Drittes Kapitel

David stellte den Phonographen wieder ein, und aus dem Schalltrichter hörte man abermals Joes Stimme, die früheren letzten Worte wiederholend:

„Das Direktorium ernannte mich zum Generalmanager auf fünf Jahre. Dann erhielt ich für die ersten Ausgaben den Kredit von einer Million Pfund eingeräumt. Einer meiner Ingenieure meinte, das sei wenig. Für den Anfang reichte es jedenfalls. Ich machte mir also meinen Plan. Wir waren im Herbst. Nach dem Winterregen wollte ich die geordnete Wanderung beginnen lassen. Ich hatte beiläufig vier Monate zur Arbeit vor mir. Da durfte keine Stunde verloren werden.

Vor allem richtete ich mir meine Zentralkanzlei in London ein und stellte für die wichtigsten Abteilungen Chefs auf, die ich kannte oder die mir gut empfohlen waren. Smith für Personentransport, Rübenz für Frachten, Steineck für das Bauamt, Warszawski für Maschinenkauf, Alladino für Landkauf, Kohn und Brownstone für die Verpflegung, Harburger für Sämereien und Baumpflanzungen. Leonkin hatte das Rechnungsdepartement, Wellner war mein Generalsekretär. Ich nenne sie in der Reihenfolge, wie sie mir einfallen. Als erster Gehilfe und Chefingenieur diente mir Fischer, den uns leider schon der Tod entrissen hat. Er war ein herrlicher, ernster, begeisterter Mensch. Wir werden nie genug um ihn trauern können.

Das Erste war, daß ich Alladino nach Palästina schickte, um so viel Land zu kaufen, wie er nur bekommen konnte. Er war ein spaniolischer Jude, des Arabischen und Griechischen kundig, ein verläßlicher, kluger Mann aus einer jener stolzen Familien, die ihren Stammbaum bis in die Zeit der Vertreibung aus Spanien nachweisen. Vor der Veröffentlichung des Charters waren die Bodenpreise mäßig. Ich durfte darauf rechnen, daß der undurchdringliche Alladino sich auch von den pfiffigsten Agenten nicht werde überlisten lassen. Die Landkäufe gingen natürlich auf ein anderes Konto der neuen Gesellschaft, es waren dafür zunächst zwei Millionen Pfund Sterling bewilligt. Fünfzig Millionen Francs waren für die damaligen Bodenverhältnisse in Palästina eine große Summe. Da ich mir beim Abschluß des Charters von der türkischen Regierung hatte versprechen lassen, daß die bisherigen behördlichen Einwanderungsschwierigkeiten bis auf weiteres bleiben sollten, war ich gegen eine überstürzte Immigration ziemlich gesichert.

Eine in kleine numerierte Gevierte eingeteilte Landkarte von Palästina wurde in meinem Bureau aufbewahrt, die genaue Kopie nahm Alladino mit. Er hatte mir einfach die Nummern der Parzellen, die er angekauft hatte, zu telegraphieren. So wußte ich jeden Tag, wieviel und welchen Boden wir bereits besaßen und konnte danach meine Dispositionen treffen.

Zur gleichen Zeit schickte ich den Botaniker Harburger nach Australien zum Ankaufe von Eukalyptusbäumchen. Auch hatte er diskretionäre Vollmacht zur Anschaffung solcher Setzlinge der Mittelmeerflora, die er zu Nutz und Zier nach Palästina verpflanzen wollte. Alladino und Harburger reisten zusammen nach Marseille. Dort trennten sie sich. Alladino ging mit dem nächsten Schiffe nach Alexandrien. Harburger reiste langsamer die Riviera hinunter, überall Bestellungen bei Gärtnern und Pflanzenhändlern für das kommende Frühjahr machend. Seine Aufgaben zeigte er täglich Rübenz an. Eine Woche später schiffte sich Harburger in Neapel nach Port-Said ein, und ich hörte dann erst wieder von ihm, als er in Melbourne angelangt war.

Ferner schickte ich sofort den Maschineningenieur Warszawski nach Amerika zum Einkauf der neuesten landwirtschaftlichen Geräte, Maschinen und aller Arten von transportablen Motoren, Straßenwalzen und so weiter. Warszawski hatte, wie alle meine Chefs, den Auftrag, sich nie ängstlich an meine Detailbefehle zu halten, sondern nur das Praktische auszuführen. Lange Berichte wünschte ich nicht. Alles Wichtige mußte mir aber sofort mit Ziffern und Tatsachen telegraphiert werden. Wer irgendwo etwas Neues, Praktisches, für unsere Zwecke Verwendbares sah, auch wenn es nicht in sein Ressort einschlug, hatte es mir sofort zu signalisieren, am liebsten telegraphisch. So habe ich im Verlaufe der Zeit manche glänzende Anregung bekommen. Unser Werk ist nur darum gelungen, weil es fort und fort auf der modernsten Höhe der Zeit war. Ich sagte Warszawski beim Abschiede bloß: Kaufen Sie kein altes Eisen! Er verstand mich.

Warszawski hatte noch einen Nebenauftrag. Er sollte die Rückwanderung der nach Amerika verschlagenen osteuropäischen Emigranten einleiten. Auf dieses Bevölkerungselement legte ich das größte Gewicht. Es waren Leute, die sich schon einmal mit Energie aus elenden Verhältnissen losgerissen und nachher die gute amerikanische Schule des Lebenskampfes durchgemacht hatten. Newyork war zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts die größte Judenstadt der Welt. Freilich konnten sich diese osteuropäischen Flüchtlinge in solchen Massen dort nicht halten. Sie drückten einander entsetzlich wie in einem Pferch und waren aus einer Misere in die andere gekommen. Da war also der Abfluß ein ebensolches Erlösungswerk wie in Osteuropa selbst. Es mußte auf ähnliche Weise die Wanderung nach Palästina vorbereitet werden. Warszawski hatte den Auftrag, die Leiter der bestehenden zionistischen Ortsgruppen zu einer vertraulichen Besprechung einzuladen. Um einer verfrühten Ablüftung des Planes vorzubeugen, hatte er ihnen nur folgendes zu sagen: „Es hat sich eine kapitalkräftige Gesellschaft gebildet und Konzessionen in Palästina erhalten, um landwirtschaftliche und industrielle Unternehmungen anzulegen. Tüchtige gelernte und ungelernte Arbeiter dürften im Monat Februar gebraucht werden. Fertigen Sie mir verläßliche Listen aus den Angehörigen Ihrer Ortsgruppen an. Die Rubriken sind: Namen, Alter, Geburtsort, bisherige Beschäftigung, Familienstand, Besitzverhältnisse. Unter den ungelernten Arbeitern erhalten die ledigen Leute den Vorzug, unter den Handwerkern die Verheirateten. Jede Ortsgruppe übernimmt für die von ihr Empfohlenen die moralische Verantwortung. Diese Verantwortung wird darin wirksam, daß eine Ortsgruppe, deren Angemeldete dann den Dienst versagen oder sich irgendwie untüchtig erweisen, späterhin vom Präsentationsrechte ausgeschlossen sein soll. Es muß eine Ehrensache der Ortsgruppe sein, nur die geeigneten Menschen vorzuschlagen. Ihre Sache ist es, wie sie die herausfinden: durch allgemeine Wahl der Mitgliederversammlung oder durch Ernennung seitens des Gruppenvorstandes. Die Mittel zur Erforschung der Eigenschaften haben sie in jedem einzelnen Falle, da sie einander kennen, jeden in ihrem kleineren Kreise arbeiten und wirtschaften sehen.“

Wörtlich die gleiche Vorschrift ließ ich auch in Rußland, Rumänien, Galizien und Algerien zur Kenntnis der zionistischen Ortsgruppen bringen. Zu diesem Zwecke sandte ich Leonkin nach Rußland, Brownstone, der in Jassy zu Hause war, nach Rumänien, Kohn nach Galizien und Smith nach Algerien. Leonkin war nach drei Wochen, die anderen schon nach vierzehn Tagen wieder bei mir in London. Sie hatten den erforderlichen Korrespondenzdienst überall eingerichtet. Natürlich mußte das alles einfach und stramm zentralisiert sein. Ich hatte in den einzelnen Ländern erklären lassen, daß mein Bureau nur mit den Zentralstellen verkehren werde. Wir wären sonst in Schreibereien ertrunken. Die Vorsteher der Ortsgruppen wählten für größere Distrikte ein gemeinschaftliches Komitee. Die Vorsteher der Distriktskomitees wieder wählte ihre Landeszentrale, die allein mit meinem Bureau zu tun hatte. Ich brauchte nur das Verzeichnis der Ortsgruppen nach Distrikten und Ländern geordnet.

Um mir den beständigen Überblick zu erleichtern, hatte ich einen kleinen Anschauungsbehelf. Ich ließ mir Stecknadeln mit verschiedenfarbigen Glasköpfen machen. Dunkelblau, lichtblau, gelb, rot, grün, schwarz, weiß. Diese Nadeln steckte ich in die auf Bretter gespannten großen Landkarten der einzelnen Staaten. Jede Farbe bedeutete den Vorbereitungszustand einer Ortsgruppe. Weiß bedeutete zum Beispiel nur, daß an diesem Ort eine organisierte Gruppe bestehe, die in der Ausarbeitung der Arbeiterliste begriffen sei. Grün bedeutete landwirtschaftliche, rot Industriearbeiter, gelb selbständige Handwerker, lichtblau endlich die bereits mit gemeinschaftlichem Vermögen gebildeten landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, die nur ein Stück geliehenen Bodens zur Ansiedlung verlangten. Schwarz war das Zeichen für die Ortsgruppe, deren Sendlinge sich nicht bewährt hatten. Dann gab es auch gemischtfarbige Köpfe an meinen Stecknadeln, grün-rot, lichtblau-gelb und so weiter. Das sind geringe Details, die mir aber die Mühe sehr vereinfachten. Ich konnte Dank meinem Nachrichten- und Kartendienst Jahre hindurch jeden Tag den ganzen Stand unserer Bewegung deutlich bis in die letzten Einzelheiten überblicken. Diese Landkarten und Telegramme begleiteten mich überallhin. Später kamen Stecknadeln mit Ziffern für die Eisenbahn- und Schiffsmarkierung hinzu. Ich wußte zu jeder Stunde, wieviel Transporte unterwegs und genau, an welcher Stelle sie waren. Befand ich mich selbst auf der Reise, so wurden mir die eingelaufenen Depeschen zweimal täglich in einem Gesamtbericht von meinem braven Wellner aus London nachgedrahtet.

Vielfach war in früherer Zeit die Meinung verbreitet gewesen, daß die Aussicht auf eine bevorstehende Auswanderung die Leute demoralisieren müsse. Niemand würde mehr Lust zur Arbeit oder zur Erfüllung seiner Verpflichtungen haben, wenn er demnächst wegziehen sollte. Das Gegenteil des Befürchteteten trat ein. Da die Ortsgruppen in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse nur die Anständigsten, Fleißigsten vorschlagen durften, so entstand überall ein löblicher Wettbewerb um die Aufnahme in die Liste. Diese wurde unversehens das Ehrenbuch der Gemeinden. Wen man für würdig erklären sollte, ins gelobte Land zu ziehen, der mußte sich redlich bemühen. So ergab sich daraus eine Nebenwirkung; ich gestehe offen, daß ich diese nicht im Traum erwartet hätte. Und sie war doch eigentlich so leicht vorauszusehen gewesen. Mancher unordentliche oder hoffnungslose Mann strengte sich mehr an als bisher und wirtschaftete vernünftiger. Mancher Haushalt wurde befestigt, mancher halb Verlumpte raffte sich wieder auf. So war die Wirkung des geregelten Auswanderns auch auf die ganz vorzüglich, die noch dableiben mußten. Und wie sie sich innerlich erhoben, so wurden sie auch ihren äußeren Verpflichtungen gerecht. In der Instruktion an die Ortsgruppen war mit größter Deutlichkeit gesagt, daß nur diejenigen angenommen werden könnten, die von ihrer politischen Behörde ein richtiges Abgangszeugnis erhielten. Für Vagabunden hatten wir keine Verwendung. Von den Regierungen, die über unser Werk vollkommen unterrichtet waren, wurden wir nach Möglichkeit unterstützt. Übrigens kam das erst später.

In den ersten Wochen, nachdem ich Alladino, Warszawski und die anderen ausgeschickt hatte, war ich nur mit meinem Chefingenieur Fischer, Steineck und Wellner in London. Da wurden die großen technischen Pläne zum erstenmal umrissen. Viele davon sind heute verwirklicht. Manche mußten wir aufgeben; andere wurden noch großartiger ausgeführt als wir gehofft hatten. Ich behaupte nicht, daß wir noch nicht Dagewesenes geleistet haben. Die amerikanischen, englischen, deutschen und französischen Ingenieure haben das alles schon vor uns gemacht. Aber im Orient waren wir doch die ersten Boten dieser Kultur.

Von Steineck ließ ich Pläne für Arbeitshäuser und Stationsgebäude anfertigen. Einige billige Typen mußten für den Anfang genügen. Hauptsache war die rasche Herstellung. Auf Schönheit konnte in der ersten Zeit nicht reflektiert werden. Die großen Leistungen Steinecks in der zweckmäßigen, graziösen und stellenweise majestätischen Anlage von größeren Ortschaften, Städten sind späteren Datums. Im Anfang hatte er nur für die rohen Unterkunftsbauten zu sorgen. Auf seinen Vorschlag bestellte ich in Frankreich fünfhundert Baracken eines neuen Systems, die wie Zelte abgebrochen und innerhalb einer Stunde aufgestellt werden konnten. Die Baracken mußten Mitte Februar in Marseille geliefert werden, wo sie Rübenz übernehmen ließ. Ich gab, nachdem die typischen Hauspläne fertig waren, Steineck den allgemeinen Auftrag, sich das Baumaterial und die Baumeister schnell, billig, nach seinem Ermessen zu schaffen. Steineck mußte sein Bauamt sofort einrichten und ich wollte ihm die weiteste Selbständigkeit gewähren. Ich sagte ihm: Begeben Sie sich unverzüglich an Ort und Stelle! Seine Antwort machte mich stutzig. Er sagte: „Ich werde zuerst nach Schweden und Finnland gehen …“

Hier wurden die Worte des Phonographen überlärmt von einem lustigen Ausbruch des Architekten Steineck. Die Erinnerung riß ihn so hin, daß er dröhnend lachte. Sein Bruder wies ihn streng zurecht:

„Beherrsche dich! Du störst uns!“

David mußte die Walze wieder zurückstellen, so daß man die letzten Worte nochmals hörte:

„… machte mich stutzig. Er sagte: Ich werde zuerst nach Schweden und Finnland gehen … Das war doch nicht die Route nach Palästina? Aber ich urteilte vorschnell. Er ging nach Schweden, um Bauholz einzukaufen. Dann reiste er nach der Schweiz, nach Österreich und Deutschland und warb an den technischen Hochschulen junge Leute, die eben mit ihren Studien fertig wurden.

Nach sechs Wochen hatte er in Jaffa seine erste Baukanzlei im Betrieb, mit ungefähr hundert Bauingenieuren und Zeichnern, unter denen sich bald sehr tüchtige Kräfte bemerkbar machten. Die Kunde vom unverhofften Bedarf an jüdischen Technikern verbreitete sich aber durch die Studentenvereine sehr rasch an allen Hochschulen. Auch da zeigte sich die Erscheinung, die wir auf einer unteren Stufe in den Ortsgruppen sehen konnten. Die Aussicht, in Palästina Verwendung und eine vielleicht glänzende Karriere zu finden, beflügelte den Lerneifer der jungen Leute. Sie vertrödelten ihre Zeit nicht mit politischem Firlefanz oder Kartenspiel, sondern trachteten, mit möglichster Beschleunigung brauchbare Menschen zu werden.

Das Holz, das Steineck in Schweden und Finnland gekauft hatte, sowie seine Eisenbestellungen in Deutschland und Österreich gab er unserem Tarifmann Rübenz auf. Dieser hatte sich inzwischen mit Eisenbahnen, Schiffahrtsgesellschaften und Dockverwaltungen in Verbindung gesetzt. Rübenz war ein geschickter Tarifeur und löste die Aufgabe in den nächsten Monaten vorzüglich. Seine Leistung ist heute ziemlich vergessen, weil ein so großartiger Schiffsverkehr zwischen unseren und den europäischen Häfen besteht. Aber in den ersten drei, vier Jahren gehörte Witz dazu, billige Frachtmittel zu finden. Rübenz benützte die erstaunlichsten Gelegenheiten, spanische, griechische, nordafrikanische Schiffe. Ich hatte ihn immer im Verdacht, daß er das Speditionsgeschäft als Sport betreibe. Er ließ seine Waren die wunderbarsten Reisen und Umwege machen. Aber am Tag, an dem man sie brauchte, waren sie da, und es stellte sich manchmal heraus, daß er eine langsamere Beförderung gewählt hatte, um Lagerzins zu sparen. Das Schiff war in seiner Behandlung ein schwimmendes Dock. Er hatte in seiner Abteilung auch mehrere Landkartensysteme mit bunten Stecknadeln, die Getreide, Mehl, Zucker, Kohle, Holz, Eisen und so weiter bedeuteten. Wollte ich mich über den Materialstand orientieren, brauchte ich nur in sein Bureau zu gehen. In wenigen Minuten hatte ich alle Auskünfte und ein übersichtliches Bild unserer Vorräte. Rübenz war ein Pfennigsparer. Damit hat er unserer Wirtschaft riesige Summen eingebracht.

Es war auch ein Gedanke des Rübenz, die großen Kaufhäuser in England, Frankreich und Deutschland noch vor Beginn der Wanderung zu verständigen. Diese Kaufhäuser hatten Massen alter Ladenhüter und ihre Besitzer durften froh sein, solchen Absatz zu finden. Für uns war es eine bedeutende Entlastung, daß wir nicht für alle Lebensnotwendigkeiten unserer Ankömmlinge im vorhinein sorgen mußten. Wie sollten wir alle die Betten, Tische, Schränke, Matratzen, Kissen, Decken, Schüsseln, Teller, Töpfe, Wäsche, Kleider, Stiefel vorbereiten? Das wäre an sich schon eine ungeheure Aufgabe gewesen. Wir überließen sie am besten solchen konkurrierenden Großunternehmern, die sich dabei ihren Vorteil suchen mochten. Diese Kaufleute hatten freilich in den armen Einwanderern keine sehr geldkräftige Kundschaft. Anders als in Teilzahlungen konnten die Ansiedler die Waren nicht erstehen. Doch gab es eine Sicherheit darin, daß die neue Gesellschaft die vereinbarten Raten den Arbeitern und Angestellten vom Lohn abzog und den Kaufhäusern direkt zuführte. Dadurch erlangten wir aber auch einen gesunden Einfluß auf die Warenpreise, die unseren Ansiedlern gerechnet wurden. Unser Rechnungsdepartement ließ sich mit den Kaufhäusern auf solchen Verkehr nur ein, wenn sie ihren festen Preistarif vorgelegt hatten. So wurde die Bewucherung der armen Leute verhindert, und die Warenmagazine machten große Umsätze bei völliger Sicherheit. Ja, es ist noch selten in der Weltwirtschaft vorgekommen, daß die Lieferanten einen bevorstehenden Warenverbrauch mit solcher Wahrscheinlichkeit abschätzen konnten. Die Lieferung hatte etwas Heeresmäßiges und doch Freies. Die Konkurrenz blieb allen offen. Dadurch wurde alles billiger. Einer Kartellierung der Warenhäuser war leicht vorzubeugen. Für Geschäfte, die sich zu einem Preiskartell zusammentaten, besorgten wir die Verrechnung nicht. Sie mochten dann zusehen, woher sie ihre Kundschaft nahmen. Unsere ordentlichen Leute bekamen sie nicht.

Auf diese Art schufen wir in zwei, drei Monaten den Markt der ersten Zeit. Während sich in allen Ländern die Ortsgruppen um die Auswahl der Tüchtigsten bemühten, bereiteten englische, deutsche und französische Warenhäuser ihre Niederlassungen in Haifa, Jaffa, Jericho und vor den Toren Jerusalems vor. Die einheimische Bevölkerung sah das Auftauchen der abendländischen Sachen mit Staunen. Man wußte sich anfangs die Merkwürdigkeiten gar nicht zu erklären. Ein schnurriger Brief des Architekten Steineck aus dieser Zeit schildert die gravitätische Verblüffung der Orientalen beim Erscheinen dieser Wunder. „Ernste Kamele blieben stehen und schüttelten den Kopf“, schreibt unser Freund. Aber die Einheimischen fingen gleich zu kaufen an, und bis nach Damaskus und Aleppo, nach Bagdad und an den persischen Golf verbreitete sich die Kunde von den neuen Bazaren. Die Leute strömten herbei. So bewirkte schon die Vorahnung unseres Unternehmens ein Aufleben von Handel und Wandel. Nach den glänzenden Resultaten der ersten Monate begannen einige Großhändler die gangbarsten Waren in Palästina selbst zu erzeugen, weil sie dabei die Transportspesen ersparten. Das waren die frühesten Ansätze zu unserer heutigen blühenden Großindustrie.

Man hat mir später einen Vorwurf gemacht, daß ich das Reichwerden von Unternehmern begünstigte. Ich bin dafür auch in Zeitungen beschimpft worden. Das ist mir sehr gleichgültig. Anders war es nicht zu machen, und jedem kann man es nicht recht machen. Ich hatte nur darauf zu sehen, daß kein Beamter der neuen Gesellschaft mehr als sein rechtmäßiges Gehalt verdiene. Darauf habe ich erbarmungslos gesehen, das wird mir jeder bezeugen. Daß ich kein Vermögen gemacht habe, ist auch bekannt. Wenn aber freie Unternehmer reichlich erwarben, so konnte mir das im Interesse unserer Sache nur recht sein. Wo Gold aus der Erde gewaschen wird, dort strömen die Menschen hin. Auf welche Weise es gewaschen wird, ist gleichgültig. Ich unterschätze die idealen und sentimentalen Beweggründe nicht, aber die materialistischen sind auch etwas wert.

Ich greife da wieder einer späteren Entwicklung vor. Nach Steinecks Abgang hatte ich Zeit, die Pläne meines guten Fischer zu studieren. Seine Entwürfe für die Straßen, Wasser- und Kraftversorgung, Eisenbahnen, Kanäle und Häfen waren klassisch. Sein größtes Werk, der Kanal vom Mittelländischen zum Toten Meer, mit der geistreichen Ausnützung des Niveauunterschiedes, breitete er schon damals auf dem Papier vor mir aus. Ein Schweizer Ingenieur, ein Christ, der aus Begeisterung für den Zionismus zum Judentum übergetreten war, und den Namen Abraham angenommen hatte, half ihm bei dieser Arbeit. Der bescheidene Fischer pflegte ihn immer als den eigentlichen geistigen Urheber des Werkes hinzustellen. Die ausgezeichneten Landkarten des englischen Generalstabs und namentlich die plastische Karte Armstrongs, die vom Palestine Exploration Fund herausgegeben worden, leisteten uns dabei unschätzbare Dienste. Um diese Zeit regte ich auch die Gründung der ersten Eisenbahngesellschaften an. Die armselige Linie Jaffa-Jerusalem konnte natürlich den kommenden Bedürfnissen nicht genügen. Die Küstenbahn von Jaffa südwärts nach Port-Said, nordwärts über Cäsarea, Haifa, Tyrus, Sidon, nach Beirut mit dem Anschluß nach Damaskus wurde vor allem gesichert. Es folgte die neue Linie nach Jerusalem, die Jordantalbahn mit den östlichen und westlichen Abzweigungen am See von Genezareth, die Libanonbahnen. Die Kapitalien wurden von Warszawski in Amerika und von Leonkin in Rußland aufgetrieben. Ich hatte Kämpfe mit meinem Direktorium wegen der Zinsengarantien. Man erklärte mich für tollkühn, weil ich die Rentabilität solcher Linien gewährleisten wollte. Ich setzte meinen Willen durch und behielt mit meinen Schätzungen Recht. Es war allerdings eine Affäre von fünf Jahren, in denen ich nach und nach eine Linie um die andere durchdrückte. Heute ist das alles alte Geschichte, die Bahnen sind ja ins Eigentum der neuen Gesellschaft übergegangen.

Nächst den Transportfragen beschäftigte mich die des Zugviehs am meisten. Eine meiner Aufgaben war ja die Einrichtung einer sehr großen Landwirtschaft. Die Zugviehherden mußten nicht nur angeschafft, sondern auch nach Palästina gebracht und gefüttert werden. Ich hatte darüber manche sorgenvolle Unterredung mit Brownstone, in dessen Abteilung das fiel. Seine Vorschläge sagten mir nicht recht zu. Ich hatte ordentlich Angst vor dem Gedanken, Herden von vielen tausend Ochsen in den Donauländern anzukaufen und sie auf langsamen Land- und Wasserwegen hinüberzuschaffen. Brownstone drängte, es wäre schon die höchste Zeit, aber ich konnte mich lange nicht entschließen. Am sympathischsten war mir der Gedanke, Zugvieh aus Ägypten zu holen. Dagegen sprach auch manches.

Während der ersten Wochen konnte ich mich nicht von London wegrühren. Aber einmal machte ich einen Sprung nach Deutschland, um mir den neuen elektrischen Motorpflug anzusehen. Ich war von dem Ergebnis geradezu begeistert. Den elektrischen Pflug rechne ich zum allergrößten, was uns das neunzehnte Jahrhundert geschenkt hat. Heute ist der elektrische Pflug freilich viel praktischer als er damals war. Aber schon in seiner früheren Form fand ich ihn ausgezeichnet. Ich kaufte augenblicklich den ganzen Vorrat der Fabrik auf, bestellte nach, was sie bis Februar liefern konnte und telegraphierte an Warszawski nach Neuyork: „Kaufen Sie elektrische Pflüge Motorsystem zusammen, so viel Sie bis Februar bekommen können.“ Er antwortete: „Werde sehen.“ Als ich wieder in London eintraf, hatte ich seine Depesche: „Dreihundert Motorpflüge werden Mitte Februar in Jaffa sein.“

Durch diesen Fund war ich von einigen Sorgen erleichtert. Es gab nach meiner Rückkehr aus Deutschland einen komischen Auftritt mit Brownstone. Ich sehe noch sein verblüfftes und beleidigtes Gesicht, als ich ihn in meiner Freude anschrie: „Mein Lieber, Sie sind überflüssig geworden — wir brauchen keine Ochsen mehr!…“ Erst aus dem Gelächter der Umstehenden erkannte ich das drollige Mißverständnis, bat ihn um Entschuldigung und erklärte die Sache. Brownstone jauchzte laut auf, und so taten die übrigen. Allerdings war unser Freund Brownstone auch jetzt nicht überflüssig geworden. Es gab noch reichlich für ihn zu tun, wenn er auch weniger Zugochsen aufzubringen hatte. Wir brauchten immer noch genug Pferde, Milchkühe, Schafe, Geflügel und entsprechende Futtervorräte für all das Getier. Dieser Zwischenfall hatte sich bald nach Brownstones Rückkehr aus Rumänien abgespielt. Jetzt schickte ich ihn nach Holland, der Schweiz und Ungarn, um gutes Vieh einzukaufen.

Statt der Ochsen mußten wir uns nun Kohlen für die Pflüge besorgen. Das war die Sache Rübenz‘. Damals war die asiatische Kohle noch nicht so leicht erreichbar wie jetzt. Rübenz deckte sich den voraussichtlichen Bedarf an Kohle in England durch einfachen Depeschenwechsel. Innerhalb vierundzwanzig Stunden war das erledigt. Es war einer der glücklichsten Momente, in denen einem der Kulturfortschritt fühlbar wird. Denn schon das hielten wir damals für eine kolossale Errungenschaft. Sie war es auch. Wir hatten damals noch nicht die Wasserkraft des Toten-Meer-Kanals. Heute brauchen wir ja nicht mehr die englische Kohle, um den Boden von Palästina zu pflügen. Auch das Lokomobil, das am Feldrande stand, ist für uns eine altertümliche Erscheinung geworden. Wir haben jetzt unsere Drähte, in denen die Kraft vom Jordangefälle, vom Toten-Meer-Kanal oder von den Bächen des Libanon und Hermon weit übers ganze Land den Pflügen zugeleitet wird. Statt der Kohle haben wir das Wasser.

Dies waren in großen Zügen meine ersten Vorkehru…“

Hier bat Professor Steineck geräuschvoll ums Wort. David stellte sogleich die Walze ein.

„Ich muß eine Bemerkung machen“, sagte der Professor. „Es ist eine mehr literarische Bemerkung, nehmen Sie mir das nicht übel. Wissen Sie, was das ist, was wir soeben vom verborgenen Joe gehört haben? Das neue Chad-Gadja. Sie verstehen?“

Kingscourt verstand natürlich nicht. Man mußte es ihm erklären. Chad Gadja, chad Gadja, das Lämmchen, das Lämmchen, ist die letzte halb scherzende und halb nachdenkliche Geschichte im Buche des Passahfestes. Das Lämmchen wird von der Katze gefressen, der Hund zerreißt die Katze, der Stock erschlägt den Hund, das Feuer verzehrt den Stock, die Quelle löscht den Brand, der Ochse trinkt die Quelle aus, der Schlächter tötet den Ochsen, der Todesengel nimmt den Schlächter fort — und über allen ist Gott, der den ganzen Weg regiert, vom Todesengel bis zurück zum Lämmchen, zum Lämmchen.

„So“, meinte der Professor, „geht es auch mit den Kräften am Pflug. Den Ochsen verdrängt die Kohle, die verdrängt wird vom Wasser …“

Worauf der alte Littwak sagte:

„Und über allen ist Gott — bis zurück zum Lämmchen.“

 

Viertes Kapitel

Es war spät und die Zuhörer waren müde geworden. So beschloß man, die weitere Erzählung des Phonographen auf einen anderen Tag zu verschieben.

Die Gesellschaft entfernte sich.

Es war eine mondhelle Nacht, und der Weg von der Villa des alten Littwak an dem Seeufer hin nach dem Hotel ein genußvoller Spaziergang. Kingscourt wandelte mit Professor Steineck voran, Fragen über Fragen stellend. Er war allmählich warm geworden für diese Judengeschichte, hielt es jedoch für notwendig, wiederholt zu betonen, daß es ausschließlich das Element von modernem Großbetrieb darin sei, was ihn einigermaßen fessele. Für das Schicksal von Menschen, sie seien Juden oder Nichtjuden, könne er sich nun einmal absolut nicht interessieren. Er sei und bleibe ein Menschenfeind, halte es für den größten Unsinn, sich um den lieben Nächsten zu kümmern, denn das sei das lächerlich Undankbarste. Aber als kurioses Massenunternehmen wolle er sich diese Judenwanderung immerhin gefallen lassen. Er wolle sich sogar morgen recht gern die Fortsetzung der phonographischen Erzählung anhören.

Die anderen Sedergäste schritten zu zweien und dreien plaudernd hinterdrein. Zuletzt kam Frau Sarah mit Friedrich, der ganz in Träumen war und seiner liebenswürdigen Begleiterin kein Wort gab. Sie waren schon beinahe an ihrem Ziele angelangt, als sie ihn endlich mit seiner Schweigsamkeit leise neckte. Da wachte er auf und sagte:

„Welche Nacht! Der Mondesduft auf dem See von Genezareth — und all dies Wunderbare, das nur natürlich ist! Auch ich möchte die Frage des Seders stellen: Wodurch unterscheidet sich diese Nacht von anderen Nächten? Ich ahne es schon: durch die Freiheit, in der wir erst Menschen werden… Ach, Frau Sarah, wer da mitarbeiten, mitleben dürfte!“

„Dürfen Sie denn nicht?“

„Nein. Kingscourt will bald fort.“

„Ach was!“ lachte sie. „Das werden wir schon einrichten. Ihr beide gehört zu uns. Sie als Retter unserer Familie, er als Ihr Freund. Den Herrn Doktor Löwenberg werde ich demnächst hier ansiedeln — bitte, keine Widerrede! Ich werde doch auch etwas zu sagen haben. Und was den alten Brummer betrifft, den werde ich schon durch Liebesbande zu fesseln wissen.“

Friedrich schrie ergötzt auf:

„Sie wollen ihn verheiraten?“

„Wenn ich wollte, täte ich es“, erklärte Frau Sarah. „Ich würde ihn zum Beispiel mit Mrs. Gothland — oder mit meiner Schwägerin Mirjam verheiraten.“

„Der Scherz ist ein bißchen grausam gegen den alten Herrn.“

„Ein Mann“, sagte sie darauf ganz ernst, „ist nie zu alt zum Heiraten. Das habt ihr trotz der Gleichberechtigung noch immer vor uns voraus. Übrigens, Ihren Mr. Kingscourt will ich durch andere Liebesbande festhalten. Von meinem Fritzchen ist er entzückt, das habe ich schon bemerkt. Es wundert mich nicht, denn das sieht doch jeder, daß es noch nie ein solches Kind gegeben hat, wie mein Fritzchen.“

Friedrich ging auf ihre liebe mütterliche Narretei ein:

„So schön!“

„Er ist noch gescheiter als schön, noch gutartiger als gescheit“, sagte sie eifrig. „Was meinen Sie nun, wenn ich Mr. Kingscourt oft mit meinem Fritzchen beisammen sein lasse, wird ihm das Kind nicht ans Herz wachsen? Dann kann er sich nicht losreißen, bleibt für immer hier, und Sie mit ihm.“

Friedrich lächelte gerührt über die Herzenseinfalt der sonst so klugen Frau und störte ihr den Glauben nicht, daß man sich von ihrem Fritzchen nicht losreißen könne. Das war aber auch ein liebes lustiges Bürschchen, und es schien sogar, als hätte Frau Sarah die Anziehungskraft ihres Sohnes auf den alten Herrn nicht überschätzt. Kingscourt wurde am nächsten Vormittag von Friedrich in einer wahrhaft beschämenden Lage überrascht: er kroch nämlich im Zimmer des Kindes auf allen Vieren und ließ Fritzchen auf sich herumreiten.

„Der Junge wird entschieden ein Kavallerist“, sagte er in seiner Verlegenheit, nachdem ihm Friedrich wieder auf die Beine geholfen hatte. „Und jetzt gehst du zu deiner Kinderfrau, sonst versohl ich dich, daß dir die Schwarten knacken.“

Da er diese Drohung aber mit seinem freundlichsten Schmunzeln ausstieß, verspürte das Kind keine Angst, klammerte sich vielmehr noch fester an ihn. Der kleine Knabe wußte nämlich nicht, daß er es mit einem der grimmigsten Menschenhasser zu tun hatte. Ja, als das Fritzchen dann zu den Großeltern geschickt werden sollte und Kingscourt nicht mitging, erhob es ein solches Geheul, daß die verzweifelte Mutter den alten Herrn bat, sich seiner zu erbarmen. Was wollte Kingscourt tun? Er opferte sich mit scheinbarer Selbstüberwindung, lachte aber über das ganze Gesicht, als Fritzchen nun wieder den vollen Sonnenschein der guten Laune zeigte. Die anderen mögen nur später nachkommen, wann es ihnen beliebe; er wolle sich noch dieses eine Mal für den ungezogenen Rangen opfern. Frau Sarah, David und Friedrich folgten schon nach einigen Minuten auf dem Seewege, und da sahen sie vor sich in der Entfernung Mr. Kingscourt, wie er hinter der Kinderfrau ging, auf deren Arm Fritzchen zurückgewendet jauchzte. Den ganzen Weg machte er, unbekümmert um die Vorübergehenden, dem Bübchen einen Narren. Denn er war alt geworden, ohne die Tyrannei und den Zauber eines kleinen Kindes kennengelernt zu haben. Er wußte gar nicht, daß ein solches rosiges Baby einem gefährlich werden könne, und weil er so ganz ahnungslos, ganz wehrlos war, geriet er in die komischste Knechtschaft. Fritzchen hatte ihm den Namen „Otto“ gegeben. Die Sprachforscher des Bekanntenkreises führten dies auf das „Hüh hottoh“ zurück, das die ersten freundschaftlichen Beziehungen zwischen Adalbert von Königshoff, genannt Kingscourt, und Fritzchen Littwak ausgefüllt hatte. Genug, Mr. Kingscourt hieß im Munde des Baby „Otto“.

Solange Fritzchen munter war, durfte Otto sich mit niemand und nichts anderem beschäftigen. Erst als der junge Despot nach der Mittagsmahlzeit mit roten Wangen eingeschlummert war, konnte Kingscourt die Fortsetzung von Joe Levys Erzählung verlangen. Alle gestrigen Zuhörer waren nicht da. Mrs. Gothland, die an der Spitze einer Pflegerinnengesellschaft stand, war auf Krankenbesuch aus. Der Pope von Sepphoris hatte heimkehren, müssen. Pater Ignatius war heute auch nicht frei. Die Brüder Steineck sollten später eintreffen. Aber da man den Phonographen zu beliebiger Zeit die Rede wiederholen lassen konnte, so waren auch die Abwesenden in der Lage, das Versäumte gelegentlich nachzuhören.

David hatte den Apparat in den Salon des ersten Stockes bringen lassen, der an das Krankenzimmer der Mutter grenzte. Die Leidende befand sich heute etwas besser. Man konnte sie auf dem Rollstuhle hereinschieben. Sie saß mit einem freundlich wehmütigen Lächeln im wächsernen Gesicht da und lauschte gleich den anderen. Neben ihr kauerte Mirjam auf einem Schemel, von Zeit zu Zeit die Hand der Kranken befühlend. Der alte Littwak hatte es sich in einem großen Fauteuil bequem gemacht, ebenso Kingscourt. Reschid Bey half David beim Herrichten des Apparates und setzte sich dann still hin. Der gute Mr. Hopkins hatte mit Friedrich in einer Ecke Platz genommen. Friedrich konnte von da aus über die Köpfe der Zuhörer hinweg zu den Fenstern hinaus ins Freie blicken, bis nach den Bergen jenseits des Sees. Und zwischen ihm und dem Landschaftsbilde war der lichtumflossene Umriß Mirjams.

David stellte die Walze ein und Joe Levys Stimme nahm die Erzählung an der gestern verlassenen Stelle auf:

„Dies waren in großen Zügen meine ersten Vorkehrungen.

Schon war aber die Maschine in Gang. Von Alladino kamen günstige Nachrichten über den Landkauf. Steineck meldete, daß er im Monate März in Haifa eine Ziegelei nach neuem System und eine Zementfabrik eröffnen lassen werde. Warszawski und Leonkin zeigten an, daß in den Ortsgruppen überall die vortrefflichste Stimmung herrsche. Brownstone und Kohn hatten sich bereits die Lieferung von Getreide und Vieh für das Frühjahr gesichert.

Wir mußten aber nicht nur an die mittellosen Massen denken, sondern auch an die wirtschaftlich höheren Schichten, die nach Palästina gezogen werden sollten. Auf diese konnte nicht durch Arbeitshilfe oder direkte Unterstützung gewirkt werden. Es war eine andere Form der Anregung für sie zu suchen. Ich bediente mich einer Idee des Khediven Ismail von Ägypten. Wer sich verpflichtete, ein Haus im Werte von mindestens dreißigtausend Francs zu bauen, dem überließ Ismail das erforderliche Grundstück ohne Entgelt. So tat auch ich, bedang aber den Heimfall des Grundeigentums an die neue Gesellschaft im fünfzigsten Jahre. Wir hatten ja beschlossen, das altjüdische Jubeljahr wieder einzurichten. Es ist bekannt, wie der Khedive durch seinen klugen Ratschluß die reizende Stadt Kairo entstehen machte. Die Wirkung war bei uns eine ähnliche. Kaum war diese Vergünstigung durch unsere Vertrauensmänner ausposaunt worden, so liefen auch schon die Bauanmeldungen aus allen Ländern massenhaft ein. Generalsekretär Wellner arbeitete nun in Gemeinschaft mit dem Chefingenieur Fischer eine Belehrung für die Baulustigen aus. Die Stadtpläne von Haifa, Jaffa, Tiberias und noch anderen Orten waren in großen Umrissen noch vor Steinecks Abreise festgestellt worden. Auch hatte unser Architekt mehrere Typen von schmucken Bürgerhäusern geliefert. Wir ließen diese Pläne nebst den Preisangaben vervielfältigen, und schickten sie den gemeldeten Baulustigen, die aber nicht an diese Typen gebunden waren. Sie sollten nur sehen, was und mit welchem Kostenaufwande es gemacht werden könne. Die erste allgemeine Zuweisung der Bauplätze sollte am 21. März, am Tage des Frühlingsanfanges erfolgen. Bei dieser Zuweisung sollten nur die bis zum ersten März eingelaufenen Anmeldungen berücksichtigt werden. Voraussetzung war aber, daß der Platzbewerber der allgemeinen Genossenschaft unserer Ansiedler als Mitglied beitrat, daß er eine Kaution in bar oder in Wertpapieren in der Höhe eines Drittels vom geplanten Bauwerte an der Kasse der neuen Gesellschaft erlegte, und daß er persönlich oder durch einen Bevollmächtigten vertreten bei der Zuweisungstagfahrt erschien. Die Kaution konnte der Bauherr zurückfordern, sobald er den Bau des Hauses begonnen hatte.

Dann ließ ich durch Wellner eine Verordnung für das Zuweisen der Plätze ausarbeiten. Am Tage des Frühlingsanfangs hatte ein Beamter der neuen Gesellschaft an jedem Orte, wo Baulustige gemeldet waren, die Wahl einer drei-, fünf- oder siebengliedrigen Kommission — je nach der Größe der Liste — zu leiten. Die Angemeldeten wählten aus ihrer Mitte die Kommission. Bei der Zuweisung der Plätze kamen die zuerst, die zuerst mit dem Bau beginnen wollten. Bei gleichem Anfang aber hatten die Gruppen, die Zahlreicheren vor den Wenigen, den Vorzug. Zuletzt kamen die Einzelnen. Bei völliger Gleichheit aller Bedingungen sollte das Los entscheiden. Die Bevorzugung der Gruppen hatte den Zweck, die Entstehung eines kräftigen Ansiedlungskernes überall zu begünstigen und auch gleich die Gemeindeverbindung zur Übernahme der örtlichen Lasten anzubahnen. Tatsächlich wurde dadurch erreicht, daß auch die einzeln Erschienenen sich noch im Augenblicke vor der Zuweisung einer Gruppe anschlossen und die kleineren Gruppen den größeren. So wurden bei aller Freiheit Streitigkeiten vermieden. Für die Verteilung der Plätze innerhalb der Gruppen gab es nämlich auch Bestimmungen. Wer einen größeren Teil der örtlichen Lasten, als da sind: Herstellung von Straßen, Wegen, Kanalisation, Beleuchtung, Wasserversorgung, übernahm, dem gebührte auch der bessere oder geräumigere Platz. Diese einfachen und gerechten Grundsätze waren leicht durchzuführen. Der anwesende Beamte der neuen Gesellschaft hatte über den Zuweisungsakt ein Protokoll aufzunehmen, das die Kommission mitunterschrieb.

Das Protokoll wurde noch am selben Tage dem Rechtsbureau meiner Zentraldirektion nach Haifa eingeschickt. Entsprach es den allgemeinen Bestimmungen und war dagegen kein Protest von einem richtig Angemeldeten eingebracht, so wurde die Platzanweisung rechtskräftig und die Besitztitel wurden nach Ablauf einer Woche ausgestellt. War aber ein Protest da, so wurde eine Untersuchung des Falles an Ort und Stelle unverzüglich vorgenommen. Zu diesem Zwecke richtete ich schon im vorhinein die reisenden Beschwerdeämter ein, die vom Rechtsbureau in Haifa ausstrahlten. Ein solches Reiseamt bestand aus zwei rechtskundigen Beamten und einem Schriftführer. Es bekam die Route der Orte vorgezeichnet, aus denen Beschwerden gekommen waren, und hatte mit größter Beschleunigung von einem Orte zum anderen zu fahren. Die Kosten hatte derjenige zu tragen, auf dessen Unrecht erkannt wurde. Einen weiteren Rechtszug gab es nicht. Für diese und andere Aufgaben des Rechtsbureaus ließ ich durch Wellner, unter dem es zunächst stehen sollte, ungefähr fünfzig absolvierte Juristen und junge Doktoren der Rechte in verschiedenen Ländern anwerben. Wir brauchten diese vielsprachige Juristerei auch für unsere Korrespondenz, die ja in allen Sprachen geführt werden mußte.

Wohl der wichtigste Teil der Korrespondenz waren die Auskünfte, die wir den selbständigen Unternehmern von Industrien zu geben hatten. Da arbeitete Wellners juristisches Sekretariat Hand in Hand mit dem technischen Departement Fischers. Wir hatten durch die Blätter aller Länder verlautbart, daß Unternehmer, welche in einem Küstenlande des mittelländischen Meeres mit einigem Kapital an die Gründung von Industrien gehen wollten, Rat, genaue Auskünfte über Arbeits- und Absatzverhältnisse, eventuell auch Maschinenkredit erhalten könnten. Mit jeder Post sendeten die Expeditionen der Zeitungen, in denen wir inseriert hatten, Stöße von Briefen ein. Die Beantwortung war zunächst leicht, denn in der Mehrzahl der Fälle wurde nur gefragt, welches Land es sei. Für die gleichförmigen Anfragen genügten fünf oder sechs gleichförmige Bescheide, die ich drucken ließ. Das Sekretariat hatte nur die Adressen zu schreiben. Aber bald lösten sich aus den zahllosen Tausenden mehrere hundert ernster Projektanten heraus. Es waren keineswegs Juden allein. Anfänglich waren sogar die Nichtjuden und unter diesen die protestantischen Deutschen und Engländer überwiegend, weil diese ja die stärksten und kühnsten Kolonialunternehmer unter den Völkern sind. Bei der Erledigung der Anfragen ließen wir uns von keiner Rücksicht auf Nationalität oder Konfession leiten. Jeder, der den Boden Israels bearbeiten wollte, war uns willkommen. Unser technisches Bureau und das Sekretariat lieferten alle gewünschten Angaben gewissenhaft. Natürlich zogen auch wir, bevor wir uns mit dem Einzelnen tiefer einließen, Erkundigungen über seine Vertrauenswürdigkeit ein. Den Würdigen vermittelten wir alle denkbaren Erleichterungen unentgeltlich. Die Unternehmer, die sich an uns wendeten, mußten auch weniger Lehrgeld zahlen als anderswo. Denn sie erfuhren von uns, auf welchen Punkten eine übermäßige Konkurrenz bereits tätig war oder sich vorbereitete. Es lag im Interesse der neuen Gesellschaft, daß alle Unternehmungen, die sich ihr anschlössen, auch gediehen. Darum bedienten wir die freien Unternehmer, als hätten sie unsere eigenen Angelegenheiten besorgt. Aus diesen Anfragen und Antworten des Londoner Sekretariats entwickelte sich allmählich unser Departement für Arbeits- und Unternehmungsstatistik. Dem haben wir unendlich viel in unserer Volkswirtschaft zu verdanken. Wir konnten dadurch den jetzigen Zustand erreichen: eine Freiheit ohne wahnsinnige Überproduktion, eine Ordnung ohne Druck auf den einzelnen.

Nachdem ich diese und noch manche andere ernste Dinge in Gang gebracht hatte, ließ ich mir auch eine heitere Sache angelegen sein…“

In diesem Augenblicke gab die kranke Frau Littwak ihrem Sohn ein Zeichen. David hielt die rollende Walze sofort auf und eilte zu seiner Mutter. Sie fühlte sich müde und wollte wieder zu Bett gebracht werden. David und Mirjam schoben den Rollstuhl sachte hinüber in die Krankenstube. Die arme Dulderin grüßte die Zurückbleibenden noch mit den Augen. Dann schloß die Tür sich hinter ihr. Der alte Littwak seufzte, und auch die anderen waren traurig.

 

Fünftes Kapitel

Nach einer kleinen Weile kam David wieder herein. Er fragte die Freunde, ob sie jetzt die Fortsetzung der Erzählung wünschten. Als sie bejahten, ließ er den Phonographen an der vorigen Stelle einsetzen. Und der unsichtbare Joe Levy sprach:

„… ließ ich mir auch eine heitere Sache angelegen sein. Sie wurde anfänglich als Unterhaltung und Sport gedeutet und vielfach bekrittelt. Ich rüstete nämlich das Schiff der Weisen aus. Dieses Schiff wollte ich den rückkehrenden Juden voraufziehen lassen nach dem alten und neuen Lande. Schon sein Erscheinen in den mittelländischen Gewässern sollte die andere Zeit bedeuten.

Die Veranstaltung war nicht schwer. Ich warb den ersten Beamten eines großen englischen Reisebureaus an, sagte ihm mein Vorhaben, und in vierzehn Tagen legte er mir alle Kostenvoranschläge, Vertragsentwürfe und Pläne vor. Von einer italienischen Schiffsgesellschaft mietete ich auf den Vorschlag des Reisemarschalls den eleganten modernen Dampfer „Futuro“, der zwischen Neapel und Alexandrien zu verkehren pflegte. Das Schiff sollte am fünfzehnten März in Genua bereit sein und uns durch sechs Wochen zur Verfügung bleiben. Ferner ließ ich durch den Reisemarschall die Verpflegung von fünfhundert Passagieren in den besten Hotels der italienischen, ägyptischen, kleinasiatischen und griechischen Städte versorgen. Die Mitfahrenden konnten nach Belieben in Genua oder Neapel den Futuro besteigen. Ihre Billette gaben ihnen das Recht zur Fahrt auf allen italienischen Bahnen und zum Aufenthalt in den ersten Hotels. Äußerlich nahm sich die Expedition wie eine der schon damals gebräuchlichen Vergnügungsreisen nach dem Orient aus. Es war aber mehr. Die Damen und Herren, die wir eingeladen hatten, auf dieser sechswöchigen Frühlingsfahrt nach dem Morgenlande unsere verehrten Gäste zu sein, gehörten zum erlauchtesten Geistesadel der Kulturwelt. Ein Komitee von Schriftstellern und Künstlern war eingesetzt worden, um die Liste dieser Ehrengäste zu entwerfen. Die Besten aus aller Welt wurden gerufen, selbstverständlich ohne Unterschied von Nationalität und Konfession. Die Besten wurden gerufen und sie kamen gern, nicht nur weil wir ihnen eine helle Frühlingsreise versprachen, sondern vor allem, weil es eine so einzige Zusammenkunft mit ihresgleichen war. Auf dem Futuro trafen sich Dichter und Philosophen, Erfinder und Entdecker, Forscher und Künstler aller Zweige, Staatsgelehrte, Volkswirtschaftler, Politiker und Journalisten. Für Körper und Geist war in reichlichem Maße vorgesorgt. Der Reisemarschall hatte den ganzen Luxus, den die besten Gesellschaftsausflüge der damaligen Zeit bieten konnten, verschafft. Die Gäste des Futuro sollten in diesen sechs Wochen das Glück der wolkenlosen Tage erfahren. Von der Musikkapelle, welche zur Tafel aufspielte, bis zur täglich am Morgen ausgegebenen Bordzeitung war nichts vergessen. Und daß es dieser im Schiffsraume gedruckten Zeitung an fesselndem Inhalte nicht fehlte, das ergab sich schon aus der Zusammensetzung der Reisegesellschaft. Es war viel Küstenfahrt und in allen Häfen warteten schon die neuesten Depeschen aus der ganzen Welt auf den Futuro. Wenn das Schiff nachts auf einer Reede angelegt hatte, fand man die dort erhaltenen Depeschen am nächsten Morgen im Blatte. Aber viel köstlicher war der literarische Teil. Denn die Vorgänge und Erlebnisse des Tages wurden von den feinsten Federn geschildert. Namentlich erschienen in der Bordzeitung von Tag zu Tag, wie sie gehalten worden, die später berühmt gewordenen Tischgespräche; man hat sie die neuen Platonischen Dialoge genannt. Von allen höchsten Fragen war da in erhabener Form die Rede. Die edelsten Geister der Menschheit äußerten sich, unvergeßliche Anregung gebend und empfangend. Ich will nur einige der behandelten Gegenstände erwähnen. Man sprach über die Einrichtung eines wahrhaft modernen Gemeinwesens, über die Erziehung durch die Kunst, über Bodenreform, über die Organisierung der Wohltätigkeit, über die Arbeiterfürsorge, über die Rolle der Frau in einer zivilisierten Gesellschaft, über die Entwicklung der Technik in Wissenschaft und Praxis und noch über manches andere, woraus alle Menschen einen unvergänglichen Nutzen ziehen konnten. Die „Tischgespräche des Futuro“ sind längst eine Kostbarkeit der Weltliteratur geworden. Ich selbst kenne sie nur aus der Lektüre, denn es war mir nicht vergönnt, sie mitanzuhören. Ich hatte ja nicht Zeit, diese einzige Vergnügungsfahrt mitzumachen, weil ich bei der Arbeit sein mußte. Ich war schon lange in Haifa, als der Futuro noch in Genua ankerte. Aber gelesen habe ich die Bordzeitung mit einer Aufmerksamkeit und Dankbarkeit wie nie vorher oder nachher ein Tagblatt. Ich bin kein Philosoph und konnte mich auch in jenen Tagen weniger als je mit abstrakten Dingen abgeben. Aber was aus den Tischgesprächen des Futuro in praktische Energie umzusetzen war, das bemühte ich mich herauszufinden und anzuwenden. Denn mir kam es vor, als hätte vom Futuro her der Geist der Menschheit zum jüdischen Volk gesprochen, als es eben daran war, sich eine neue Existenz zu gründen. Diese Lehren mußten beherzigt werden. Besonders reich und fruchtbar wurden sie, als unsere edlen Gäste den Boden von Palästina betraten. Das Schiff der Weisen fuhr die Küste entlang, die Reisenden schwärmten nach ihrer freien Wahl im Lande umher, in kleineren Gruppen und Expeditionen, für die der Reisemarschall mit seinem Stabe von Gehilfen alle Bequemlichkeiten und Erleichterungen vorbereitet hatte. Alle interessierten sich nicht für alles in gleichem Maße. Die Geologen wollten anderes sehen als die Elektrotechniker; die Botaniker anderes als die Architekten; die Maler anderes als die Volkswirtschaftler. Die wahlverwandten Gruppen zogen also aus und kehrten auf den Futuro zurück, wann sie wollten. Die hohe und heitere Geselligkeit auf dem Futuro übte aber auf manche eine derartige Anziehungskraft aus, daß sie sich vom Schiffe selten entfernten. Einige sahen vom Lande nichts als die Bahnstrecke nach Jerusalem und diese Stadt. Von einem geistreichen Schriftsteller wird erzählt — ich weiß nicht, ob es wahr ist —, daß er das Schiff überhaupt keinen Augenblick verlassen habe. Er soll gesagt haben: „Dieses Schiff ist Zion!“ Er beschrieb aber nachher ausführlich das Land und seine Leute.

Er konnte das freilich aus den besten Quellen schöpfen. Denn die Ausflügler, die nach dem Futuro zurückkehrten, brachten Material in Hülle und Fülle, mit sachkundigen Augen gesehen, in meisterhafter Schilderung. Da hatten die Tischgespräche neuen Stoff, und es begann eine Reihe wunderbarer Dialoge über das, was sich in Palästina schaffen ließe. Diesen Teil der Tischgespräche habe ich mit Ehrfurcht oft und oft gelesen. Ich weiß sie noch heute fast wörtlich auswendig. Den tiefsten Eindruck machten auf mich die Ratschläge der Künstler, offenbar weil ich selbst keiner bin. Im Praktischen war ja nur ein bißchen gesunder Menschenverstand nötig, um die Dinge, die es anderswo schon gab, auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Den Künstlern vom Futuro verdankte ich die herrliche Lehre, daß unser Land in seinen natürlichen Schönheiten erfaßt und entwickelt werden müsse. Schön sollte es werden, schön überall, schön vor allem. Weil Schönheit die Herzen der Menschen immer erfreut.

Zu meinen merkwürdigsten Erlebnissen gehört es, daß ich den Futuro nicht einmal ordentlich zu Gesicht bekam. Ich hatte seine Fahrt vorbereitet, mich um sein Wohl bekümmert, ich dachte immer an ihn und folgte den Worten seiner Weisen. Aber gesehen habe ich ihn nicht, wenigstens nicht genau. Und das kam so:

Als der Futuro an unserer Küste erschien, war ich eben im Innern des Landes beschäftigt. Fischer, Steineck und Alladino begrüßten das Schiff namens der neuen Gesellschaft, als es vor Jaffa anlegte. Ich wollte mich unseren Gästen vorstellen, sobald ich meine damaligen dringenden Arbeiten erledigt hätte. Denn das war eine Zeit, wo ich Tag und Nacht unterwegs sein mußte, von einem Arbeitslager zum anderen. Ich schlief öfters in meinem großen Motorwagen, der mich von Ort zu Ort brachte. Von unserem heutigen Komfort war damals begreiflicherweise noch keine Rede. Wenn ich vorher wußte, wo ich übernachten würde, ließ ich mir eine Baracke aufschlagen. Aber das war nicht immer im vorhinein bestimmbar. Auch war es nützlich, daß ich da und dort unerwartet auftauchte, um die Straßenarbeiten, die Landverteilung und den Feldbau zu besichtigen. Wohl waren für alles detaillierte Pläne und Instruktionen da, doch wollte ich mich auch persönlich überzeugen, ob alles am Schnürchen ging. Mit meinem Hauptquartier zu Haifa war ich in beständiger Verbindung. Von dort kamen Meldungen, die mich zu hastigen Kreuz- und Querfahrten veranlaßten. Bei aller Planmäßigkeit gab es doch Zwischenfälle mit den Arbeitern oder in der Verpflegung, die rasches Eingreifen, Änderungen im Vorgesehenen, neue Dispositionen nötig machten. Bei der Bodenzuweisung schürzten sich manchmal gordische Knoten, die nur ich zerhauen konnte. Auf den eigenen Ländereien der neuen Gesellschaft war man beim Frühjahrsanbau. Wir hatten zwar die landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften nach dem System von Rahaline eingerichtet, aber die Leute waren noch neu bei der Sache, sie brauchten eine führende Autorität und gelegentlich eine höhere Entscheidung. Es waren durchaus keine ungewöhnlichen Aufgaben, sie erforderten nur eine stete Aufmerksamkeit. Sommerweizen, Gerste, Hafer, Mais, Rüben anzubauen ist gewiß keine Kunst. Hier gab es jedoch allerlei Schwierigkeiten. Wir mußten mit dem widerspenstig gewordenen Boden ringen. Wir hatten die modernsten Mittel und den zähesten Willen, wir haben den Boden besiegt, und er ward unser Freund. Die Organisation war die Hauptsache, und die hatten wir schon vor der Mobilisierung fix und fertig. Der Arbeitstag der Leute, welche von der neuen Gesellschaft abhingen, hatte nur sieben Stunden, aber es waren Stunden voll konzentrierten Eifers. Die einen machten Wege, die anderen gruben Kanäle, die dritten lasen Steine aus den Feldern, die der elektrische Pflug furchen sollte, die vierten bauten Häuser, die fünften pflanzten Bäume, und so weiter. Und jeder wußte, daß er für alle arbeite und alle für ihn. Singend zogen sie zur Arbeit und singend kehrten sie in ihre Lager zurück. Und es war ein rascher Frühling in diesem Werden, wie man es in der Natur sieht, wenn die dürren Bäume plötzlich zu grünen anfangen. Und jeder Tag machte die erworbene Geschwindigkeit unseres Fortschrittes wachsen. Ich hatte vor allen Dingen das Telegraphen- und Telephonnetz zu legen begonnen. Dem allgemeinen Verkehr konnte es natürlich nicht gleich dienen, unserer Verwaltung diente es sehr bald. Von Haifa strahlten die Leitungen längs den Hauptlinien unserer Arbeit aus. Ein Telegraphist fuhr in einem der Begleitwagen immer hinter mir her, und der Anschluß an mein Bureau in Haifa, somit auch an die Londoner Zentrale, war schnell hergestellt. Ein guter Nachrichtendienst war mir natürlich immer das Wichtigste. Nur so konnte ich über Menschen und Material übersichtlich disponieren. Jetzt gab es jeden Tag Landungen von fünfhundert, tausend, zweitausend Einwanderern in den verschiedenen Häfen von Jaffa bis Beirut. Am Tage nach der Ankunft wurden sie schon weiterdirigiert, ohne Verzug an die Arbeit. Für die Eisenbahnlinien allein waren zehntausende von Männern erforderlich. Andere zehntausende für die Errichtung der öffentlichen Gebäude unserer neuen Gesellschaft: Betriebsämter, Verwaltungsstellen, Schulen, Krankenhäuser und so weiter. Die Ausführung war kein Kunststück, wenn nur der Plan so feststand, wie es bei uns der Fall war. Für die Arbeit an Wegen, Eisenbahnen und anderen öffentlichen Bauten bekamen unsere Arbeiter nicht nur den Lohn ausgezahlt — nach Abzug der Raten, die wir mit den Kaufhäusern für die von den einzelnen bezogenen Waren verrechneten —, sie erwarben auch Anspruch auf die spätere Kolonisierung. Der Mann, den wir vom Hafen weg zu den verschiedenen Arbeiten kommandiert hatten, sollte bis zum Herbst bereits das für ihn inzwischen hergestellte Haus in einer Kolonie beziehen und seine Familie zu sich rufen können. Die Sache war, wie gesagt, sehr einfach, es mußte nur ein Plan da sein. Die Militärverwaltungen der großen Staaten hatten im neunzehnten Jahrhundert viel schwierigere Aufgaben gelöst. Es ist eigentlich schon unbescheiden, daß ich unser Werk mit solchen Leistungen vergleiche. Wir hatten bis zum Herbst nur eine halbe Million Menschen anzusiedeln und bis dahin war eine erste Ernte zu gewärtigen. Die Heeresverwaltungen des vorigen Jahrhunderts mußten Millionen Menschen versorgen, möglicherweise in Feindesland, jedenfalls in einer Zeit allgemeiner Einschüchterung von Handel und Verkehr. Wir dagegen befanden uns in Freundesland, nein, auf dem väterlichen Boden, und wir verscheuchten nicht, wir zogen vielmehr Handel und Verkehr gewaltig an. Die Leute, die wir zunächst verpflegten, schufen sogleich die Mitte zu ihrer baldigen eigenen Verpflegung und zu derjenigen der Nachkommenden. Überall im Lande wurden von freien Unternehmern Fabriken gebaut, die im Herbst unter Dach sein sollten. Tatsächlich mußte doch jeder vernünftige Mensch einsehen, welch glänzende Aussicht für Industrien sich in diesem Lande eröffnete. Der Absatz an Ort und Stelle bei so mächtiger Einwanderung, die Möglichkeit, bei billigem Tarif die jetzt noch ohne Rückfracht fahrenden Importschiffe zu benützen, die Küstenausdehnung, die Lage des Landes in der Mitte zwischen Europa und Asien — das alles zusammen lockte die Leute her. Und als ich nach der ersten Ernte, die nicht einmal besonders gut, sondern eben nur erträglich war, den Stand der Dinge überblickte, konnte ich den Entschluß fassen, die Einwanderung im Herbste nicht zu unterbrechen. Ursprünglich war es so geplant gewesen. Aber die Sistierung war, Gott sei Dank! nicht nötig. Ich telegraphierte dies dann an alle Landeszentralen, und es erregte ungeheuren Enthusiasmus in den Ortsgruppen. Von unserer ersten Ernte datiere ich den Sieg der neuen Gesellschaft. Es gab später viel reichere Ernten, das alte Gold der Brotfrucht wuchs uns üppiger aus dem Boden, aber nie wieder heimsten wir so viel ein. Denn wir ernteten damals das Vertrauen unserer Brüder in der ganzen Welt. Kaum zwölf Monate waren vergangen, seit ich meinen großen Generalstab in London versammelt hatte, und ich durfte meinen Freunden im Hauptquartier zu Haifa sagen, daß das erste Jahr gut gewesen sei.

Unser Direktionsgebäude in Haifa war in jenem Herbste wohl schon unter Dach, aber im Innern noch nicht fertig. Bezogen sollte es erst im zweiten Frühjahr werden. Ich konnte dennoch schon meinen wackeren Gehilfen erklären: Unser Haus ist unter Dach! Ich meinte damit die ganze neue Gesellschaft. Es galt nur, von da weiter auch nichts zu versäumen, immer mit gespannter Aufmerksamkeit unsere Pflicht zu tun. Die Aufgaben wurden umfangreicher, und doch waren sie in der Folge leichter zu bewältigen. Der Apparat war aufgestellt, wir mußten ihn nur richtig in Stand und Gang erhalten. Die größeren technischen Werke wurden geschaffen, namentlich unsere Wasseranlagen. Wir knüpften da an eine sehr alte Tradition unseres Volkes wieder an. Die salomonischen Teiche zeugen noch von der verschollenen Tüchtigkeit unserer Vorfahren. Wir hatten freilich andere Wasserwerke herzustellen, nicht nur für die Trinkwasserversorgung von Jerusalem und anderen Städten; auch für Kraft und Licht. Der Tote-Meer-Kanal und die übrigen technischen Leistungen beweisen, daß die Ingenieure der neuen Gesellschaft nicht rasteten. Ihnen allen immer voran ihr herrlicher Chef, der unvergeßliche Fischer.

Und noch ein anderer Strom ergoß sich befruchtend über unser Land: Kapital und Kredit. Unsere zielbewußte Arbeit, unsere ersten Erfolge weckten das Vertrauen. So wie wir in den landwirtschaftlichen Produktivgenossen neue Bauern auf die Scholle gesetzt hatten, so brachten wir auch den modernen Ackerbaukredit ins Land. Früher hatte man geglaubt, daß wir unsere Geldmittel erschöpfen würden, wenn wir unseren Ansiedlern Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude, Felder und Maschinen, Pferde, Kühe und Schafe und Geflügel, Wagen und Geräte, Lebensmittel, Saat und Futter gäben. Die Klügsten unserer Gegner hatten sogar ausgerechnet, wann wir auf dem Trocknen sitzen müßten. Eine Familie, nach dem Durchschnitt mit fünf Köpfen angenommen, koste zur Ansiedlung ungefähr sechshundert Pfund Sterling. Folglich kosteten tausend solche Familien sechsmalhunderttausend Pfund, zehntausend sechs Millionen, das ist hundertundzwanzig Millionen Mark, und so fort. Diese ausgezeichneten Rechner hatten dabei nur die Kleinigkeit übersehen, daß die Ansiedler einen bedeutend größeren volkswirtschaftlichen Wert repräsentieren, und daß man auf Wertvolles auch Geld geborgt erhält. Die neue Gesellschaft konnte ihre Geldmittel durch wohlgedeckte und amortisierbare Anleihen gewaltig vermehren. Mit einem Worte: je mehr der Ansiedler wir herüberbrachten, um so mehr Geld strömte uns zu. So ist es überall in der Welt, wo man zu wirtschaften versteht; warum hätte es nicht auch bei uns so sein sollen? Das war ebenso einfach und selbstverständlich wie alles andere.

Aber ich bemerke eben, daß ich von der Zeit abgekommen bin, von der ich erzählen wollte. Das war die Zeit, in der uns der Futuro besuchte. Ich war im Innern des Landes beschäftigt, wie ich schon erwähnte. Von Tag zu Tag mußte ich meine Abreise nach Jaffa verschieben. Dort lag das Schiff der Weisen, die ich so gern gesehen und gesprochen hätte, vor Anker. Einmal geschah es, daß mehrere Wagen mit Ausflüglern vom Futuro in meiner Nähe auftauchten. Ich war zu Pferde auf dem Feld, als sie auf dem neuen Wege vorüberkamen. Sie betrachteten die große Dampfstraßenwalze, sahen auch einen Augenblick unseren Leuten beim Arbeiten zu. Von den Hüten der Damen flatterten die lichten seidigen Sonnenschleier, und das sah sehr hübsch aus. Ich ritt aber doch nicht an die Wagen heran, weil ich, bestaubt und verschwitzt wie ich war, den Eindruck eines Wegelagerers zu machen fürchtete. Ich dachte mir, ich würde schon in Jaffa Gelegenheit haben, mich diesen interessanten, feinen Menschen vorzustellen. Es kam anders. Am nächsten Tage erhielt ich ein Telegramm, das mich zu schleuniger Fahrt nach Konstantinopel zwang. Ich mußte mit der türkischen Regierung eine sehr wichtige Sache ins Reine bringen. Die Zeit drängte. In aller Eile ließ ich meine Jacht in Haifa heizen und berief die Chefs der Abteilungen zusammen. Den Oberbefehl übergab ich Fischer, der alle meine Absichten genau kannte, und ich dampfte mit meinen Sekretären noch am selben Tage nach Konstantinopel ab.

Den Futuro hatte ich nicht besuchen können, aber ich hoffte, ihn bei meiner Rückkehr von Stambul noch an der Küste zu finden. Ich tat auch mein Möglichstes, um die Verhandlungen rasch zu beenden. Doch wie es nun einmal in dieser liebenswürdigen und schläfrigen Stadt geht, alles zog sich in die Länge, und meine Ungeduld half mir nichts. Im Geiste und in den Dispositionen war ich freilich bei unseren großen Arbeiten in Palästina. Mit Fischer und dem Londoner Bureau blieb ich in allstündlichem Zusammenhange. Nur mit der geistreichen Heiterkeit des Weisenschiffes konnte ich mich auf telegraphischem Wege nicht verbinden. Mein Bedauern wuchs in dem Maße, als der Futuro nordwärts fuhr. Die täglichen Telegramme Fischers brachten auch über das Verbleiben des Futuro Nachricht. Schon war er in Tyrus, in Sidon gewesen. Vor Beirut sollte er länger ankern, um den Ausflug nach Damaskus zu ermöglichen. Da hoffte ich ihn auch zu finden, als ich endlich von Konstantinopel wegkam. Ich hatte zwar die größte Eile, meine Arbeiten wieder an Ort und Stelle aufzunehmen, aber einen halben Tag Aufenthalt in Beirut wollte ich mir gönnen, um die Bekanntschaft dieser ausgezeichneten Menschen zu machen. Meine gute Jacht flog nur so über die Wellen hin. Ich hatte den Kapitän gebeten, das Äußerste der Geschwindigkeit zu leisten. Dennoch kamen wir zu spät. Bei der Insel Cypern, an der wir eines Morgens vorüberkamen, sah ich ferne ein Schiff in entgegengesetzter Richtung fahren. Wie der Blitz durchzuckte es mich: das ist der Futuro! Ich stürmte auf die Kommandobrücke und sah durchs Fernrohr. Ich hätte ein geübter Seemann sein müssen, um ein Schiff auf diese Distanzen zu erkennen. Der Kapitän war leider nicht auf der Brücke, sondern in seiner Kajüte. Bis man mir ihn holte, war jenes Schiff aus unserem Gesichtskreise verschwunden. Aufs Geratewohl hinterdrein zu jagen wäre nicht ratsam gewesen. Erstens war es fraglich, ob wir jenen Dampfer noch erreichen konnten; zweitens versäumte ich vielleicht eben dadurch den Futuro, falls er noch vor Beirut lag. Wir blieben also in unserem Kurs. Erst in Beirut erhielt ich die Kunde, daß ich richtig vermutet hatte. Jenes Schiff im Morgensonnenschein vor Cypern war der Futuro gewesen.

Ich empfand darüber einen gewissen Schmerz. Und seither habe ich den Wunsch, es möge mir wenigstens vergönnt sein, die Wiederkehr des Futuro zu sehen. Denn fünfundzwanzig Jahre nach seiner ersten Fahrt soll er wiederkommen. Allerdings nicht das gleiche Boot, weil es eine veraltete Form hat; ein neues Prachtschiff wird seinen für immer berühmten Namen erhalten. Und allerdings auch nicht ganz die gleichen Gäste, weil manche schon gestorben sind; wir wollen eben außer den Überlebenden von der ersten Reise auch noch diejenigen einladen, die inzwischen die Besten der Kulturwelt geworden sind.

Und alle fünfundzwanzig Jahre soll ein Dampfer Futuro einen solchen Areopag, vor dessen Urteil wir uns beugen wollen, zu uns bringen. Wir werden nicht die Potemkinschen Dörfer einer Weltausstellung aufrichten. Das ganze Land soll zur Besichtigung da sein, die Gäste vom Futuro unsere werte Jury. Und wenn sie nun wiederkommen, und unser Herrgott mich sie diesmal nicht versäumen läßt, und sie finden, daß Joseph Levy seine einfache und doch schwere Aufgabe einigermaßen anständig gelöst hat, dann – dann will ich in Pension gehen. Und wenn ich sterbe, legt mich an die Seite meines teuren Freundes Fischer, dort oben hin auf den Karmelfriedhof, von wo man den Blick hat auf mein liebes Land und mein liebes Meer.“

 

Sechstes Kapitel

Die Erzählung des Phonographen war zu Ende. Die letzten Worte hatten auf die Zuhörer einen tiefen Eindruck gemacht.

Kingscourt räusperte sich stark und bemerkte:

„Scheint ’n charmanter Kerl zu sein, euer Joe, ’n ganz charmanter Kerl. Schade, daß er nicht hier ist. Hätte ihm gern die Hand gedrückt. Na, hoffentlich sieht man ihn doch, bevor man weiterzieht … Auf eine Sache hat er mich übrigens recht gespannt gemacht: auf den Toten-Meer-Kanal. Scheint ja so ’ne Art Weltwunder zu sein. Wann werden wir ihn denn beaugapfeln, den sagenhaften Kanal?“

David versprach es für die ersten Tage nach der Passahwoche. Diese Zeit aber verbrachten sie in heiterer Ruhe zu Tiberias. Kingscourt aß wacker mit von den ungesäuerten Broten und schimpfte zwischendurch, daß man ihn, einen christlichen und deutschen Edelmann, ganz und gar verjude. Mit besonderer Heftigkeit schimpfte er auch über Fritzchens Tyrannei, die täglich anspruchsvoller wurde. Dieser kleine Schuft glaubte wohl, daß der alte Kingscourt auf die alten Tage nichts Gescheiteres zu tun habe, als sich zum Steckenpferd eines solchen Rangen herzugeben. Doch gestattete sich der Brummbär das Raisonnieren nur, wenn Fritzchen schlief, und alle Vorsätze der Auflehnung schwanden, sobald das Kind nach „Otto“ rief. Als man sich nach Ablauf der Osterwoche anschickte, die Fahrt durch das Jordantal nach Jericho zu machen und David das Kind bei den Großeltern zurücklassen wollte, hatte Kingscourt allerlei einzuwenden. Der Bursche solle doch auch das Land ein bißchen kennenlernen, und David wäre eigentlich ein Rabenvater, wenn er Fritzchen allein ließe, und im schlimmsten Fall würde er, Kingscourt, sich opfern und auf den ganzen Toten-Meer-Kanal verzichten, wenn Fritzchen nicht mitkäme. Kurz, er drang so lange darauf, bis man sich entschloß, auch das Bübchen mitreisen zu lassen. Da tat Kingscourt freilich, als wäre ihm das äußerst gleichgültig; er war persönlich daran nicht im mindesten beteiligt, er hatte sich nur des hilflosen Kindes angenommen.

Architekt Steineck und Reschid Bey waren mittlerweile nach Haifa zurückgekehrt. Reschid wollte nach seiner Familie sehen, versprach aber, in Jerusalem wieder zu den Freunden zu stoßen. Der Architekt hatte mit den nahe bevorstehenden Delegiertenwahlen für den Kongreß viel zu tun. Wie die Zeitungen und Privatnachrichten meldeten, machte die Partei Geyer ungeheure Anstrengungen. Da mußte Steineck auf dem Posten in Haifa sein, wo sämtliche Fäden der Agitation zusammenliefen und allstündlich die Losungsworte an die Ortskomitees hinaus telephoniert oder telegraphiert wurden. David aber hatte in seinen eigenen Geschäften noch einiges drüben in der Landschaft Dscholan zu besorgen, bevor er die Fahrt nach Jericho antreten konnte. Er lud seine Gäste ein, ihn nach dem Dscholan zu begleiten, wo es auch Merkwürdiges zu sehen gäbe. Friedrich Löwenberg schloß sich bereitwillig an, da auch Mirjam und Professor Steineck mit von der Partie sein sollten. Hingegen blieb Kingscourt noch länger in Tiberias, weil er Frau Sarah und Mrs. Gothland nicht allein im Motorwagen nach Besan fahren lassen wollte. Man verstand seine liebenswürdige Schwäche für Fritzchen schon und neckte ihn nicht übermäßig wegen seines Verweilens in Tiberias. In zwei Tagen also würden sich die beiden Teile der Reisegesellschaft wieder zu Besan im Jordantale vereinigen. Kingscourt sollte mit Frau Sarah, Mrs. Gothland, dem Kinde und der Kinderfrau im Motorwagen nach Besan fahren und dort im großen Hotel auf die vom Dscholan Kommenden warten.

Eine schmucke Barke mit elektrischem Betriebe harrte der vier Reisenden, die nach dem jenseitigem Ufer des Sees von Genezareth übersetzen wollten. Die Zurückbleibenden hatten ihnen das Geleit bis ans Schiff gegeben. Friedrich Löwenberg reichte seinem alten Freunde zum Abschied die Hand.

„Wissen Sie, Fritze“, sagte Kingscourt mit grimmiger Betonung, „daß wir da vor einer Neuerung stehen? Seit zwanzig Jahren haben wir uns keinen Tag verlassen. Mensch, geraten Sie mir in der Gegend mit dem verrückten arabischen Namen da drüben auf keine Abwege! Sonst soll Sie ein mehrfach gesalzenes Donnerwetter einholen. Und Sie, Fräulein Mirjam, benützen Sie gefälligst die Gelegenheit nicht, um diesem Jüngling den Kopf zu verdrehen! Er ist erst dreiundvierzig Jahre alt. Das ist das gefährlichste Alter. Und nun Gott befohlen! In Besan sieht man sich wieder!“

Mirjam war bei dem derben Scherz des Alten rot geworden, aber Friedrich auch. Ganz verwirrt stiegen beide in die Barke. Kingscourt sah Mrs. Gothland mit bedeutungsvollem Zwinkern der Augen an, und er freute sich unbändig, daß es ihm gelungen war, die beiden in Verlegenheit zu bringen.

Es war einer der weichen Frühlingstage, die am See von Genezareth so lieblich sind. Rasch durchschnitt die Barke die von einer spielenden Brise bewegten Wellen. Die lichten Palästchen und Villen von Tiberias wurden immer kleiner und die steilen Höhen des östlichen Ufers rückten heran. Wundervoll war der Blick auf den schneeigen Hermon im Norden, und die zahlreich vorbeistreichenden Schiffe aller Arten und Größen boten die munterste Unterhaltung. So verging die Fahrt hinüber wie ein eiliger Traum. Am anderen Gestade legte die Barke in einer kleinen Bucht an. Die Reisenden hatten nur wenige Schritte zur Station der elektrischen Bahn. Sie mußten auch nicht allzulange auf den Zug warten, der sie weiterbringen sollte. Sie nahmen in einem Salonwagen Platz und fuhren nach El Kunetra. Dort hatte David Littwak seine Geschäfte abzumachen. Das Bahngeleise stieg allmählich an, da es bis El Kunetra tausend Meter Meereshöhe zu erreichen hatte. Diese Stadt war als ein Knotenpunkt der Bahnen im Ostjordanlande zu ansehnlicher Bedeutung gelangt. Zwischen Safed und Damaskus liegend, war sie ein wichtiger Stapelplatz des Verkehrs.

Als David mit seinen Freunden aus dem Salonwagen stieg, bemerkten sie auf einem anderen Geleise, wo der Zug nach Beirut zur Abfahrt bereitstand, einen Waggon, aus dem singende Knabenstimmen tönten. Es waren Jungen im Alter von vierzehn bis zu sechzehn Jahren.

„Die machen wohl einen kleinen Ausflug?“ erkundigte sich Friedrich.

„Jawohl, einen kleinen Ausflug — rund um die Erde“, erwiderte Professor Steineck schmunzelnd.

Und Mirjam erklärte dem erstaunt Aufhorchenden, was das für eine Schülerreise war. Man hatte eine Einrichtung der klugen und gelehrten Benediktinermönche nachgebildet. Die französischen Benediktiner pflegten schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts Karawanen von Schülern unter der Hut ihrer Lehrer in fremde Länder zu schicken. Dort erwarben die jungen Leute die Kenntnis der Sprachen und Gebräuche. Lehr- und Wanderjahre wurden auf diese Art planvoll verbunden. Diese Jugend war inhaltsreicher als die der früheren Zeiten, und ihre Ausbildung war nicht nur gediegener, sondern auch ökonomischer. Man bekam die fertigen Menschen schneller, und was die neue Gesellschaft an Geldmitteln auf diese Schulkarawanen verwandte, das trug bald seine Zinsen. Den Karawanen wurden nur die besten Schüler aller Unterrichtsanstalten des Landes eingereiht, weil man solche Kosten an möglicherweise faule und unnütze Burschen nicht verschwenden durfte. Zugleich war darin aber auch die wirksamste Prämie auf den Lerneifer gesetzt. Die Knaben hatten keinen höheren Ehrgeiz, als die Erlangung eines Schulreiseplatzes. Die Abenteuerlust, welche die Jungen gerade in diesen sonderbaren Flegeljahren zu befallen pflegt, wurde da nicht nur gebändigt, sondern geradezu bewirtschaftet und zu einem weiteren Vorwärtskommen ausgenützt, gleich den kleinen Explosionen, die das Automobil treiben. Durch die Unterrichtsverwaltung der neuen Gesellschaft waren diese Schulkarawanen in ein gehöriges System gebracht worden. An mehreren Orten in den verschiedenen Ländern, die besucht werden sollten, hatte die neue Gesellschaft Schulhäuser mit allem zum Unterricht wie zur Verpflegung der Kinder Nötigen eingerichtet. Stille Kleinstädte in einiger Entfernung von der Hauptstadt des Landes wurden als Niederlassungsorte gewählt, für Frankreich zum Beispiel Versailles. Das war für Leib und Seele wichtiger als das Wohnen in den gefährlichen Metropolen. Jede dieser Anstalten stand unter der Leitung eines Direktors, der immer dablieb, während die Karawanen mit ihren Klassenlehrern nach drei Monaten weiterzogen. Durch eine in Jerusalem zentralisierte Verfügung wurde der Weg der Karawanen geregelt. Die Knaben lernten die Welt kennen, ohne daß ihr Lehrgang unterbrochen worden wäre.

„Und die Mädchen?“ fragte Friedrich lächelnd.

„Die Mädchen machen solche Reisen nicht“, sagte Mirjam. „Wir glauben, daß der Platz der heranwachsenden Jungfrau bei ihrer Mutter ist, wenn sie auch etwas Tüchtiges gelernt hat und ihre Pflichten in der neuen Gesellschaft erfüllen muß.“

Während David seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigte, machten Mirjam, Friedrich und Professor Steineck einen Spaziergang durch die heiter belebte Stadt, besichtigten die Bazare, die aber nur wenig Orientalisches hatten, sondern die Niederlagen europäischer Kaufhäuser waren. Sie fanden in einem recht guten englischen Hotel Unterkunft. Friedrich wunderte sich über den Komfort, der hier geboten war, nicht mehr. Es kam ihm jetzt schon selbstverständlich vor, daß an einem Orte des Weltverkehrs auch Bequemlichkeiten für zivilisierte Reisende sich befanden. Das Abendessen wurde früh eingenommen, weil man am nächsten Tage beizeiten aufbrechen wollte, um einen Ausflug nach der sogenannten Kornkammer zu machen.

Es war ein Morgen in zarten Farben. Sie fuhren mit einer elektrischen Sekundärbahn in die bezaubernd junge Landschaft hinaus. Friedrich empfand in dieser Umgebung die Frühlingsgefühle seiner ersten Jünglingsjahre. Neues Leben war in ihm aufgebrochen beim Anblick all dieser glücklichen Arbeit auf den Feldern und auch — kaum wagte er es sich zu gestehen — die Nähe der schönen Mirjam war nicht ohne Einfluß auf die Fröhlichkeit seiner Stimmung. Wie verständig erklärte sie ihm alles, was seine Aufmerksamkeit erregte. David und Steineck halfen mit mancher Erläuterung aus, wo Mirjams Wissen doch nicht ausreichte. In dieser Gegend des Ostjordanlandes befanden sie sich an einer eigentümlichen Wasserscheide. Fern vom technischen Erfindungswesen des neunzehnten Jahrhunderts aufgewachsen, mit einer bloß juristischen Bildung ausgestattet, hatte Friedrich eigentlich nicht viel von den modernen Möglichkeiten gewußt. Er glich darin den meisten mittleren Gebildeten seiner Zeit. Das Treiben der geschlossenen wie der „offenen“ Fabriken war ihm völlig unbekannt. „Offene Fabriken“ nannte nämlich Steineck in seinen plaudernden Erklärungen die neueren landwirtschaftlichen Betriebe, die sie auf ihrem Ausfluge zu sehen bekamen. Und eine Wasserscheide sei diese Gegend, weil die Wasser, die vom Norden und Süden heraufflossen, hier zusammentrafen. Friedrich glaubte zuerst an einen Scherz des Gelehrten, als dieser von den heraufströmenden Gewässern sprach. Steineck wollte sich wohl über die Unwissenheit eines so weit Zurückgebliebenen lustig machen. Doch der Aufschluß ließ nicht auf sich warten. Die Wasser selbst flossen wohl nicht bergauf, wohl aber die Kraft ihrer Wellen. Die Naturgewalten zu ändern war man auch in Altneuland nicht fähig gewesen, so wenig wie die Beschaffenheit der Menschen; wohl aber hatte man im Gefolge der allgemeinen Kultur die Naturkräfte besser kennen und ausnützen gelernt. Es war nicht mehr notwendig, das Mühlenrad unmittelbar unter dem Wasserfall anzubringen, wie in den einfältigen Zeiten. Ein Bach, der in einer Ferne von fünfzehn oder zwanzig Meilen zu Tale stürmte, trieb die Räder, denn seine Kraft wurde als elektrischer Strom in den Drähten hierher geleitet. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war dieses Problem bereits vollkommen gelöst. In Amerika hielt man darin schon vor zwanzig Jahren weit genug. Vom Niagara wurde elektrischer Strom in eine Entfernung von 162 Kilometern geleitet. Von den San-Bernardino-Bergen nach der Stadt Los Angeles in Südkalifornien gab es damals eine Leitung von 133 Kilometer Länge mit sehr geringem Kraftverlust. Das waren leicht nachzuahmende Einrichtungen. Und so konnten auch die Wasserkräfte vom südlichen Toten-Meer-Kanal wie von den Gebirgsquellen des Libanon und Hermon im Norden herangezogen werden.

„Die wahren Gründer von Altneuland“, sagte David, „waren die Wasserbautechniker. Drainage der Sümpfe, Berieselung der verdorrten Strecken und dazu das System der Kraftanlagen — darin lag alles.“

Nach anderthalbstündiger Fahrt kamen sie auf der Musterwirtschaft an, welche unter der Aufsicht der neuen Gesellschaft von einem millionenreichen Wohltätigkeitsvereine angelegt worden war. Der Direktor dieser ausgedehnten großkapitalistisch geführten Unternehmung zeigte den Gästen alles auf dem prachtvollen Landgute. Die besondere Bewunderung Friedrichs rief die elektrische Zentrale neben dem Direktionsgebäude hervor. Da waren die Wände rings mit Knöpfen, Vertiefungen, Nummern und kleinen Täfelchen bedeckt. Zwei junge Damen in schlichter Kleidung hantierten da nach den Anweisungen eines Beamten, der selbst hinter einem Pult saß und jeden Augenblick die Hörmuschel eines Telephons ans Ohr legte. Friedrich erinnerte sich bei diesem Anblick, ähnliches einmal in einer Telephonzentrale gesehen zu haben. Der Direktor erklärte, wie von hier aus durch die Drahtleitungen nach allen Punkten der Wirtschaft die Kraft versendet werde, sobald man sie benötige, aber auch nicht um eine Minute länger. Von dieser Stube aus wurden nämlich nicht nur die eigentlichen Feldarbeiten mit Kraft gespeist, sondern auch die mit der Landwirtschaft zusammenhängenden, im großen betriebenen Gewerbe: eine Zuckerfabrik, eine Bierbrauerei, die Spiritusbrennerei, die Mühle, die Stärkefabrik und so weiter.

In den Wirtschaftsgebäuden, die sie besichtigten, wie in den Fabriken, auf den Wegen und Feldern war alles nach der modernsten landwirtschaftlichen Lehre eingerichtet, eine peinliche Sauberkeit herrschte, und es ging merkwürdig ruhig zu. Das riesige Räderwerk der Musterwirtschaft machte nicht mehr Geräusch, als unumgänglich nötig schien. Friedrich fiel es auf, als ein kleiner Trupp von Arbeitern in gleichmäßiger Kleidung mit Geräten auf den Schultern an ihnen vorüberzog. Die Leute schritten gesenkten Blickes vorbei. Die einen sahen verdrossen aus, die anderen scheu. Zwei Aufseher folgten hintennach. Diese grüßten den Direktor militärisch.

„Darf ich mir eine kritische Bemerkung erlauben?“ sagte Friedrich. „Wir haben bisher in Altneuland so viel Schönes bewundert, daß ich vielleicht auch ein Bedenken äußern kann.“

„Gewiß!“ entgegnete David. „Was ist es?“

„Die Arbeiter kommen mir sonderbar gedrückt vor, als wären sie von der prachtvollen Maschine, der sie dienen, innerlich ein bißchen zermalmt. Und was nützt all die sinnreiche ökonomische Einrichtung, wenn die Menschen dabei nicht glücklicher werden? Beim Anblick dieser Leute fielen mir die Fabrikarbeiter früherer Zeiten ein. Es ist wahr, ganz so traurig sind die Mienen der Leute hier nicht, sie sehen auch viel gesünder aus als die ehemaligen Fabrikslöhner — aber immerhin, eine Ähnlichkeit ist vorhanden. Und das finde ich betrübend. Wenn man bedenkt, daß dieses Gut einer wohltätigen Gesellschaft gehört, sollte man hier doch beglücktere Menschen erwarten. Ich gestehe, daß ich ein wenig enttäuscht bin.“

Der Gutsdirektor sah ihn erstaunt an und wandte sich dann fragend an die anderen:

„Weiß Herr Doktor Löwenberg denn nicht, wo er sich befindet?“

„Nein“, sagte David. „Wir haben es ihm absichtlich verschwiegen, weil er zuerst einen unbefangenen Eindruck haben sollte. Daß diese Musterwirtschaft eine Sträflingskolonie ist, damit wollten wir ihn überraschen.“

„Ist es möglich?“ staunte Friedrich. „Dies eine Sträflingskolonie? Das ändert freilich viel an meinem Urteil. Und wie sind die Resultate der Erziehung zum Guten, Herr Direktor?“

„Die Leute werden moralisch und körperlich gesund“, erwiderte der Direktor. „Die meisten gewinnen das Landleben lieb und wollen es nicht mehr lassen. Sie bleiben nach verbüßter Strafe gern noch weiter hier und werden bezahlte Arbeiter, oder wir siedeln sie als Farmer auf immer weiter vorgeschobenen Posten an. Der Reinertrag unseres Betriebes wird für solche Ansiedlungen verwendet, und diese beginnen schon nach einigen Jahren das Hineingesteckte abzuzahlen. Wir machen aus den Abfällen der Gesellschaft wieder Menschen…“

Als die Reisenden am darauffolgenden Tage in Besan mit Kingscourt und den übrigen zusammentrafen, berichtete Friedrich über das Gesehene. Der alte Herr brummte:

„Natürlich! Wenn ich ‚mal nicht in der Gefechtslinie bin, passieren die größten Wunder; das Wasser fließt bergauf und die Gefängnisse bestehen aus Freiheit.“

Jetzt fuhr die Motorarche durch das Jordantal südwärts. Die wohlgepflegte Landstraße traf und verließ öfters den vielgewundenen Flußlauf. Der Jordan war in seiner Frühlingsfülle, die Landschaft hüben und drüben in saftigem Grün. Reizende kleine Ortschaften, Städte und villenartige Niederlassungen blinkten von den östlichen und westlichen Höhen. Von Zeit zu Zeit stürmten auf dem rechten Ufer Züge der Jordantalbahn vorüber. Der Verkehr auf der Wagenstraße selbst war auch lebhaft genug. Es war die Zeit, in der die meisten Fremden von Jericho, dem weltberühmten Winterkurort, schon abzureisen pflegten. Hier im Jordantale war es für die verwöhnten Eleganten, die aus Europa vor der rauhen Jahreszeit flüchteten, jetzt schon zu warm. Man begegnete mehreren großen Reisekutschen, ähnlich der Motorarche David Littwaks. Die fuhren mit ihren hellgekleideten fröhlichen Passagieren, Damen und Herren, in entgegengesetzter Richtung, nach Norden zu; denn jetzt kamen die Modewochen für den Libanon. Ende April schifften sich die eleganten Herdenmenschen gewöhnlich in Beyrut ein, um nach Europa zurückzukehren, wenn sie es nicht vorzogen, mit den Eilzügen der kleinasiatischen Bahnen noch rascher nach Konstantinopel zu kommen.

Aber in diesem Jordantale, das die Vergnügungsmenschen um die wärmere Jahreszeit verließen, blieb doch noch Leben zurück, eigentlich das gesündeste und stärkste Leben. Denn die von altersher wegen ihrer wunderbaren Fruchtbarkeit hochgepriesenen Ebenen zu beiden Seiten des Flusses waren üppiger als jemals. Vernünftig bewirtschaftet, mit allen neuen und besten ökonomischen Mitteln ausgestattet, brachte das Jordantal die reichsten Erträge. Reis und Zuckerrohr, Tabak und Baumwolle gediehen prachtvoll. Die Kunst der Wasseringenieure hatte hier das Herrlichste geleistet. Die Jordanregulierung war nur ein Teil ihrer Tätigkeit gewesen. Großartige Talsperren, namentlich zwischen den Bergen der Ostseite, ermöglichten die volle Ausnützung aller Wasserkräfte des gesegneten Landes. In den traurigen Zeiten der Vernachlässigung war der Regenreichtum fruchtlos versickert. Durch das einfache, in Kulturländern so wohlbekannte System der Talsperren wurde sozusagen jeder vom Himmel fallende Tropfen für die allgemeine Wohlfahrt verwendet. Und so geschah es, daß wieder Milch und Honig in der alten neuen Heimat der Juden floß, und es war, was es gewesen: das gelobte Land!

Und all diese praktische Nützlichkeit war noch gehoben und verklärt durch Schönheit. Aus den grünen Gärten, von den Terrassen der Abhänge hüben und drüben leuchteten weiße Gemäuer. Marmorvillen ragten. Der Stein war aus den unfernen Brüchen der Umgebung vom Toten Meer geholt. So war für Friedrich und Kingscourt kein Ende des erfreuten Staunens auf dem ganzen Weg nach Jericho. Und als sie in diese elegante Stadt kamen, war selbst der grimmige Raisoneur Kingscourt sprachlos über die Pracht und Zahl der großen Hotels, Palästchen und Villen, die sich inmitten der tropischen Pflanzenanlagen und Palmenalleen erhoben. So entzückend hatten sie sich den klimatischen Kurort Jericho gar nicht gedacht.

Aber Kingscourt wollte vor dem Hotel nicht absteigen. Er wünschte gleich nach dem Toten-Meer-Kanal weiterzufahren. Zum Glück war Fritzchen schon eingeschlummert, sonst hätte „Otto“ wohl keine solchen Sonderideen haben dürfen. Die Damen blieben also mit dem Kinde im Hotel zurück, und nur die Herren fuhren die kurze Strecke talwärts. Vor ihnen dehnte sich der tiefblaue Spiegel des Toten Meeres. Ein donnerndes Brausen wurde vernehmbar — die Wasser des Kanals, die durch Tunnels vom Mittelländischen Meer hierhergeführt, in die Tiefe stürzten. David erklärte mit kurzen Worten die Anlage des Werkes. Das Tote Meer ist bekanntlich der tiefste Punkt der Erdoberfläche, sein Spiegel liegt 394 Meter unter dem Niveau des Mittelmeeres. Es war der einfachste Gedanke von der Welt, diesen gewaltigen Niveauunterschied zu einer Kraftquelle zu machen. Der Gefällverlust im Laufe des Kanals von der Küste bis ans Tote Meer betrug nur einige achtzig Meter. Es blieben also noch über dreihundert Meter Fallhöhe. Bei einer Breite von zehn und einer Tiefe von drei Metern lieferte der Kanal etwa fünfzigtausend Pferdekräfte.

Kingscourt wollte sich um keinen Preis verblüffen lassen. Er sagte:

„Die Kraftstation der Niagarafalls Hydraulic Power Company erzeugte schon zu meiner Zeit vierzigtausend Pferdekräfte.“

David entgegnete:

„Mit dem Niagarafalle und den Millionen Pferdekräften, die er liefert, dürfen wir natürlich die Anlage des Toten-Meer-Kanals nicht vergleichen, obwohl der Niagarafall nur fünfzig Meter hoch ist. Dort gibt es eben ungeheure Wassermengen. Aber ich denke, es ist ganz hübsch, daß wir in den verschiedenen Kraftstationen im Jordangebiet und am Toten Meer insgesamt eine halbe Million Pferdekräfte erzeugen.“

„Sie haben eigentlich recht, hochgeschätzter Wasserkünstler“, gestand nun der Alte, „es ist wirklich ganz hübsch. Aber eins verstehe ich nicht. Jetzt strömt um so viel mehr Wasser in das tote Becken, das keinen Abfluß hat. Ist denn eine andere Verdunstung da als früher?“

„Die Frage ist nicht unintelligent“, bemerkte hierauf Steineck. „Sie müssen aber wissen, meine Herren, daß wir dem Toten Meer auch ebensoviel Wasser entziehen, wie wir ihm zuführen. Das Süßwasser nämlich entwenden wir ihm in entsprechendem Maße. Wir pumpen es in Reservoirs hinauf und benützen es dann zur Bewässerung des Bodens dort, wo es eben nötig, wie hier überflüssig ist. Sie verstehen?“

„Freilich versteh‘ ich“, schrie Kingscourt, und diesmal war sein Poltern nicht so ungerechtfertigt wie sonst, denn der Donner des Wassersturzes war schon in der Nähe. „Verdammt schlaue Jungens seid ihr, das muß euch der Neid lassen.“

Und da waren sie vor der Kraftstation angelangt. Sie hatten auf dem Fahrwege von Jericho her keinen vollen Ausblick auf das Becken des Toten Meeres gehabt. Jetzt lag es weit und blau vor ihnen, groß wie der Genfer See. An dem nördlichen Ufer, an dem sie standen, hatten sie zur Rechten ein schmal zulaufendes Stück Land vor sich. Dieses zog sich unter dem Felsen hin, von dem das Wasser des Kanals herunterdonnerte. Unten befanden sich die Turbinenhäuser und oben langgestreckte Fabrikgebäude. So weit der Blick um den See und seine Uferberge reichte, sah man großartige Fabrikanlagen. Die Kraftquelle hatte all die verschiedenartigen Industrien angezogen. Der Kanal hatte das Tote Meer zum Leben erweckt. Beim Anblick der eisernen Röhren, in denen das Kanalwasser auf die Turbinenräder niederschlug, erinnerte sich Kingscourt der Anlagen am Niagara. Hier am Toten Meere gab es etwa zwanzig solcher mächtigen Eisenröhren, die aus dem Felsen in gleichmäßigen Abständen hervorragten. Senkrecht standen die Röhren auf den Turbinenhäusern und sahen wie phantastische Rauchfänge aus. Aber der Donner aus ihnen und der weiße Gischt des Abflusses verkündeten, was da Gewaltiges vorging. Die Reisenden traten in eines der Turbinenhäuser ein. Friedrich war von dem Ungeheuerlichen dieser Kraftentwicklung betäubt, indessen Kingscourt sich im Lärm der Industrieschlacht ordentlich wohl zu fühlen schien. Er schrie aus Leibeskräften Bemerkungen, die allerdings im Gebrause niemand verstehen konnte. Dennoch ahnte man aus seinen Mienen, daß er endlich einmal vollkommen befriedigt war. Das war aber auch etwas prachtvoll Zyklopisches, wie das Wasser auf die riesigen Bronzeschaufeln der Turbinenräder herunterkrachte und sie zu rasenden Umdrehungen trieb. Und von da ging die wilde, die gebändigte Naturkraft in die Generatoren des elektrischen Stromes über, und sie lief in die Drähte und durcheilte das Land, das altneue Land, und machte es aufblühen, daß es ein Garten und eine Heimat wurde für Menschen, die ehemals arm, schwach, hoffnungslos, heimatlos gewesen…

Friedrich fand endlich Worte: „Ich fühle mich wie zermalmt von dieser Größe.“

„Uns“, entgegnete David ernst, „hat die große Kraft keineswegs zermalmt — sie hat uns erhoben.“

–> Fünftes Buch

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