Altneuland – Fünftes Buch

Jerusalem

 

Erstes Kapitel

Einst waren Friedrich und Kingscourt bei Nacht und vom Westen her nach Jerusalem gekommen, jetzt kamen sie bei Tage und vom Osten. Einst hatten sie eine schwermutsvolle Stadt des Verfalles auf diesen Hügeln liegen gesehen, jetzt sahen sie da eine Stadt verjüngter Regsamkeit und Pracht. Einst war Jerusalem tot, jetzt war es auferstanden.

Sie waren von Jericho hierhergefahren und standen auf dem Ölberg, auf dem alten wundervollen Berge, von wo der Blick so weit in die Runde hinausschwärmen kann. Noch war es die heilige Landschaft der Menschheit, noch ragten die Wahrzeichen, die der Glaube vieler Zeiten und vieler Völker aufgerichtet hatte, aber ein neues, mächtiges, freudiges war hinzugekommen: das Leben! Jerusalem war ein gewaltiger Körper geworden und atmete Leben. Die Altstadt zwischen den ehrwürdigen Mauern hatte sich, soviel man von diesem Aussichtspunkt bemerken konnte, am wenigsten verändert. Sie sahen die Grabeskirche, die Omarmoschee und die anderen Kuppeln und Dächer von einst. Nur war manches Herrliche dazu entstanden.

Jener neu schimmernde ausgedehnte Prachtbau zum Beispiel war der sogenannte Friedenspalast. Eine große Ruhe lag über der Altstadt.

Aber anders war das Bild außen ringsum. Da waren moderne Stadtteile entstanden, von elektrischen Bahnlinien durchzogen breite, baumbesetzte Straßen, ein Häuserdickicht, nur von grünen Anlagen unterbrochen, Boulevards und Parks, Lehrinstitute, Kaufhallen, Prunkgebäude und Belustigungsorte. David nannte die Bauten, die man hervorragen sah. Es war eine Weltstadt nach den Begriffen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Doch immer wieder kehrten die Blicke zur alten Stadt im Mittelpunkte des Bildes zurück. Vor ihnen, jenseits des Kidrontales, lag sie im Nachmittagssonnenglanze, und es war etwas Festliches in diesem Anblick. Kingscourt hatte schon alle möglichen Fragen gestellt und von David Auskunft erhalten. Jetzt erkundigte er sich nach einem gewaltigen und prunkvollen Bau, der weiß und goldig leuchtete, auf marmornen Säulen ruhte sein Dach, ja, es war ordentlich ein Wald von Säulen mit goldenen Knäufen, die man sah. Und Friedrich vernahm es mit einer eigentümlich tiefen Bewegung, als David sprach:

„Das ist der Tempel!“

Es war ein Freitagabend, an dem Friedrich Löwenberg zum ersten Male den Tempel von Jerusalem betrat. David hatte für die ganze Gesellschaft Wohnung in einem der elegantesten Gasthöfe vor dem Jaffatore genommen. Als es Abend wurde, rief David seinen Freund zum Tempelgange. Friedrich Löwenberg schritt mit Mirjam voraus, David und Sarah folgten. Sie gingen durch die prachtvollen Straßen der Neustadt, die mittags noch das rauschendste Leben gezeigt hatten. Jetzt, plötzlich, sonderbar, begann dieser große Verkehr zu erlahmen, zu stocken. Die Zahl der fahrenden Wagen verminderte sich auffallend, und überall wurden die Läden geschlossen. Der Sabbath senkte sich langsam und feierlich auf die vorhin laute Stadt. Und in Scharen strömten die Andächtigen den Synagogen zu. Denn außer dem großen Tempel gab es in der alten wie in der neuen Stadt noch viele Häuser des unsichtbaren Gottes, dessen Geist von Israel Jahrtausende lang durch die Welt war getragen worden.

Schon ergriff ein Vorgefühl hoher Stimmung die Wallenden, als sie in den Frieden der heiligen Stadt eintraten. Denn was jetzt innerhalb der uralten Mauern von Jerusalem lag, das war nicht mehr die Unreinlichkeit, der Lärm, der üble Geruch wie vor zwanzig Jahren. Damals mußten sich die Pilger aller Konfessionen innerlich verletzt fühlen, wenn sie oft nach langer Fahrt an dieses Ziel ihrer Sehnsucht kamen, so widerwärtig war mancher Anblick, der sich in verwahrlosten Straßen bot. Und bevor ein frommer Wanderer zum Heiligsten seines Glaubens gelangte, mußte er durch Unerfreuliches, Weiheloses hindurch. Anders war es jetzt. Die Gassen und Gäßchen waren mit neuen Steinen gepflastert, wohlgepflegt, glatt und sauber wie der Estrich einer guten Stube. Privathäuser gab es in der Altstadt nicht mehr. Alle Gebäude dienten Zwecken der Wohltätigkeit oder Andacht. Es gab da Pilgerhäuser für die Gläubigen aller Bekenntnisse. Christen, Mohammedaner und Juden hatten ihre gemeinnützigen Anstalten, ihre Spittel und Siechenhäuser, die in bunter Reihe nebeneinander standen. Ein gewaltiges Viereck aber nahm der ernste und großartige Friedenspalast ein, in welchem die internationalen Kongresse von Friedensfreunden und von Gelehrten aller Wissenszweige abgehalten wurden. Die Altstadt war überhaupt ein internationaler Ort, welcher allen Völkern als eine Heimat erscheinen mußte. Denn hier war das Menschlichste zu Hause: das Leiden.

Und ebenda waren auch alle Formen der Hilfe versammelt, welche das menschliche Geschlecht im Laufe seiner Geschichte wider das Leiden gesucht hat: Glaube, Liebe, Wissenschaft.

Man mußte in eine andächtige Stimmung geraten, wenn man durch diese Gassen wandelte, wie immer man sich auch zu den Religionen stellen mochte. Die Leute, die einander begegneten oder überholten, grüßten stumm und freundlich. Es war ein Sabbath in den Herzen.

Mirjam und Friedrich kamen an einem alten Herrn vorbei, der ziemlich schwer an seinem Stocke daherging. Mirjam nickte ihm zu, und er schloß sich dann dem rückwärtigen Paare David und Sarah an, das ihm zuliebe den Schritt verlangsamte.

„Dieser Alte“, sagte Mirjam leise zu ihrem Begleiter, „hat auch seinen Frieden hier gefunden. Sie müssen sich einmal von meinem Bruder die Geschichte erzählen lassen, wie er den Mann fand und bekehrte. Es war in Paris, wo David geschäftlich zu tun hatte. Er lernte Monsieur Armand Ephraim durch Zufall kennen. Sie wissen ja schon, wie unser David ist. Seine Liebenswürdigkeit gewinnt ihm alle Herzen. So fühlte sich auch der steinreiche Monsieur Ephraim zu David hingezogen, mehr als zu seinen eigenen Verwandten, die nur auf seinen Tod warteten, um als Erben zu lachen. Monsieur Ephraim hatte immer nur Geld verdient und Geld für sein Vergnügen ausgegeben. Nun war er zu alt, um sich zu unterhalten, und er fand in seinem ermüdeten Gehirn keinen Gedanken, was er mit dem vielen Gelde anfangen sollte. Nur eins wußte er: den lustigen Erben wollte er es nicht lassen. Da bewog ihn David, nach Jerusalem zu kommen. Hier könne er sich noch einmal für sein Geld unterhalten. Der Alte kam, und David führte ihn in den Friedenspalast. Dieser Prachtbau ist mit der Zeit ein merkwürdiger Mittelpunkt milder Bestrebungen geworden. Hier wirkt man keineswegs für das jüdische Land und seine Bewohner, sondern für andere Länder und Völker. Wir sind ja in unserer neuen Gesellschaft mit einigen Problemen fertig geworden, welche der früheren Zeit Sorge machten. Aber es gibt leider noch genug Jammer auf der Erde, und nur die gemeinschaftliche Anstrengung aller kann erleichternd wirken. Im Friedenspalaste finden sich solche universelle Bestrebungen zusammen. Wenn zum Beispiel irgendwo in der Welt eine Katastrophe hereinbricht — Brände, Überschwemmungen, Hungersnot, Epidemien —, so wird es hierher telegraphiert. Hier ist immer ein Hilfsreservoir in großen Barmitteln vorhanden, weil ebenso wie die Bittgesuche auch die Spenden sich hier zentralisieren. Ein ständiger großer Rat, dessen Mitglieder von den verschiedenen Nationen gewählt werden, wacht über die gerechte Verteilung und Ausgleichung der Gaben. Hierher wenden sich aber auch Erfinder, Künstler, Gelehrte um Unterstützung ihrer Arbeiten. Es lockt sie der Spruch, der über dem Tore des Friedenspalastes leuchtet: „Nil humani a me alienum puto“. Und es wird ihnen, wenn sie würdig sind, nach Möglichkeit geholfen … Hier hat nun Monsieur Ephraim die Unterhaltung gefunden, die ihm unser David versprach. Monsieur Ephraim besucht mit Vergnügen die Sitzungen der Kommissionen, in denen über die Hilfsgesuche berichtet wird, und er verläßt sie immer erleichtert. Er schenkt nämlich nach und nach sein ganzes Vermögen weg. Er behält sich nur den Nutzgenuß vor, den er bis zu seinem Tode braucht. Dann soll alles guten Zwecken zufallen.“

Friedrich sagte lächelnd: „Wenn er das durchführt, wird er es erreichen, daß seine Verwandten wirklich um ihn trauern.“

Sie blieben jetzt stehen, um auf die Nachkommenden zu warten. Sie hörten, wie Mr. Ephraim hüstelnd eine früher begonnene Erzählung schloß: „Und fünfhundert Pfund Sterling habe ich einem Seehospiz für verwahrloste Londoner Kinder gegeben. Im ganzen heute hunderttausend Francs. Kein schlechter Tag — höhö — kein schlechter Tag! Wenn ich nicht mehr da wäre, hätte vielleicht heute einer meiner Neffen beim Wettrennen ebensoviel verspielt … So habe wenigstens ich meine Freude gehabt — und sie werden nicht lachen, meine Erben, hehehe … Sondern ich lache — hehehe! Und die kleinen Kinder von London werden auch lachen, wenn sie in die gute Luft kommen … Die armen Kindlein.“

Und jetzt waren sie vor dem Tempel von Jerusalem angelangt.

Er war wieder aufgerichtet worden, weil die Zeiten sich erfüllten. Er war wie einst aus Kalkquadern aufgebaut, die aus den nahen Steinbrüchen kamen und an der Luft zu härtestem Gestein sich festigten. Wieder standen die Säulen, aus Erz gegossen, vor dem Heiligtum Israels. Es hieß die linke Säule Boaz, die rechte aber hieß Jachin. Im Vorhofe stand ein gewaltiger erzener Altar, und auch der weite Wasserbehälter war da, den man das eherne Meer nannte, wie in den alten Zeiten, da Salomo, der König, regierte.

Sarah und Mirjam waren nach der Frauenabteilung gegangen. Friedrich stand im Tempel neben David in der hintersten Reihe.

„Ich habe mir“, sagte David, „als die Tempelplätze vergeben wurden, den allerletzten ausgesucht, und ich möchte keinen anderen haben.“

Durch den herrlichen Raum begannen Gesänge und Lautenspiel zu rauschen. Wundersam ergriffen diese Klänge das Gemüt Friedrichs. Sie trugen ihn zurück in Fernen seines eigenen Lebens und in andere Zeiten Israels. Die Beter um ihn herum singsalierten und murmelten die vorgeschriebenen Worte. Ihm aber kamen schöne deutsche Verse in den Sinn: die „Hebräischen Melodien“ von Heinrich Heine. Da war Prinzessin Sabbath wieder, „die man nennt die stille Fürstin“. Der Tempelsänger hob das alte Lied zu singen an, das in vielen hundert Jahren dem zerstreuten Volke heimwehweckend erklungen war, in unzähligen Synagogen auf dem Erdenrunde, das Lied des edlen Dichters Salomon ben Halevy:

„Lecho Daudi Likras Kallo …“
Und wie es Heine deutsch gemacht:
„Komm, Geliebter, deiner harret
Schon die Braut, die dir entschleiert
Ihr verschämtes Angesicht!“

Ja, Heine fühlte als ein wahrer Poet die Romantik, welche im Schicksale seines Stammes enthalten war. Und daß er die innigsten deutschen Lieder sang, hinderte ihn nicht, auch die Schönheit der hebräischen Melodien zu finden. Friedrich aber besann sich jetzt einer schmählichen Zeit, in der die Juden sich alles Jüdischen schämten. Sie glaubten vornehmer auszusehen, wenn sie sich nicht als Juden zu erkennen gaben. Aber gerade dadurch zeigten sie die Gesinnung von Bedienten oder Freigelassenen. Und sie konnten sich noch über die Geringschätzung wundern, die ihnen zuteil wurde, da sie doch wahrlich keine Selbstachtung an den Tag gelegt hatten. Nachgekrochen waren sie den anderen, und es ereilte sie dafür die gerechte Strafe: sie wurden abgelehnt. Aber in seltsamer Verblendung zogen sie daraus nicht die richtige Lehre, sondern eine ganz verkehrte. Diejenigen, die gute Geschäfte gemacht oder sich sonst irgendwie hervorgetan hatten, fielen öffentlich vom Glauben ihrer Väter ab. Sie bemühten sich, ihre Herkunft und Stammeszugehörigkeit wie einen Makel zu verbergen. Und wenn diejenigen, die vom Judentume herkamen, die also genau wissen mußten, was es war, sogar ihre eigenen Väter und Mütter verleugneten, nur um damit nichts zu schaffen zu haben — so mußte es wohl etwas recht Gemeines, Verwerfliches und Böses sein. Freilich entkamen die Abtrünnigen dennoch nicht, und es erging ihnen wie den Flüchtlingen aus einer verseuchten Gegend. Sie waren verdächtig und blieben gleichsam in der Quarantaine liegen. Marranen hießen im Mittelalter die getauften Israeliten in Spanien. Das Marranentum war die Quarantaine der entflohenen Juden.

Und das Judentum kam bei alledem immer tiefer herab. Es wurde das „Elend“, ganz im Sinne des alten deutschen Wortes: nämlich das Ausland, das fremde Land, der Aufenthaltsort von Verbannten. Wer im „Elend“ war, der war ein Unglücklicher, und wer unglücklich war, es zu nichts bringen konnte, der suchte seinen Schlupfwinkel im Elend. So kamen die Juden aus eigener Schuld immer tiefer hinein. Elend, Golus, Ghetto! Worte in allen Sprachen für dasselbe Ding. Verachtet werden, und sich schließlich selbst verachten!…

Und aus diesem tiefsten Zustande hatten sie sich nun herausgehoben! Alles, was Friedrich umgab, zeigte ihm, wie es gekommen war. Das Judentum sah jetzt einfach darum anders aus, weil die Juden sich seiner nicht mehr schämten. Nicht nur die Bettler, Hilfesucher und Verstauchten bekannten sich in einem verdächtig einseitigen Solidaritätsgefühle dazu. Nein, auch die Starken, Freien, Erfolgreichen waren heimgekehrt, und sie empfingen wahrlich mehr als sie gaben. Denn immer noch waren ihnen die Menschen anderer Völker dankbar, wenn sie etwas Großes leisteten. Das Judenvolk aber verlangte von ihnen nichts anderes, als daß sie nicht den vergeblichen Versuch machen sollten, sich von ihm loszusagen. Jedem Großen ist die Welt dankbar, wenn er ihr etwas bringt; er muß ihr etwas bringen. Nur das väterliche Haus ist seinem Sohne dankbar, auch wenn er nichts bringt, als sich selbst…

Plötzlich, in diesen Betrachtungen, die von den hebräischen Melodien durchrauscht waren, ersah und verstand Friedrich die Bedeutung des Tempels. Einst, in der Zeit, da Salomo, der König, regierte, war der Tempel ein mit Gold und Edelgestein geschmücktes Wahrzeichen für den Stolz und die Macht Israels. Mit kostbaren Erzen, mit Oliven-, Zedern- und Zypressenholz war der Tempel im Geschmack der Zeit geziert, daß er eine Lust der Augen sei. Aber wie herrlich für die Begriffe jener Tage dies alles auch gewesen, um den sichtbaren und greifbaren Bau konnten die Juden doch nicht achtzehn Jahrhunderte hindurch gejammert haben. An den Trümmern konnten sie nicht um das zerstörte Mauerwerk geklagt haben — für eine Dauer von achtzehn Jahrhunderten wäre ein solcher Jammer zu läppisch gewesen. Nein, sie ächzten um etwas Unsichtbares, für das der Tempel nur ein steinerner Ausdruck gewesen. Und dieses Unsichtbare fühlte Friedrich im neuerstandenen Tempel zu Jerusalem. Es wurde ihm weit und frei zumute. Da standen die heimgekehrten Söhne von Gottes altem Volk und erhoben ihre Seelen zum Unsichtbaren. Sie standen wie einst ihre Väter auf dem Berge Moria.

Salomos Worte waren wieder lebendig: „Gott hat verheißen, in einer Wolke zu weilen, gebaut hab‘ ich einen festen Wohnsitz Dir, o Gott! Eine Stätte für dein Bleiben für immer.“

Gebetet hatten sie mit mehr oder weniger Andacht in vielen Tempeln auf dem Erdenrunde, in prächtigen und armen, in allen Sprachen der Zerstreuung. Ihr unsichtbarer Gott, der Allgegenwärtige, mußte ihnen doch überall gleich nah oder fern sein. Dennoch war nur hier allein der Tempel. Warum?

Weil sie erst hier zu der freien Gemeinschaft gediehen waren, in der sie für die höchsten Zwecke der Menschheit wirken konnten. Sie hatten in früheren Zeiten die Gemeinsamkeit gekannt, in der Verfolgung, im Druck, im Ghetto. Sie hatten später die Freiheit gekannt, als ihnen die Kulturvölker die Gleichberechtigung schenkten. Aber in der Judengasse waren sie ehrlos, wehrlos, rechtlos, und als sie die Gasse verließen, hörten sie auf Juden zu sein. Beides mußte da sein: Freiheit und Gemeingefühl. Da erst durften sie das Haus des Unsichtbaren und Allmächtigen errichten, welchen die Kinder sich anders vorstellen als die Weisen, der aber als der Wille zum Guten im All gegenwärtig ist.

Und als sie nach beendetem Gottesdienste hinaustraten, als die vielen stattlichen, ernst und frei blickenden Menschen einander mit Freundlichkeit zunickten und „Guten Sabbath!“ wünschten, da sagte Friedrich zu seinem Freunde David:

„Jawohl, Sie hatten auf dem Ölberg Recht, als Sie mir dieses Haus zeigten. Das ist der Tempel!“

 

Zweites Kapitel

Am folgenden Sonntag fanden im ganzen Lande die Delegiertenwahlen statt.

David war in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag nach Haifa gefahren, um den Wahltag vom Mittelpunkte der Bewegung aus zu leiten. Die Partei Geyer machte überall die größten Anstrengungen. Geyers Zeitungen brachten den Tag über in rasch aufeinander folgenden Extraausgaben zuversichtliche Stimmungsberichte. Damit waren unbestimmte Verdächtigungen vermischt. Eines dieser unsauberen Blätter nahm den Generaldirektor der neuen Gesellschaft, Joseph Levy, besonders aufs Korn. Es wurde von der allzu unbeschränkten Gewalt dieses Mannes über die Millionen der neuen Gesellschaft gesprochen. Der Schreiber des Artikels beteuerte zwischendurch immer wieder, daß er Herrn Joseph Levy nicht anklagen wolle; es handle sich lediglich um das allgemeine Wohl, um die sauer erworbenen Groschen der Armen, um die Existenz der uns allen so teuren Gemeinschaft. Geschrieben war das Ganze in einem süßlichen Tone und mit Bibelworten fromm unterspickt.

Professor Steineck, der dieses Blatt im Beisein Kingscourts erhielt, wurde beim Lesen hochrot im Gesicht und stieß fort und fort dumpfe Wutrufe aus:

„Oh du Rabenvieh! … Oh du Schweinehund! … Oh du — du — du Geyer! … Der Schuft weiß ganz gut, daß unser Joe die Ehrlichkeit selbst ist. Er weiß, daß Joe sich geschunden und gerackert hat, um die neue Gesellschaft in die Höhe zu bringen. Denn das weiß jedes Kind, das weiß die ganze Welt. Und dieser Lumpenkerl wagt es, Joe’s Namen in seinen verruchten Lügenmund zu nehmen. Alles nur wegen der Wahlen — Sie verstehen? Das soll die Leute bei der Abstimmung beeinflussen, daß sie Delegierte der Opposition wählen. Sie verstehen?“

Grimmig zerriß er das Blatt, ballte die Fetzen zu einem Knäuel und schleuderte diesen mit einem Ausruf des Ekels zum Fenster heraus.

Kingscourt lachte: „Ob ich das verstehe! Geliebter Mikrobenvater, ich habe doch auch in der Welt jelebt. Ich werde doch wissen, was die Menschen für jemeine Bestien sind. Wissen Sie, offen jestanden hab‘ ich an manches in eurer neuen Jesellschaft trotz Oojenschein nich jeglaubt. Die ganze Jeschichte war mir ’n bißchen zu rosenrot und potemkinisch. Seh‘ ich aber, daß ihr auch Halunken von allen Sorten auf Lager habt, dann fängt es an, mir einzuleuchten. Dann muß auch ich oller Wüstenpilger zujeben, daß die Jeschichte wahr ist.“

Im übrigen war aber in diesem Kreise von den Wahlen nicht mehr viel die Rede, so schwer es auch schien, dem Tagesereignis auszuweichen, das durch alle Ritzen hereindrang. Man bedauerte David Littwak, weil er sich so tief in den Streit eingelassen habe; doch nun kam er ja bald zur Ruhe. Er hatte oft erklärt, daß er gleich nach den Wahlen zu seinen gewohnten Arbeiten zurückkehren werde. Das Mandat eines Delegierten strebte er zwar an und wollte es ausüben, aber der Kongreß tagte nur wenige Wochen im Jahre.

Auf Mirjams Anregung benutzten Friedrich und die Freunde gerade diesen Wahltag, um einen von der Politik weit abgelegenen Ort aufzusuchen, nämlich eine Künstlerwerkstatt. Mirjam und Friedrich fuhren mit dem Professor hinaus nach dem Atelier des Malers Isaaks. Das Haus des Meisters lag in einer stillen Gegend im Osten der Neustadt. Es enthielt Kunstschätze erlesener Art. Isaaks liebte die edle Geselligkeit, und die Feste, die er öfters in seinem Palästchen veranstaltete, waren durch ihre Pracht und Feinheit berühmt.

Die Mauer des Künstlerhauses, die der Straße zugekehrt war, ließ noch nichts von der heiteren Eleganz des Inneren ahnen. Um so freudiger war man überrascht, wenn man den Vorhof betrat. Isaaks hatte sich ein reizendes Heim geschaffen. Die Vorhalle, deren Glasdach auf den vergoldeten Knäufen schlanker Marmorsäulen ruhte, war mit alten Gobelins verkleidet. Hier standen einige meisterhafte Nachbildungen antiker Skulpturen. Die Gäste wurden von einem Diener weitergeführt und kamen in einen Hof, der die Mitte des Hauses einnahm. Es war dies eigentlich ein Salon ohne Zimmerdecke. Der blaue Himmel war sein Plafond. Auf drei Seiten war der mit großen Steinplatten belegte Hof von Säulengängen umgeben, auf der vierten Seite grenzte ihn gegen den Garten ein auf Rädchen verschiebbares, vergoldetes Gitter ab, das jetzt weit geöffnet stand. Man blickte in den Garten hinaus, der um mehrere Stufen tiefer lag und nicht sehr groß war, jedoch durch eine kunstvolle Stellung der Gebüsche den Eindruck bedeutender Tiefe machte. Aus dem Palmengrün leuchtete da und dort der Marmor edler Bildsäulen. Im Hofe selbst befand sich in der Mitte ein Springbrunnen mit weitem Becken, dessen Wasser leise rauschten. Gute Lehnstühle von reicher Verschiedenheit der Formen waren in Plauderwinkeln gruppiert. Der breite, um einige Stufen erhöhte Säulengang, der von drei Seiten den Hof umgab, konnte in einen geschlossenen Raum verwandelt werden, indem man aus der Tiefe Glaswände aufsteigen ließ. Aber in der milden Jahreszeit war alles offen. Dieser Hof mit seinen Kolonnaden bildete einen einzigen herrlichen Saal. Es führten aus dem Säulengange hohe, geschnitzte Türen nach den anderen Räumen des Hauses. Einzelne waren geöffnet, man erblickte den Prunk ihrer Ausstattung. Es war der Palast eines Fürsten der Kunst.

Und dort die Tür, die jetzt aufging, war die seines Ateliers. Isaaks, dem die Gäste gemeldet worden, kam in Begleitung eines vornehm aussehenden Paares. Professor Steineck stellte Friedrich vor, und Isaaks nannte die Dame und den Herrn, die bei ihm waren: Lord Sudbury und Lady Lillian, dessen Gemahlin. Sie hielten sich in Jerusalem auf, weil Isaaks das Porträt der schönen Lady Lillian malte. Meister Isaaks war ein stattlicher Mann von etwa vierzig Jahren. Er bewegte sich und sprach mit einer heiteren Würde; man sah ihm die Gewohnheit an, mit eleganten Leuten als Gleichgestellter zu verkehren. Und doch war auch er ein armer Judenjunge gewesen, der es nur von Talentes Gnaden zu seinem jetzigen Range in der Welt gebracht hatte.

Isaaks weckte durch seine liebenswürdige Art sehr bald ein Gefühl des Behagens bei seinen Gästen. Diener trugen Erfrischungen herbei. Dann brannten die Herren Zigarren an — duftende Kräuter, die, wie der Hausherr lächelnd bemerkte, in Palästina gewachsen waren. Es war das einzige, worauf er mit sichtlichem Stolze hinwies. „Blume des Jordans“ nenne man die Sorte. Die Tabakpflanzungen lagen nämlich im Jordantal.

Während die Herren schmauchten und plauderten, hatte sich die schöne Lady Lillian der ihr schon von früheren Besuchen her bekannten Mirjam genähert und flüsterte ihr bittend etwas zu. Mirjam schien abzulehnen und milderte ihre Weigerung durch ein Lächeln. Es kam Friedrich vor, als hätte Mirjam beim verneinenden Kopfschütteln nach ihm hingeblickt. Auch Lady Lillian sah ihn daraufhin flüchtig an. Die Damen standen jetzt am goldenen Gitter, zwei schlanke Gestalten, die den Blick erfreuten. Mirjam, dunkelhaarig und von etwas kleinerem Wuchs, machte in ihrer sehr einfachen Kleidung doch keine schlechte Figur neben der hochragenden, blonden Engländerin, deren Toilette auf die Kunst eines Pariser Schneiders hinwies. Friedrich hatte ein unbestimmtes Gefühl von Stolz, als er das Judenmädchen, die Tochter des Hausierers, in so bescheidener und doch nicht unsicherer Haltung neben der englischen großen Dame sah. Und im Tone seines abwesenden Freundes Kingscourt dachte er sich:

„Alle Deibel — nu bringen wir es sogar zu einem bescheidenen Auftreten in der Gesellschaft.“

Aber die Lady und Mirjam schritten jetzt langsam in den Garten hinaus, und Friedrich, so gern er ihnen auch gefolgt wäre, mußte dableiben, denn das Gespräch wandte sich hauptsächlich an ihn. Ihm erklärte man Dinge, die er noch nicht wußte: die Rolle der Kunst und Philosophie in der neuen Gesellschaft. Jetzt erst, als Meister Isaaks mit seiner wohlklingenden Stimme davon sprach, fiel es Friedrich ein, daß ihm ein Aufschluß über die Fragen bisher gefehlt hatte. Er hatte den Tempel und die elektrischen Maschinen, das alte Volk und die neuen Formen seiner Vergesellschaftung in Altneuland gesehen. Aber wie stand es mit den Bedürfnissen feiner Geister in Kunst und Wissenschaft? Dies war ja vorzeiten ein gewichtiger Einwand der sogenannten modernen Menschen gegen die zionistische Bewegung gewesen. Man hatte die Idee von der Wiedergeburt des jüdischen Volkes als eine blödsinnige Reaktion, als eine Art chiliastischen Schreckens hingestellt. Und nun hörte Friedrich von Maler Isaaks, daß es mitnichten so war. In der neuen Gesellschaft herrschte alles eher als Volksverdummung, wenn man auch einen jeden nach seiner Fasson selig werden ließ. Glaubenssachen waren ein für allemal von der öffentlichen Beeinflussung ausgeschaltet. Ob einer im Tempel, in der Kirche, in der Moschee, im Kunstmuseum oder im philharmonischen Konzerte die Andacht suchte, die ihn mit dem Ewigen verbinden sollte, darum hatte sich die Gesellschaft nicht zu kümmern. Das machte jeder füglich mit sich selbst aus.

Kunst und Philosophie hatten ihre unabhängige Pflegestätte in der jüdischen Akademie, die ja auch keine funkelnagelneue Erfindung war, sondern in der französischen Akademie ein jahrhundertealtes Vorbild besaß. Die Mittel zur Errichtung dieser Akademie waren von einem reichen Amerikaner gestiftet worden, der als Gast die Reise des Dampfers Futuro mitgemacht hatte. Der Geist vom Futuro sollte auch immer die jüdische Akademie erfüllen, dafür war in den Satzungen nach Möglichkeit vorgesorgt. Vierzig war die Zahl der Mitglieder, gleichwie im Palais Mazarin, und wenn ein Fauteuil durch Todesfall frei wurde, so wählten die übrigen Mitglieder den würdigsten Nachfolger. Die Mitglieder bezogen ein Gehalt, welches sie jeder Sorge um den Lebensunterhalt enthob, so daß ihre Kunst, Philosophie und Gelehrsamkeit nach keiner Gunst auszuschielen brauchte. Es ergab sich auch von selbst, daß die vierzig Juden der Akademie von nationalem Chauvinismus frei waren. Als dieses Institut errichtet wurde, kamen seine ersten Mitglieder aus verschiedensprachigen Kulturen zusammen und einigten sich auf dem Boden der Menschlichkeit. So schuf ihr Beisammensein einen Geist, welcher nicht entthront werden konnte, weil sie selbst sich die folgenden Genossen wählten. Die erste Satzung des Stifters aber lautete:

„Die jüdische Akademie hat die Aufgabe, das Verdienst einzelner um die Menschheit aufzusuchen.“

Diese Aufgabe war selbstverständlich nicht an die Grenzen des Landes gebunden.

Die Vierzig der jüdischen Akademie bildeten auch das Ordenskapitel der Judenehre, die ebenfalls nach einem französischen Muster geschaffen war: nach der Ehrenlegion. Das Abzeichen war ein gelbes Band im Knopfloch. Friedrich hatte dieses Bändchen schon bei mehreren gesehen, aber es nicht sonderlich beachtet. Es war offenbar die wohlbekannte Ordensnarrheit der früheren Zeit. Dennoch machte es auf ihn einen gewissen Eindruck, als Meister Isaaks, der gleich dem Professor Steineck das gelbe Bändchen besaß, in dieser Weise davon sprach:

„Sie dürfen nicht glauben, lieber Doktor Löwenberg, daß wir das aus lauter Dummheit und Eitelkeit eingerichtet haben. Die Ehre verlangt auch nach einer Umlaufsmünze, das haben die Staatskünstler der alten Gesellschaft wohl erkannt. Warum hätten wir dieses Mittel verschmähen sollen, womit man für die Gemeinschaft so viel erzielen kann? Nur haben wir seinen Wert von vornherein hochzuhalten uns bemüht, indem wir es schwer erreichbar machten. Die höheren Grade sind sehr selten. Großmeister ist der Präsident unserer Akademie, und diese, das Ordenskapitel der Judenehre, besteht aus Leuten, die keinerlei Privatinteressen haben und von allem politischen Treiben entfernt sind. Daraus ergibt sich, daß diese Auszeichnung für Geld oder Parteidienste nicht zu haben ist. Wenn einer gute Geschäfte gemacht hat, so zeichnen wir ihn dafür nicht aus. Darum waren ja die Orden in der alten Gesellschaft lächerlich. Bei uns bedeutet dieses sonst so komische Bändchen ernste Leistungen, die dazu dienten, das allgemeine Niveau zu heben. Die Farbe aber soll uns an die schwersten Zeiten unserer Volksgeschichte erinnern und uns noch im Erfolge zur Demut mahnen. Aus dem gelben Fleck, den unsere unglücklichen, standhaften Väter tragen mußten, aus dem Zeichen der Schande haben wir das Zeichen der Ehre gemacht.“

„Sie verstehen?“ rief Steineck.

Friedrich nickte nachdenklich.

In diesem Augenblicke meldete ein Diener den Doktor Marcus. Meister Isaaks erhob sich rasch und eilte dem weißbärtigen alten Herrn entgegen:

„Sie kommen wie der Wolf in der Fabel, Herr Doktor!“ sagte Isaaks und stellte den Lord und Friedrich vor. „Herr Doktor Marcus ist der Präsident der jüdischen Akademie … Ich habe meinen lieben Gästen soeben einiges von der Akademie erzählt. Lord Sudbury wußte ja das meiste schon, aber diesem Herrn, obwohl er ein Jude ist, war alles neu.“

„Wie ist es möglich?“ fragte Doktor Marcus.

Friedrich berichtete mit wenigen Worten seine Schicksale. Der Präsident der Akademie hörte mit leisem Kopfschütteln zu. Dann sagte er:

„Vor zwanzig Jahren! Ja, ja, ich begreife Ihre Verwunderung. Und doch war schon alles vorhanden. Erinnern Sie sich der Worte des Koheleth: Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne…“

„Erlauben Sie, mein lieber Präsident!“ schrie Steineck auf. „Das ist denn doch wohl nur cum grano salis zu verstehen. Alles, was ist, war noch nicht da, und alles, was kommen wird, liegt noch nicht hinter uns. Ich erinnere Sie nicht an Koheleth, aber, an Stockton-Darlington. Sie verstehen?“

„Was ist das mit Stockton-Darlington?“ erkundigte sich Lord Sudbury. „Meinen Sie die erste Eisenbahnlinie der Welt, die George Stephenson vor hundert Jahren baute?“

„Ganz recht, Mylord!“ rief der Professor. „Wir haben in unserer Akademie vor einigen Tagen den Beschluß gefaßt, der gesamten zivilisierten Welt einen Vorschlag zu machen. Es soll im Jahre 1925 die Feier von Stephensons Tat begangen werden, und zwar in würdiger Weise. Es sollen nämlich in der Minute, wenn die hundert Jahre voll sind, alle eben fahrenden Lokomotiven auf allen Linien der Erde drei lange Signalpfiffe ertönen lassen. Das ist die Stockton-Darlington-Feier, die wir proponieren. In der ganzen Welt werden die Menschen, die in dieser Minute im Kupee sitzen, an Stephenson denken müssen, an den Bringer der neuen Zeit … Sie werden mir zugeben, mein guter Präsident, daß die Weisheit des Koheleth zwischen Stockton und Darlington entgleist.“

Doktor Marcus entgegnete freundlich:

„Das gebe ich gern zu, um so lieber, als ich es gar nicht bestritten habe. Ich dachte nur an die Koexistenz der Dinge, die mich oft beschäftigt. Es ist der Gedanke meiner Ruhe, meiner Beruhigung. Die Jahre oder Monate oder Tage, die ich noch im Lichte zu verbringen habe, sind mir darum angenehm. Ich sage keineswegs: sie gefallen mir nicht. Es ist mein Trost, daß alle Dinge, die waren, da sind. Auch das Künftige ist schon vorhanden, und ich kenne es: es ist das Gute. So komme ich aus denselben Voraussetzungen zu einem anderen Schlusse als der Prediger, der Sohn Davids, der über Israel König war zu Jerusalem. Aber vielleicht hat auch der Prediger Salomo dasselbe gemeint, obwohl er sagte, daß alles ganz eitel sei, und obwohl er fragte, was der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe unter der Sonne habe. Alles ist eitel, jawohl, wenn wir es aus dem vergänglichen Gesichtspunkte unserer Person ansehen. Aber es ist nicht eitel, wenn wir imstande sind, unsere eigene Person davon hinwegzudenken. Dann sind sogar meine Träume ewig, denn andere werden sie träumen, wenn ich nicht mehr da bin. Schönheit und Weisheit gehen nicht verloren, auch wenn ihre Hervorbringer sterben. Gleichwie es keinen Gebildeten gibt, dem die Erhaltung der Energie unbekannt ist, so müssen wir uns auch von dem Lehrsatze durchdringen lassen, daß es eine Erhaltung der Schönheit und Weisheit gibt. Ist etwa die Kunst der heiteren Griechen vergangen? Nein, sie wird in anderen Zeitaltern immer wieder neu geboren. Sind die Sprüche unserer Weisen etwa erloschen? Nein, sie leuchten fort, wenn sie auch am Tage des Glückes weniger sichtbar sind als in der Nacht des Unglücks. Darin gleichen sie allen Flammen … Und was folgt daraus? Daß wir es uns sollen angelegen sein lassen, die Schönheit und Weisheit auf dieser Erde zu vermehren, bis zu unserem letzten Augenblick. Denn die Erde sind wir selbst. Wir sind von ihr und kehren wieder zu ihr hin. Sagt es doch schon Koheleth, und dem haben wir auch heute nichts hinzuzufügen: Die Erde bleibet aber ewiglich!…“

Nach den Worten des Doktor Marcus‘ schwieg man ein Weilchen. Jeder gab sich seinen Gedanken hin. Und in dieser Stille hörte man auf einmal den Gesang einer Frauenstimme, die durch Mauern und Türen gedämpft herausklang. Nun wollte erst recht keiner mit lauter Rede stören.

„Wer ist die Sängerin?“ sagte Friedrich flüsternd.

„Wie, Sie wissen es nicht?“ entgegnete Isaaks. „Fräulein Mirjam!“ Der Meister erhob sich und schritt in den Säulengang. Er öffnete geräuschlos die Tür des Musikzimmers, in das die beiden Damen sich vorhin zurückgezogen hatten. Jetzt kam der herrliche Gesang voll heraus. Mirjam, die sich nicht belauscht wußte, sang der Lady Lillian Schumann und Rubinstein und Wagner, Verdi, Gounod — die Musik aller Völker vor. Unerschöpflich flossen die Melodien, und eine Seligkeit überkam den zuhörenden Friedrich im Kreise dieser erlesenen Geister, die still und hoch das Leben in den edelsten Formen verwirklichten: in Schönheit und Weisheit. Als aber die Sängerin Mirjam das Lied anhub, das er immer sehr geliebt hatte, das sehnsuchtsvolle Lied aus Mignon:

„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn…“ da sagte Friedrich halblaut vor sich hin:

„Dies ist das Land!“

 

Drittes Kapitel

Die Stunden im Hause des Malers vergingen wie ein Traum. Gegen Abend wurde Professor Steineck ans Telephon gerufen. Kingscourt war es, der ihn rief: er möge sofort heimkehren. Im Wagen, in dem sie mit Professor Steineck fuhren, sagte Friedrich:

„Fräulein Mirjam, ich danke Ihnen dafür, daß ich Sie durch Ihren Gesang kennen lernen durfte. Erst jetzt weiß ich, wer Sie sind.“

Sie errötete und schwieg.

Aber im Gasthofe, in dem die ganze Gesellschaft Littwaks wohnte, erwartete sie eine böse Überraschung.

Vor dem Tore stand Kingscourt unbedeckten Hauptes und schrie dem Professor entgegen:

„Zum Wetter, Sie hätten sich auch mehr beeilen können!“

„Ja, was gibt es denn?“ fragte der Professor ruhig.

„Was es gibt?“ Das Bübchen, Fritzchen — krank ist es! Nu fackeln Sie aber jefälligst nicht lange rum und kommen Sie zu Fritzchen.“

Sie eilten in das Zimmer des Kindes. Fritzchen lag mit heißen Wangen und fieberisch glänzenden Augen im Bett.

„Otto!“ schrie es dem alten Kingscourt entgegen. Und „Otto“ gehorchte schleunigst seinem kleinen Tyrannen. Er setzte sich auf einen Stuhl am Kopfende nieder, und diesen sollte er in den folgenden Tagen nicht oft verlassen. Denn war die Gewalt des gesunden Fritzchens über Mr. Kingscourt recht groß gewesen, das kranke Fritzchen gar konnte mit ihm machen, was es wollte.

Professor Steineck hatte nach der Untersuchung den Kopf bedenklich geschüttelt. Zwar beruhigte er Frau Sarah, die ganz verzweifelt war; aber dem alten Kingscourt verbarg er seine Besorgnisse nicht. Das Kind war ernstlich krank: eine schwere Halsentzündung. Kingscourt erschrak heftiger, als er es zeigen wollte.

Vor allem rief er Friedrich herbei, schleppte ihn in ein abgelegenes Zimmer und begann lästerlich zu fluchen. Die Erkrankung des Kindes werfe alle Pläne um, man könne jetzt nicht mehr tun, was man wollte, und es gelte, jetzt einen anderen Entschluß zu fassen.

„Ich verstehe, Kingscourt!“ sagte Friedrich bekümmert. „Sie wollen abreisen. Nun denn, ich bin bereit!“

„I wo werd‘ ich!“ schrie Kingscourt hochrot. „Sie verstehen jar nischt mehr. Ihre Intellijenz hat im Verkehr mit diesem Frauenzimmer sichtlich jelitten. Das ist ja eben die Schlemastik, wie ihr Juden euch ausdrückt: daß wir jetzt schandenhalber nich abreisen können. Sie halten mich für nen netten Jemütsmenschen. Zuerst Jastfreundschaft jenossen, amüsiert, Schmarotzerpflanze jewesen — und wenn nu mal Schatten übers Haus kriechen, soll‘ man gleich ausreißen? Nee, mein Lieber, Sie können meinetwegen abdampfen, wenn Sie Europa durchaus nicht länger entbehren wollen. Ich bleibe hier, bis Fritzchen jesund ist — aus reinem Anstandsjefühl. Das jehört sich einfach.“

Die Grobheit des alten Herrn, der er auch diesmal einen lustigen Anstrich geben wollte, kam aber nicht echt heraus. Er hatte mehr Angst um das Bübchen, als er zeigen wollte. Er blieb auch die Nacht über im Krankenzimmer Fritzchens, wachte mit Frau Sarah und der Kinderfrau zusammen. Und als ob Fritzchen eine Ahnung von der über alles merkwürdigen Wandlung gehabt hätte, die im Gemüte des alten Menschenfeindes vorging, es klammerte sich an Kingscourt an wie an keinen anderen. Professor Steineck suchte diese Erscheinung auf rationalistische Weise zu erklären: der schöne lange blütenweiße Bart Kingscourts habe es dem Kinde angetan, oder vielleicht waren es die Grimassen und Spässe, die der alte Herr machte.

Doch wie man es auch deutete, das stand fest, daß Fritz von seinem grimmigen Freunde nicht ließ. Im steigenden Fieber umspannte er mit seinem Händchen den Zeigefinger des am Bett sitzenden Alten. Kingscourt war der einzige, von dem er Arznei annahm; der einzige, von dem er sich in Schlaf summen ließ. Kingscourt verfügte über keinen großen Schatz an Liedern. Am besten gelang ihm noch:

„Wer reit’t mit zwanzig Knappen ein
Zu Heidelberg im Hirschen?
Das ist der Herr von Rohodenstein,
Auf Rheinwein will er pi-a-i-a-i-irschen.“

Mit diesem Gesange hatte er früher einmal bei Fritzchen Glück gehabt, und nun mußte der Rodensteiner ununterbrochen zu Heidelberg im Hirschen einreiten. Das zweite Lied Kingscourts war:

„Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte.“

Mit diesen beiden musikalischen Leistungen lullte er sein leidendes Freundchen ein.

David Littwak war von der Erkrankung des Kindes nicht benachrichtigt worden. Man wollte ihn nicht beunruhigen, da er am nächsten Tage ohnehin nach Jerusalem kommen sollte. Er kam als Sieger im Wahlkampfe. Die Geyersche Hetzpartei war fast in allen Kreisen, wo sie zu kandidieren gewagt hatte, geschlagen worden. Dr. Geyer selbst hatte nur in einem einzigen Bezirk eine relative Stimmenmehrheit erlangt und mußte sich am folgenden Sonntag der Stichwahl unterziehen. Hingegen war David Littwak in einunddreißig Bezirken zum Delegierten gewählt worden. Er entschied sich, nur das Mandat von Neudorf anzunehmen.

Doch als er in dieser frohen Stimmung zu Jerusalem eintraf, erwartete ihn die Trübung des Glückes im Kinderzimmer. Weinend fiel ihm Frau Sarah um den Hals:

„Wir waren zu glücklich, David. Nun sucht uns Gott so fürchterlich heim. Vielleicht waren wir hochmütig oder nahmen das Gute als zu selbstverständlich hin?“

Er entgegnete sanft und ernst:

„Wir wollen uns jedenfalls an die Brust schlagen und uns selber zur Demut mahnen. Das kann nie schaden. Im übrigen aber wollen wir mit der Krankheit kämpfen, was in unserer Macht ist.“

Und sie kämpften. Die besten Ärzte versammelten sich früh und abends zur Beratung. Alle Kunst der Heilung wurde aufgeboten, um das kleine Leben zu retten. Aber die Krankheit schien dieser Anstrengungen zu spotten. Des Kindes Zustand verschlimmerte sich mehr und mehr. Es kam ein Abend, an dem die Ärzte traurig und kopfschüttelnd das Haus verließen; nur Professor Steineck blieb da. Er und Kingscourt hielten gemeinschaftlich mit der Pflegerin im Krankenzimmer aus. Frau Sarah war vor Aufregung und Ermüdung zusammengebrochen und selbst erkrankt. Man hatte sie zu Bett bringen müssen. Mirjam und Mrs. Gothland wachten bei ihr. David Littwak aber hielt sich zwischen den beiden Krankenzimmern seiner Lieben in einem Salon auf. Er ging bald hier und bald dort nachsehen, ob alles beim Rechten war. Besonnen traf er die nötigen Anordnungen, und Friedrich, der nebst Reschid Bey dem bekümmerten Mann Gesellschaft leistete, mußte ihn bewundern, wenn er diese Gelassenheit sah. David gab den näheren Freunden, die Nachrichten einholten, ruhig Auskunft. Doch auch seine Kraft überstieg es endlich. Er bat einen der Freunde, hinunterzugehen und die Besucher im Vestibül des Gasthofes zu empfangen. Reschid Bey übernahm diese Aufgabe. Im Bekanntenkreise Davids hatte sich die Nachricht eilig verbreitet, daß es um den kleinen Kranken schlecht stand, und von allen Seiten eilten die Leute herbei, um sich zu erkundigen. Der Präsident der neuen Gesellschaft ließ sich jede Stunde berichten. Die Liebe und Achtung, deren David Littwak sich bei seinen Mitbürgern erfreute, kamen bei diesem Anlasse zum Vorschein. Vor dem Gasthofe stauten sich die Teilnehmenden. Die wenigsten kannten das gute Fritzchen, aber daß es David Littwaks Sohn war, genügte. Viele beteten für dieses schwache kleine Leben, das vielleicht dereinst ein großer Segen für die Gemeinschaft werden konnte, wenn es erhalten blieb.

Und oben redete David gebeugt, aber ruhig mit Friedrich.

„Sehen Sie, mein lieber Dr. Löwenberg, das haben wir nicht anders machen können, als es war. Als es war vor zwanzig und vor zweitausend Jahren. Wenn die Stunde des früher glücklichen Hiob schlägt, muß er sich fassen und sagen: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen …“

Bei diesen Worten trat Steineck aus Fritzchens Zimmer und flüsterte:

„Noch nicht!“ Aber es klang wenig Hoffnung daraus. Der Professor fügte hinzu: „Wenn das Kind nur einschlafen könnte. Ein ordentlicher Schlaf wäre ein Glück, vielleicht die Rettung.“

„Stört das Gebrumm Kingscourts das Kind nicht?“ fragte Friedrich.

„Nein“, entgegnete Steineck. „Er muß weitersingen, ob er will oder nicht. Wenn Fritzchen aus dem Halbschlummer erwacht, muß der Alte singen. Es ist rührend, wie er es tut.“

„Er hat das Kind unendlich gern“, sagte Friedrich.

Da begann David zu weinen. Aus dem Nebenzimmer aber hörten sie Kingscourts Stimme:

„Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte…“

Und dann ging es in den Rodenstein über, der auf Rheinwein pi-a-i-a-i-irschen wollte. Doch immer trübseliger ritt der Herr von Rodenstein zu Heidelberg im Hirschen ein, und im Nebenzimmer horchten sie mit Bangen, ob der Gesang nicht jetzt und jetzt völlig verstummen werde.

Jetzt — eine Pause. Man hörte nichts mehr. Und im nächsten Augenblick erschien Kingscourt in der Tür. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er legte den Finger bedeutsam auf den Mund:

„Still! Er schläft!… Keinen Ton mehr im Hause! Wer mir da draußen auf dem Korridor Lärm macht, den schlag‘ ich nieder. Ich setze mich raus … Wenn Fritzchen aufwacht, ruft ihr mich!“

Und so tat Kingscourt. Er setzte sich in den Gang vor Fritzchens Zimmer auf einen Stuhl und wachte. Er blickte Diener und Gäste, die vorbeiwollten, so fürchterlich an, daß sie vor ihm erschraken. Dazu knurrte er heiser, sie möchten anderswohin gehen, hier sei ein Kranker.

Eine Stunde verging so, dann eine zweite. Da ging Friedrich zu Kingscourt hinaus vor die Tür. Der Alte fuhr von seinem Stuhl auf:

„Hat es mich jerufen?“

„Nein“, flüsterte Friedrich. „Es schläft noch immer.“ Im selben Augenblick fühlte er sich beim Kopf gepackt. Kingscourt hatte ihn umschlungen und raunte ihm ins Ohr:

„Fritze, wenn das Wurm aufkommt, bleib‘ ich hier, für immer. Das jelobe ich hiermit feierlich. Dieses Opfer bring‘ ich für seine Jenesung, so wahr ich Adalbert von Königshoff heiße…“

Stunde um Stunde verrann. Fritzchen schlief und schlief. Er schlief sich in die Gesundheit hinüber. Aus Nacht ward Morgen. Und mit der Sonne ging auch wieder die Hoffnung auf. Als man in der Frühe Kingscourt an das Bett des Kindes rief, hatte es schon wieder helle Äuglein und es jauchzte ihm entgegen: „Ottoh! Ottoh!“

„So ’n Kerl!“ brummte Kingscourt und versuchte eine unzufriedene Miene zu machen, weil er sich seiner nächtlichen Verzagtheit vor Friedrich schämte. „Nun gehen Sie aber auch schlafen, Kingscourt!“ sagte dieser. „Sie brauchen jetzt Ruhe. Und was Ihre Worte vom Korridor betrifft, die will ich einfach nicht gehört haben.“

„Nee, mein Lieber!“ entgegnete Kingscourt stolz, „da kennen Sie mich doch erst zur Hälfte. Was ich einmal jeschworen habe, ist jeschworen… Aber vor allem denk‘ ich einen langen Schlaf zu tun… Nachher wollen wir sehen, wie wir uns hier in die neue Jesellschaft aufnehmen lassen. Jawohl!“

Friedrich wußte noch immer nicht, ob der Alte scherzte. Hier zu bleiben war ja sein sehnlichster Wunsch. Ein nützliches Mitglied der neuen Gesellschaft werden, mitarbeiten an all dem Guten, was er gesehen hatte, dauernd ein Genosse der Wackeren sein — es war sein bisher verschwiegener Traum. Und noch etwas anderes, das er sich gar nicht zu gestehen wagte.

Aber Kingscourt hielt Wort. Gleich am folgenden Tage, als Fritzchen wieder frisch und munter war und auch Frau Sarah sich vom Schrecken erholt hatte, der ihre ganze Krankheit gewesen, mahnte Kingscourt selbst an die Ausführung seines Vorhabens. Erriet er die Freude, die er dem Genossen seiner zwanzig Inseljahre machte? Man durfte es ihm wohl zutrauen, dem angeblichen Menschenfeinde, der dem Zauber des Kindes erlegen war. Sein Verhältnis zu Fritzchen suchte er wenigstens auf eine prinzipientreue Weise zu rechtfertigen, nachdem er es nicht mehr zu leugnen vermochte. Er könne das Bübchen allerdings recht gut leiden, aber nur ungefähr so, wie man ein unschuldiges Tierchen gern habe. Fritzchen sei eben noch kein Mensch, folglich vergebe sich ein Menschenhasser nichts, wenn er so ’n Kerlchen liebgewinne.

„Die Motivierung, Kingscourt, schenke ich Ihnen“, lachte Friedrich; „mir genügt die Tatsache. Wann sollen wir uns zum Eintritt in die neue Gesellschaft melden?“

 

Viertes Kapitel

Sie beschlossen, es ohne Verzug zu tun. Sie wollten dem Präsidenten Eichenstamm, der sie schon damals in Haifa eingeladen hatte, einen Besuch machen und ihn um Rat fragen, wie sie es am besten anfingen, in die neue Gesellschaft als ordentliche Mitglieder einzutreten. So fuhren sie nach dem Hause des Präsidenten. Das war ein Gebäude, das an die Palazzi der genuesischen Patrizier erinnerte. Unmittelbar vor ihnen war ein Motorwagen vorgefahren, dem zwei ältere Herren und Professor Steineck entstiegen. Der Professor stand schon auf der Freitreppe, als er die beiden Freunde sah, die mit dem Portier parlamentierten. Er winkte ihnen einen Gruß zu, und das hatte die Folge, daß der Pförtner weiter keine Schwierigkeiten machte und sie durchließ. Aber Steineck war im nächsten Augenblick verschwunden.

Kingscourt und Friedrich hatten nach Dr. Werkin, dem Sekretär des Präsidenten, gefragt. Ein Diener führte sie in dessen Bureau, und dort hieß man sie warten. Sie warteten ein Weilchen in dem schönen hohen Vorsaale, dann wurde Kingscourt ungeduldig:

„Nee, das mach‘ ich nicht länger mit. Sieben Jahre werd‘ ich nicht im Vorzimmer dienen. Reden Sie mit einem der Sklaven, Fritze! Am Ende hat man uns nicht jemeldet.“

„Sklaven scheint es hier nicht zu geben“, lächelte Friedrich. „Aber der Maschinenschreiber dort wird uns Auskunft geben.“

Der Schreiber an der Maschine gab Auskunft. Dr. Werkin sei schon seit zwei Stunden beim Präsidenten, und es heiße, daß der Präsident plötzlich schwer erkrankt sei.

„Ah – hah! Nu jehn mir die Lichter auf. Darum ist Steineck so schnell verschwunden? Wissen Sie vielleicht auch, verehrtester Maschinist, wer die zwei Herren waren, die mit Steineck kamen.“

„Ja. Das waren zwei Professoren der Medizin von der Zions-Universität.“

„Ich glaube, Kingscourt“, sagte Friedrich, „wir ziehen uns zurück. Wir lassen unsere Visitenkarte für Dr. Werkin hier und wollen wiederkommen, wenn es dem Präsidenten besser geht.“

So verließen sie unverrichteter Sache das Haus des Präsidenten. In der Stadt Jerusalem war von dem Ereignis noch nichts bekannt. Der Verkehr rauschte mit der gewöhnlichen Lebhaftigkeit durch die Neustadt. Die Freunde, die sich schon in den Straßen zurechtfanden, bogen von den Boulevards ab und betraten einen großen Park, der nach englischem Muster angelegt war. Am Eingange dieses Parks bemerkten sie ein ausgedehntes Gebäude mit der Aufschrift: „Gesundheitsamt der neuen Gesellschaft“.

Kingscourt lachte laut auf:

„Sieh mal, da haben sie wieder was Jescheutes nachjemacht. Das ist offenbar dem deutschen Reichsjesundheitsamt nachjebildet. Da brauch‘ ich nicht erst die Einjeborenen zu befragen. Ich kenne mich schon janz aus in Altneuland. Es ist ’ne Mosaik – eine mosaische Mosaik. Juter Witz, was?“

„So gut wie alle ihre Witze, Mr. Kingscourt; auch nicht besser“, sagte Friedrich. „Aber mir scheint, Altneuland ist in seinem Wesen nicht erschöpft, wenn wir nur feststellen, daß alle Einrichtungen bei unserer Abreise aus der Kulturwelt vor zwanzig Jahren schon da oder dort existiert haben. Jawohl, alles war schon vorhanden. Die Naturkräfte waren genügend erforscht – ich meine genügend für den jetzigen Zustand. Die technischen Möglichkeiten waren gegeben. Kein Gebildeter vom Jahre 1900 hätte sich über irgend etwas wundern können, was wir hier gesehen haben. Ja, sogar das Maß von sozialer Fürsorge, das man hier verwirklicht hat, kann einen zivilisierten Menschen unserer damaligen Zeit nicht überraschen. Im Bewußtsein der besseren Durchschnittsmenschen war die Forderung schon damals durchgedrungen, daß man dem rohen Egoismus in der Gesellschaft Schranken setzen müsse. Diese Schranken sind hier freilich nicht drückend, da der einzelne in der Gesellschaft wieder zurückbekommt, was ihm individuell genommen ist. Aber auch die Formen der genossenschaftlichen Produktion und Konsumtion waren schon da. Und doch ist aus all dem Alten etwas Neues geworden. Altneuland ist noch mehr, muß noch mehr sein als eine Zusammenfassung aller sozialen und technischen Fortschritte.“

„Warum? Ich finde schon das janz hübsch“, warf Kingscourt ein.

„Als Jurist, als Europäer vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts frage ich mich, wie diese Gesellschaft im Gleichgewicht erhalten wird. Ich sehe eine Ordnung in der Freiheit, und doch bemerke ich nirgends eine staatliche Autorität hervorlugen.“

„Ja, Fritze, da liegt der Hase im Pfeffer. Die Juristerei und Europäertum verdunkeln euch jar vieles. Man kann mit sehr wenig staatlicher Autorität auskommen. Wenn Sie, wie ich, drüben in Amerika jelebt und jeliebt hätten, wüßten sie das besser. Nee, das verblüfft mich nu jar nicht. Wissen Sie, was mich verblüfft, schon die janze Zeit? Das sind die Bäume! Die Bäume in diesem Park sind unter Brüdern fünfzig bis vierzig Jahre alt. Wo haben die Kerls das rausjekriegt?“

Er hatte so laut gesprochen, daß ein vorübergehender Herr ihn hörte, lächelte und stehen blieb. Kingscourt redete ihn natürlich sofort an:

„Ich sehe, daß Sie über mich in jelinde Heiterkeit jeraten, jeschätzter Vorüberjehender. Wissen Sie vielleicht Antwort auf meine Frage?“

„Gewiß, mein Herr“, sagte der Angerufene. „Ich diene im Gesundheitsamte und kenne die Verhältnisse einigermaßen. Daß man auch erwachsene Bäume verpflanzen kann, ist eine bekannte Sache. In Köln zum Beispiel, wo ich früher lebte, gab es einen Volksgarten, in dem man vierzigjährige Bäume einsetzte. Das ist freilich recht kostspielig, aber für die öffentliche Gesundheit wird bei uns viel aufgewendet. In den Parks, die für das Volk da sind, ist nichts zu teuer. Es rentiert sich in den kommenden Geschlechtern. Übrigens haben wir nicht überall so alte und kostbare Bäume gesetzt. Wir haben namentlich von Australien jüngere Bäume, rasch wachsende Eukalyptusarten bezogen. Die Mittel wurden anfangs durch den nationalen Baumverein aufgebracht, der in allen Weltteilen Sammlungen einleitete, als das jüdische Volk noch zerstreut lebte. Die Spender haben schon damals für den Schatten gesorgt, in dem sie später sitzen wollten.“

„Danke“, sagte Kingscourt, „das leuchtet mir ein. Und wenn Sie jetzt noch Ihre Wohltat vollmachen wollen, dann erklären Sie, bitte, woher alle die Kinder sind, die man da auf den Wiesen sieht?“

Sie waren nämlich an Wiesengründen vorbeigekommen, auf denen Schwärme halbwüchsiger Knaben und Mädchen die Spiele Englands spielten: die Mägdlein Tennis, die Burschen Kricket und Fußball.

Der Beamte gab willig Auskunft:

„Das sind Schulkinder aus den Instituten, die um diesen Park herum liegen. Abwechselnd werden alle Klassen herausgeführt zu den athletischen Spielen, die wir in der Entwicklungszeit für ebenso wichtig halten wie das Lernen.“

„Das scheinen aber nur die Kinder wohlhabender Leute zu sein?“ fragte Friedrich. „Alle sind gleich schmuck und reinlich gekleidet, wie ich sehe.“

„Nein, Herr!“ erwiderte der Beamte. „Das sind die Kinder aller Leute. Es gibt in der Schule keinen Unterschied, weder in der Kleidung, noch in irgend etwas anderem – mit Ausnahme der Begabung und des Fleißes. In unserer neuen Gesellschaft sind wir durchaus nicht für die Gleichmacherei. Jedem nach seinen Werken. Den Wettbewerb haben wir nicht abgeschafft. Aber die Bedingungen sind für alle gleich, wie bei einem Preiskampf oder Wettlauf. Am Anfang müssen alle gleich sein, nicht am Ende. In der früheren Gesellschaft konnte es vorkommen, daß ein einziges gutes Geschäft eines Mannes seinen Kindern und Kindeskindern zu allen Wohltaten der höheren Erziehung verhalf und sie für immer sorglos machte. Auf der anderen Seite mußten wieder die Nachkommen nicht etwa nur für die Sünden, nein, sogar für die schlechten Geschäfte des Vaters büßen. Eine verarmte Familie geriet ins Proletariat, und es war Heldenkraft nötig, um sich daraus noch einmal zu erheben … Bei uns aber werden die Kinder für die Geschäfte der Väter nicht belohnt und nicht bestraft. Für jede neue Generation stellen wir wieder den Anfang der Dinge her. Darum sind sämtliche Schulen, von der Elementarschule bis zur Zions-Universität unentgeltlich, und die Schüler müssen bis zur Reifeprüfung in der Mittelschule die gleiche einfache Kleidung tragen. Wir glauben nämlich nicht, daß es moralisch gut ist, wenn Rang oder Reichtum der Eltern die Kinder in der Schule unterscheidet. Das verdirbt alle. Die Kinder der Vornehmeren werden hochmütig und faul, die Kinder der anderen werden früh verbittert … Aber Sie verzeihen, wenn ich Sie verlasse. Mich ruft meine Pflicht.“

Und mit einem höflichen Gruße entfernte er sich.

Friedrich und Kingscourt sahen ergötzt noch eine Weile dem lustigen und geschickten Völkchen zu. Kingscourt, der noch aus früheren Tagen mit Kricket und Fußball wohl vertraut war, fühlte in sich die alte Passion für diese Spiele erwachen. Er feuerte die Kinder mit Zurufen an. Am liebsten hätte er mitgespielt. Endlich zog ihn Friedrich am Arm fort:

„Wir wollen auch sehen, wie es Fritzchen geht, Sie Rabenotto! Und vielleicht sind Nachrichten vom Präsidenten Eichenstamm da?“

Sie kehrten in das Hotel zurück. Fritzchen war schon frisch und munter und begrüßte seinen Freund mit einem Gesänge, den Kingscourt an dem i-a-i-a-i-i als sein eigenes Lied vom Rodensteiner zu erkennen glaubte. Der Alte und das Kind waren auch bald in ein sehr intimes, allen übrigen unverständliches Gespräch verwickelt.

Von Eichenstamm kamen aber keine guten Nachrichten. Steineck sandte an David Littwak eine kurze Meldung: „Hoffnungslos!“ Und als es Abend wurde, kam der Professor zurück. An seinem Gesichtsausdruck erkannten die Freunde, was geschehen war.

„Er ist groß gestorben“, sagte Professor Steineck. „Ich war bei ihm bis zur letzten Minute. Er sprach über das Sterben. Er sagte, es sei schmerzlos, wenn man sich schon lange vorher beschäftigt habe. ,Ich fühle,’ sagte er, ,wie sich mein Bewußtsein allmählich verdunkelt. Ich höre mich noch sprechen, aber immer schwächer. Ich werde vielleicht noch denken, unter Schleiern, wenn ich nicht mehr reden kann. Ich habe von mir selbst schon Abschied genommen – wie schade, daß ich nicht auch von all den anderen Abschied nehmen kann, die mir im Leben gut waren.’ Dann schwieg er lange, sein Blick war in eine Ferne gerichtet. Wieder kehrten seine Augen dann zu mir zurück. ,Ich hatte Freunde,’ sagte er. ,Viele Freunde. Wo sind sie? Freunde sind der Reichtum des Lebens. Ich hatte viele, viele Freunde. Wo sind sie? …’ Es ging mit ihm zu Ende. Er murmelte dann noch, und mir schien, als sagte mir sein betrübter Blick: Du siehst, jetzt kann ich nicht mehr reden, aber noch denken. Und in einer letzten Anstrengung fand er sich wieder. Er sagte deutlich das Wort als letztes, das wir oft von ihm gehört haben: ,Der Fremde soll sich bei uns wohl fühlen!…’ Dann wurden seine Augen starr. Ich drückte sie ihm zu.“

So starb Eichenstamm, der Präsident der neuen Gesellschaft.

 

Fünftes Kapitel

Auf den achten Tag nach Eichenstamms feierlichem Begräbnis war der Kongreß der neuen Gesellschaft zur Wahl eines Präsidenten einberufen.

Die Delegierten, an die vierhundert, Frauen und Männer, waren schon am Abend vorher fast vollzählig eingetroffen. In vielen Klubs und Gasthäusern fanden hitzige Besprechungen statt. Soviel sich an diesem Vorabend erkennen ließ, lag die Wahl zwischen Dr. Marcus, dem Präsidenten der Akademie, und Joseph Levy, dem Generaldirektor der neuen Gesellschaft. Die Aussichten der beiden waren ungefähr gleich. Wenn man nun annahm, daß mehrere weniger ernste Kandidaten einen Teil der Stimmen im ersten Wahlgange auf sich lenken würden, so durfte man vermuten, daß keiner die absolute Majorität erreichen und eine Stichwahl zwischen Marcus und Levy nötig sein wird.

Joseph Levy war übrigens von seiner Europareise noch gar nicht zurückgekehrt. Man erwartete ihn stündlich. Es gab Leute, die behaupteten, er wolle eine Wahl zum Präsidenten überhaupt nicht annehmen. Andere wieder sagten, dieses Gerücht werde nur von den Anhängern des Dr. Marcus ausgesprengt. Kurz, es entwickelte sich das Treiben, das man überall in der Welt um eine Wahl herum beobachten kann: Schliche der Parteigänger, Lärm, Zank, Scherz und Ernst. Kingscourt unterhielt sich dabei ausgezeichnet.

Aber am Morgen des Wahltages kam David mit bestürzter Miene in Friedrichs Zimmer.

„Sie müssen ohne mich in das Kongreßhaus gehen, meine Herren. Ich habe eine Depesche erhalten, die mich nach Tiberias ruft. Meine Mutter…“ Sein Blick verdunkelte sich und seine Stimme brach: „Der Zustand meiner Mutter hat sich verschlimmert. Ich reise mit Mirjam sogleich nach Tiberias. Meine Frau wird mit Fritzchen später nachkommen.“

„Sollen wir nicht mit Ihnen fahren, lieber Littwak?“ fragte Friedrich teilnehmend.

„Ach, Sie können ja nicht helfen. Ich fürchte, da kann niemand mehr helfen… Bleiben Sie ruhig beim Kongreß — für Sie wird es immerhin ein Erlebnis sein. Was aber mich betrifft, mir ist das alles gleichgültig geworden. Mögen sie wählen, wen sie wollen.“

Kingscourt sagte:

„Wir werden Ihre Frau und Fritzchen später nach Tiberias begleiten.“

„Danke!“ erwiderte David. „Ich habe nur die eine Bitte, daß Sie niemand etwas von meiner Abreise sagen. Es gibt Momente, wo einem auch die Freunde zu viel sind. Man würde mich mit Erkundigungen bestürmen! Ich will allein sein … Leben Sie wohl!“

„Ich wünsche Ihrer Mutter eine baldige Besserung!“ sagte Friedrich.

David zuckte traurig die Achseln:

„Ich weiß, wie die Besserung aussehen wird. Leben Sie wohl!“

Nach Davids und Mirjams Abreise fuhren die Freunde nach dem Kongreßhause. Blauweiße, wegen Eichenstamms Tod umflorte Fahnen wehten, und eine große Menschenmenge wogte um das monumentale Gebäude.

Der Raum, in welchem die Wahl stattfinden sollte, war ein weiter, hoher, ernster Marmorsaal mit Oberlicht, das durch eine matte Glasdecke hereindrang. Die Bänke waren noch leer, denn die Delegierten hielten sich vor der Sitzung in den Vorsälen, Wandelgängen und Kommissionszimmern auf. Es ging heiß her, wie ab und zu einer auf die Galerien melden kam.

Die Galerien aber waren schon dicht gefüllt. In den Logen sah man mehr Damen als Herren. Gedämpfte Farben herrschten in der Frauentracht vor, denn es war noch die Trauerzeit für Eichenstamm. Nur in der Loge neben Kingscourt und Friedrich saßen einige Damen in sehr hellen Kleidern und mit schreiend bunten Hüten. Es waren die Damen Weinberger, Mutter und Tochter, die alte und die junge Laschner, Herr, Frau und Fräulein Schlesinger, und Dr. Walter, Schiffmann, auch Grün und Blau, die Humoristen, fehlten nicht. Am liebsten wäre Friedrich auf und davon in eine andere Loge gegangen, aber es gab nirgends mehr einen Platz. Auch wollte Kingscourt diese Nachbarschaft, die ihn höchlich amüsierte, nicht aufgeben. Sie hörten alles, was in der Nebenloge geredet wurde. Vorn an der Brüstung saßen die Damen und Herr Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein.

Der wortwitzige Herr Grün, der Mann mit den „uneingesäumten“ Ohren, sagte:

„Also das ist der Kongreß? Mir scheint, mehr Kohn als greß. Obwohl einem auch gräßlich zumut sein kann, wenn man ein Kandidat ist, was durchfallt.“

„Ich hab‘ gehört, Marcus wird durchfallen“, erklärte Herr Schiffmann.

„Woher wissen Sie das?“ fragte der Vertreter der Barone von Goldstein. „Mir is es, unter uns gesagt, ganz einerlei.“

Schiffmann lächelte geheimnisvoll:

„Ich hab‘ meine Informationen. Alles soll man wissen, nix soll man brauchen.“

Blau bemerkte neidisch:

„Schiffmann is imstand und spielt auch damit auf der Börse.“

„Das möchte ich wissen, wie sich diese Wahl in Hausse oder Baisse ausdrücken soll“, erkundigte sich Dr. Walter.

„Sehr einfach“, meinte Schiffmann, „Levy ist ein unternehmender Kopf, also gibt es unter ihm mehr Geschäfte, also Hausse. Hingegen ist Marcus mehr eine beschauliche Natur, also nix zu handeln, also Baisse.“

„Großartig!“ höhnte Blau, „wenn ich einmal vierundzwanzig Stunden so wenig Verstand hätt‘, wie Sie, Herr Schiffmann, hätt‘ ich ausgesorgt für mein Leben.“

Schiffmann wehrte sich:

„Es ist besser, daß Sie mehr Verstand haben wie ich, denn sonst könnten Sie nicht auf Hochzeiten Spaß machen gehen.“

„Wer sind denn die Leute, die dort beim Maler Isaaks sitzen?“ fragte Ernestine Weinberger über die Logenwand hinweg Friedrich. „Ich sah vorhin, daß Sie sich grüßten.“

„Das ist Lord und Lady Sudbury.“

Frau Laschner mischte sich ein:

„Man sieht auf Ehre, daß sie ist mindestens eine Lady. Auf Ehre! Den Hut hat sie sich gewiß in Paris gemacht.“

Dr. Walter wurde feierlich:

„Die Anwesenheit solcher Personen beweist immerhin, daß unsere Einrichtungen das Interesse auch besserer Kreise erwecken.“

Friedrich neigte sich zu Kingscourts Ohr:

„Wenn ich diese Leute höre, möchte ich wieder mit Ihnen auf unsere Insel zurückkehren.“

„Hohoh, ein Rückfall!… Da bin ich doch schon weiter. Ich weiß, daß es in jedem besseren Tiergarten auch einen Affenkäfig jeben muß. So auch im Menschengarten.“

Jetzt begann es unten im Saale lebhaft zu werden. Einzelne Delegierte suchten ihre Plätze auf. Auf den Stufen zwischen den im Halbkreise ansteigenden Bankreihen bildeten sich Gruppen.

Auf der Rechten, in einem Knäuel weiblicher Delegierten, sahen die Freunde Mrs. Gothland sitzen. Sie schien ihren Zuhörerinnen eine kleine Agitationsrede zu halten. Es war bekannt, daß Mrs. Gothland zu den Parteigängern des Dr. Marcus gehörte. Daß der Architekt Steineck für Joe Levy hitzig eintrat, konnte man leicht wahrnehmen, wenn man ihn jetzt am Fuße der Rednertribüne gestikulieren sah und aus dem wachsenden Stimmengebrause seine schrille Stimme heraushörte: „Tschoh! Tschoh!“

Reschid Bey kam zu Kingscourt und Friedrich. Er brachte das Neueste aus den Couloirs: die Wahl Joseph Levys sei nahezu gesichert. Er werde schon im ersten Wahlgange durchdringen. Er sei nämlich im ganzen Lande, dessen Aufblühen ja seiner Energie zu danken war, volkstümlich, und die Delegierten wollten in der Mehrzahl darauf Rücksicht nehmen. Marcus hingegen stehe doch nur den Höhergebildeten nahe. Joseph Levy sei übrigens heute morgen von der Reise zurückgekehrt und werde selbstverständlich in den Kongreß kommen.

„Den Mann müssen Sie mir schleunigst zeigen, wenn er kommt, jeliebtester Pascha“, sagte Kingscourt. „Scheint nach alledem ein schneidijer Kerl zu sein. Ich bin begierig, mit welcher Art Anstand er unter sein versammeltes Kriegsvolk tritt.“

Im „Affenkäfig“, wie Kingscourt gescherzt hatte, machte man indessen weiter Glossen und Witze. Je mächtiger das Bild der Versammlung wurde, um so schlechter wurde die Laune einzelner im Affenkäfig, als wäre dieser Zusammentritt befreiter, selbstbewußter Menschen für sie da oben eine persönliche Beleidigung.

Herr Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein, ließ sich vernehmen:

„Na also! Jetzt sieht man doch, auf was es herausgegangen ist. Der eine hat die Stelle und der andere jene Stelle haben wollen. Jetzt haben sie sie. Jetzt ist die Judenfrage gelöst.“

Herr Dr. Walter hatte schon die ganze Zeit gierig in den Saal hinuntergeblickt, in dem leider für ihn kein Platz war, und er entgegnete dem übrigens hochgeschätzten Goldstein’schen Vertreter:

„Entschuldigen Sie, verehrter Herr Schlesinger, wenn ich da ein wenig widerspreche. In dem Erstreben eines Mandates von seinesgleichen kann ich an und für sich nichts Unschönes erblicken. Es kann ja im einzelnen Fall etwas Unschönes sein, gewiß haben Sie da recht. Und ich begreife, daß ein Mann wie Sie, der einige dreißig Jahre im Hause Goldstein tätig ist, strenge Anforderungen an die Menschen stellt. Aber schließlich: warum soll man sich nicht um ein Amt in der neuen Gesellschaft bemühen?“

„Wenn es etwas einträgt!“ ergänzte der Spaßmacher Herr Blau, und er fügte, als er das ermunternde Lächeln Schlesingers bemerkte, hinzu: „Aber ich glaube, Herr Dr. Walter, da hätten Sie früher aufstehen müssen, wenn Sie hätten eines bekommen wollen.“

Dr. Walter wurde rot vor Zorn und brummte dem Spötter zu:

„Sie haben, Herr Blau, schon lange keine fremde Hand im Gesicht gehabt.“

Aber Schiffmann stiftete Frieden, indem er die Empfindungen aller in die wehmütigen Worte zusammenfaßte:

„Mir scheint, wir haben alle die Überfuhr versäumt. Wir stehn schon wieder alle und sehn beim Gitter heraus, wo die freien Menschen sein. Es is mir gegangen so seit meiner Jugend — wo ich immer bin hingekommen, hab‘ ich nur Schlesinger und Laschner, Grün und Blau getroffen. Es is ein Pech…“

Ein Glockenzeichen ertönte. Das kündigte das Erscheinen des Kongreßpräsidiums an. Die Galerien wurden mit einem Schlage still, und auch der Affenkäfig verstummte.

Die Delegierten strömten zu allen Türen herein in den Saal.

„Der dort ist Joe Levy“, sagte Reschid Bey und zeigte hinunter. „Der mit dem buschigen grauen Schnurrbart und der Glatze. Der jetzt dem Architekten Steineck die Hand gibt.“

Sie sahen ihn. Es war ein hagerer Mann von Mittelgröße, sehr gebräunt im Gesicht und an der Stirn bis an die Hutlinie, sehr rasch und energisch in seinen Bewegungen. Er drückte viele Hände, weil sich die Delegierten an ihn herandrängten, um den Heimgekehrten zu begrüßen. Den Ferneren nickte er lächelnd zu, winkte wohl auch mit erhobener Hand. Er sah unbefangen und gar nicht feierlich aus.

Ein zweites längeres Glockenzeichen. Alle nahmen ihre Plätze ein, hinter dem erhöhten Sitz des Präsidiums öffneten sich beide Flügel der vergoldeten Tür, und der Vorsitzende des Kongresses erschien mit seinem ganzen Bureau.

Vor allen Dingen hielt er dem hingegangenen Präsidenten der neuen Gesellschaft einen schönen Nachruf, den alle stehend anhörten. Dann verkündigte er:

„Wir haben uns heute versammelt, um einen neuen Präsidenten zu wählen.“

Da ertönte zum allgemeinen Erstaunen die Stimme Joseph Levys, der in der dritten Bank im Zentrum saß:

„Ich bitte ums Wort!“

Der Vorsitzende sprach:

„Herr Joseph Levy hat das Wort.“

Ein leichtes Brausen stieg aus dem Saal auf, während Joe Levy mit elastischem Schritt der Rednertribüne zustrebte. Was hatte er vor? Jetzt war er oben:

„Geehrte Kongreßmitglieder! Ich habe nur eine kurze Erklärung abzugeben. In meiner Abwesenheit waren einige meiner Freunde so freundlich, meine Kandidatur aufzustellen. Sie haben mich vorher nicht befragt, ob es mir auch recht ist.“

Kleiner Lärm in den Reihen der Marcuspartei: „Hört, hört!“

Architekt Steineck schrie:

„Ausreden lassen!“

Joe Levy wiederholte:

„Ich habe nur eine ganz kurze Erklärung abzugeben. Es ist für mich eine hohe Ehre. Aber ich will dem Kongreß nicht die Mühe einer namentlichen Abstimmung machen. Nach unserer Wahlordnung für die Präsidentschaft muß bei Namensaufruf jeder Delegierte persönlich seinen Stimmzettel hier auf der Tribüne abgeben. Dieser Vorbeimarsch dauert vier Stunden. Dann wird das Skrutinium vorgenommen. Das dauert wieder zwei Stunden. Dann kommt es vielleicht erst noch zu einer Stichwahl. Diesen Zeitverlust kann ich nicht auf mein Gewissen nehmen. Schade um die Zeit. Denn ich bin fest entschlossen, die Wahl, wenn sie auf mich fiele, nicht anzunehmen.“

Jetzt lärmten wieder seine Anhänger: „Warum, warum?“

„Die Gründe, verehrter Kongreß, sind einfach. Ich fühle in mir noch die Kraft, zu arbeiten, und wenn Sie mit mir zufrieden sind, so lassen Sie mich weiterarbeiten. Wenn Sie mich wählen, schicken Sie mich eigentlich in Pension. Ich glaube, dazu bin ich trotz meiner grauen Haare noch zu jung. Im übrigen wird Ihnen Herr Dr. Marcus meine Meinung sagen. Ich habe ihn nämlich heute früh gleich nach meiner Ankunft aufgesucht, weil er, wie ich hörte, der Gegenkandidat ist. Wir haben uns verständigt. Wir sind nämlich nicht so weit auseinander wie unsere beiderseitigen Freunde…“ (Heiterkeit.) „Herr Dr. Marcus wird Ihnen seine und meine Ansicht sagen — besser, als ich es kann. Was mich anbelangt, bei meinem Entschluß bleibt es. Meine lieben Freunde, ich danke euch für die Absicht! Geehrte Kongreßmitglieder, wählen Sie mich nicht!“

Es entstand nun eine allgemeine Unruhe im Saal. Rufe des Unwillens, der Überraschung, der Enttäuschung rauschten auf. Levy, der die Tribüne verließ, wurde von seinen Anhängern umringt und mit Fragen bestürmt. Er lächelte und zuckte die Achseln.

„Der Mann jefällt mir“, sagte oben Kingscourt. „Reden kann er nicht, aber ein nobler Kerl scheint er zu sein.“

Anders wurde der Vorfall im Affenkäfig kommentiert.

„Die Trauben werden ihm zu sauer gewesen sein“, vermutete Blau.

„Seine Nation is de Resignation“, bemerkte Grün witzig.

Schiffmann aber sagte:

„Nu, Herr Schlesinger? Da is gleich einer, der kein Amt schnappen will. Was sagen Sie jetzt?“

„Wie heißt, was ich sag‘? Weiß ich denn, was ihm seine jetzige Stellung eintragt? Wahrscheinlich kann er bestehen. Ein praktischer Mensch is er ja. Wer weiß, was er abgemacht hat mit Marcus? Das müßte man auch wissen.“

Friedrich hörte diese Bemerkungen und war empört, obwohl er dem Dr. Marcus erst einmal begegnet war und Mr. Joe Levy heute zum ersten Male sah. Er hatte nur den Wunsch, daß Kingscourt und Reschid Bey diese Abscheulichkeiten nicht ebenfalls hören mögen. Er schämte sich des Affenkäfigs. Zum Glück waren die beiden mit den Vorgängen im Saal beschäftigt.

Der Vorsitzende läutete stark, um Ruhe zu schaffen für den Akademiepräsidenten Marcus, der das Wort erbeten hatte. Dr. Marcus stieg nicht ohne Mühe die wenigen Stufen hinan, und er wartete, bis der Saal ganz ruhig war, sonst hätten sie seine schwache Stimme nicht vernommen. Jetzt war lautlose Stille eingetreten, und er sprach:

„Geehrter Kongreß! Mein Freund Levy hat in seiner tüchtigen Weise vom Zeitsparen gesprochen. Ich glaube, wir werden mit der kostbaren Zeit der neuen Gesellschaft gut zu Rate gehen, wenn wir uns vor allem verstehen. Erst verstehen, dann entschließen!

Wir sind hier nicht, um ein Staatsoberhaupt zu wählen, denn wir sind kein Staat.

Wir sind eine Gemeinschaft, in neuen Formen zwar, aber zu einem Zwecke, der so alt ist, daß er schon im ersten Buche von den Königen vorkommt. Dort heißt es, daß Juda und Israel sicher wohneten, ein jeglicher unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, von Dan bis gen Beer-Seba.

Wir sind einfach eine Genossenschaft, eine große Genossenschaft, innerhalb deren es wieder eine Anzahl kleinerer Zweckgenossenschaften gibt. Und dieser unser Kongreß ist im Grunde nichts als die Generalversammlung der Genossenschaft, welche die neue Gesellschaft genannt wird. Dennoch aber fühlen wir alle, daß es hier um mehr geht als um die rein materiellen Interessen einer Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft. Wir pflanzen Parks und Schulen, wir bekümmern uns über die gemeine Deutlichkeit und Nützlichkeit der Dinge hinweg auch um die Weisheit und Schönheit. Denn auch dies wird als ein Vorteil der Genossenschaft von uns verstanden. Wir verstehen, daß für eine Gemeinschaft von Menschen das Ideal ein Nutzen, ein Vorteil — sagen wir es heraus: daß es unentbehrlich ist. Das Ideal zieht uns hinan. Auch diese Wahrnehmung haben wir nicht zuerst gemacht, sie ist alt wie die Welt. Was für den einzelnen Wasser und Brot ist, das ist für die Gesamtheit das Ideal. Und unser Zionismus, der uns hierherführte und höher hinaufführen soll in noch unbekannte Regionen der Gesittung, er ist nichts anderes als ein endloses, endloses Ideal.

Glaubt jemand, ich sei abgeschweift? Nein, Freunde, ich bin bei der Sache, bei unserer Wahl. Der, den wir an die Spitze unserer neuen Gesellschaft wählen sollen, der hat nur ein Pfleger des Ideals zu sein. Das Materielle geht ihn nichts an, um so mehr das Ideale. Er soll dabei ein ruhiger Mann, ein Gerechter und Bescheidener sein, entrückt dem Streite augenblicklicher Meinungen. Wir wählen ihn ja auf sieben Jahre. Freund Levy hat die Wahl abgelehnt, weil er in solchen sieben Jahren uns durch seine Arbeit mehr glaubt nützen zu können. Ich pflichte ihm bei. Aber auch ich lehne meine Wahl ab. Ich bin zu alt. Ich glaube nicht, daß ich die sieben Jahre noch leben werde. Zu häufige Wahlen sind aber nicht gut, sie reizen die Ehrbegierde in einer ungesunden Weise auf, sie führen zu persönlichen Parteiungen. Wählen Sie mich nicht, ich bin zu alt. Ich habe nicht mehr die Beweglichkeit des Körpers, vielleicht auch nicht mehr die des Geistes. Vielleicht verstehe ich die Ideale jüngerer Menschen nicht mehr. Denn auch das Ideal wird immer neugeboren, und es gibt Renaissancen, die unsereiner nicht mehr begreift.

Aber Levy und ich wollen nicht nur Nein sagen. Wir wollen Ihnen auch einen Vorschlag machen. Der Vorschlag ist von Levy, der sich auf die Auswahl von Menschen versteht, und das empfiehlt den Vorschlag; ich habe ihm nur von ganzem Herzen zugestimmt.

Der Mann, den wir Ihnen empfehlen wollen, ist noch jung, jünger als Levy, viel, viel jünger als ich. Er ist einer von den neuen Menschen, welche diese alte Erde wieder fruchtbar und schön machten. Er ist an der Seite seines Vaters hinter dem Pfluge gegangen, er hat aber auch hinter den Büchern gesessen. Er hat einen gesunden Sinn für das öffentliche Leben, ohne sich hervorzudrängen. Ich sehe ihn jetzt nicht im Saal. Wenn er aber hier ist, so ist er gewiß der Letzte, der meine Worte auf sich bezieht, so wahr ist seine Demut. Er ist auch tüchtig in seinen eigenen Angelegenheiten. Er hat sich aus den bescheidensten Verhältnissen ehrlich hinaufgearbeitet, ein Emporkömmling ist er nicht. Und gerade, daß er von ganz unten aufgestiegen ist, macht ihn uns wert. Wenn wir ihn wählen, so ehren wir nicht nur den wackeren Mann, der er ist, wir eifern auch eine ganze Jugend zu den edelsten Anstrengungen an, wir tun damit ein Werk von unermeßlicher Bedeutung für die Zukunft unserer neuen Gesellschaft. Jeder Sohn Venedigs konnte Doge werden. Jedes Mitglied der neuen Gesellschaft soll auf den höchsten Sitz gelangen können.“

Brausend erhob sich bei diesen Worten der Beifall im Hause. Viele riefen: „Den Namen, den Namen! Wer ist es?“ Dr. Marcus hob die Hand zum Zeichen, daß er noch etwas hinzufügen wolle. Da wurde es still, und er sagte:

„Ich will den Namen unseres Kandidaten nicht von der Tribüne herab nennen, weil es nach unserer hergebrachten Übung nicht angeht, den Wahlkongreß zu einer Wahlbesprechung zu machen. Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, die Sitzung zu unterbrechen.“

Dies geschah. In großer Bewegung verließen die Delegierten ihre Plätze. Marcus und Levy wurden umringt. Sie standen den stürmisch auf sie Eindringenden Rede. Sie nannten den Namen ihres Kandidaten. Die Näherstehenden schrien ihn den Ferneren zu, in immer stärkeren Zurufen schwirrte der Name durch den Saal, und nach wenigen Minuten kam er zu den Galerien hinaufgeflogen, der Name — David Littwak.

„Donner und Gloria!“ schrie Kingscourt begeistert.

Friedrich drückte ihm bewegt die Hand: „Und er sitzt jetzt am Sterbebett seiner Mutter… Soll man es ihm telegraphieren?“

„Nee, mein Junge. Wir wollen was Jescheiteres tun. Der arme Kerl hat jetzt jenug Aufregung mit seiner Mutter. Wozu sollen wir ihn noch mit der Wahl quälen. Am Ende wird er jar nicht jewählt. Nehmen wir lieber den nächsten Zug nach Tiberias. Bis die hier mit der Wahl fertig sind, können wir dort sein. Dann treten wir ein und fragen einfach: Wohnt hier der Präsident der neuen Jesellschaft, Herr Littwak?“

Reschid Bey wurde ins Vertrauen gezogen. Er solle ihnen das Resultat der Wahl schleunigst nach Tiberias telegraphieren. Den Aufenthaltsort Davids möge er aber bis nach der Wahl geheimhalten.

Im Affenkäfig wurde die Kandidatur Davids mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Grün und Blau machten schauerliche Witze.

Grün sagte: „Wer littwakt — gewinnt.“

Blau erklärte: „Wenn ich das nächstemal auf die Welt komm‘, werd‘ ich auch der Sohn von ä Hausierer.“

Herr Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein, meinte mißmutig: „Nu frag‘ ich Sie, kann man in eine solche Gesellschaft eintreten? Das nennt sich die neue Gesellschaft.“

„Und wissen Sie, was wir sind?“ rief plötzlich Schiffmann, in dem eine Reue mächtig aufstieg. „Wir sind — eine schöne Gesellschaft.“

 

Sechstes Kapitel

Als Kingscourt und Friedrich in den Gasthof kamen, um Frau Sarah und Fritzchen auf die Reise abzuholen, waren diese schon fort. Frau Sarah war ihrem Gatten mit dem nächsten Zuge nachgeeilt. Es ging aber gleich wieder ein Express nach Tiberias, und diesen benützten die Freunde. Im Wagen der elektrischen Eisenbahn sitzend, schauten sie in die Landschaft hinaus, die vorüberflog, und sie hielten auch eine Rückschau über die bisher wahrgenommenen Einrichtungen von Altneuland.

Kingscourt war sehr überrascht, als Friedrich im Eifer dieses Gespräches plötzlich sagte: „Ich möchte nach Europa hinüber.“

„Was, Sie launenhafter Schlingel? Nun haben Sie das Land Ihrer hebräischen Ahnen schon wieder satt bekommen?“

„Nein, mein lieber Kingscourt. Ich bin zu froh, daß Sie hierbleiben wollen, und daß ich wenigstens noch versuchen kann, ein nützliches Mitglied der neuen Gesellschaft zu werden. Vielleicht kann ich meine juristischen Kenntnisse irgendwie verwerten? Vielleicht bekomme ich in irgendeinem Zweige der Verwaltung eine Arbeitsgelegenheit? Aber ich möchte dennoch für kurze Zeit nach Europa hinüber, um zu sehen, wie sich die Verhältnisse seither dort gestaltet haben. Ich kann mir nämlich gar nicht vorstellen, daß in den zwanzig Jahren unserer Abwesenheit nicht auch dort große Veränderungen eingetreten seien. Wenn ich bedenke, daß wir hier eigentlich nur die schon damals bekannten Materialien in einer neuen Ordnung wiedergefunden haben, so muß ich glauben, daß ähnliches wie hier auch dort existieren muß. Die Worte des Akademikers Marcus brachten mich auf diesen Gedanken. Er sagte: wir sind kein Staat, sondern eine große Genossenschaft…“

„Die Jenossenschaft mit dem endlosen Ideal!“ schmunzelte Kingscourt.

„Ich frage mich nämlich“, fuhr Friedrich ernst fort, „ob wir da nicht bei einer Antwort auf manche Frage unserer vergangenen Zeit stehen. Damals sprach man viel vom Zukunftsstaate, qualmig taten es die einen, höhnisch die anderen, grimmig die dritten. Das Ausmalen künftiger Zustände war in den Augen der sogenannten praktischen Leute eine große Lächerlichkeit. Sie vergaßen, daß wir immer in künftigen Zuständen leben, denn das Heute ist die Zukunft von gestern. Man sah den unmöglichen Zukunftsstaat nur auf den unwahrscheinlichen Trümmern der bisherigen Einrichtungen. Also ein Weltuntergang, an den wirklich nur ein Hasenfuß glauben kann. Zuerst ein Chaos, und dann irgend etwas, von dem es fraglich blieb, ob es besser wäre als das Frühere. Aber derselbe Marcus sprach neulich ein Wort, welches mir nachgeht: daß es eine Koexistenz aller Dinge gebe. Das Alte muß nicht mit einem Ruck untergehen, damit das Neue entstehe. Nicht jeder Sohn ist ein Posthumus, in der Regel leben die Eltern noch eine Zeitlang mit den Kindern fort, und eine alte Gesellschaft geht noch nicht unter, weil eine neue kommt. Seit ich hier gesehen habe, wie man mit lauter alten Materialien eine neue Ordnung der Dinge errichtet, glaube ich weder an eine völlige Zerstörung, noch an eine völlige Erneuerung der Institutionen. Ich glaube — wie soll ich es nur sagen — an einen allmählichen Umbau der Gesellschaft. Ich glaube auch, daß ein solcher niemals planmäßig, sondern zufällig vor sich geht. Das Bedürfnis ist der Baumeister. Zur Auswechslung eines Fußbodens, einer Stiege, einer Mauer, eines Daches, einer Wasserleitung, einer Beleuchtungsform entschließt man sich erst, wenn die Not drängt oder eine Erfindung siegt. Das Haus bleibt als ganzes, was es war. So kann ich mir auch den Staat, den wir einst sahen, erhalten denken, auch wenn das Neue hinzukam. Und dies möchte ich in Europa suchen … Als wir damals von der Kulturwelt Abschied nahmen, sahen wir schon überall neue Lebensformen aufsprießen. Ich verstehe das Stockton-Darlington-Jubiläum. Damit hat alles angefangen. Es ist die Feier der Entstehung einer anderen Zeit. Wie lange war diese da, neben der früheren, sie durchdringend, von ihr durchdrungen — und die klugen praktischen Leute sahen davon noch gar nichts. Die Grenzen bestanden fort, aber die Menschen und Waren durchzogen die Welt. Und wo kam man mit den Maschinen und auf der Eisenbahn überall hin! In andere Verkehrs-, in andere Wirtschaftsverhältnisse. Das Alte lebte noch, und das Neue war schon da. Die Genossenschaft der Kleinen, das Kartell der Großen — die beiden Formen kannten wir schon. Warum sollten sich nicht auch die Genossenschaften kartellieren, wenn es die einzelnen Fabrikanten tun konnten? … Es kam schon früher vor, daß vernünftige Unternehmer die Fürsorge für ihre Arbeiter und deren Familien übernahmen. Jede große Fabrik hatte ihre Wohlfahrtseinrichtungen, je größer das Unternehmen, um so größer konnte die Wohlfahrt eingerichtet sein. Die Kartelle wieder konnten, wenn sie wollten, das Los ihrer Arbeiter freundlicher gestalten, weil sie mehr Mittel hatten als der einzelne Fabrikant und weil sie sturmfester organisiert waren. Das weiß ich aus Ihren eigenen Erzählungen, Mr. Kingscourt. Die amerikanischen Trusts haben ja Sie mich kennen gelehrt.“

„Janz richtig. Und wo wollen Sie raus?“

„Ich meine, daß es eine notwendige Entwicklung war, wenn die Produktivgenossenschaft sich gegenüber dem Einzelunternehmen bildete. Das Betriebskapital war ursprünglich die schwache Seite dieser Genossenschaft, aber die Möglichkeit, auch den Konsum zu organisieren, war ihre starke Seite. Und die Genossenschaften mußten wachsen mit der allgemeinen Bildung. Und ich meine endlich, daß die großen Trusts wohltätig wirken mußten, weil sie den Weg bahnten zur Organisierung der Arbeit. Die Genossenschaften konnten sich nach diesem Beispiel einmal kartellieren. Die neue Gesellschaft, die wir hier gesehen haben, ist in meinen Augen nichts als ein Kartell von Genossenschaften. Ein großes Kartell, das alle Geschäfte in sich macht, die gemeine Wohlfahrt im Auge hat und aus lauter Nützlichkeit auch, das Ideal pflegt. Ich möchte nun sehen, ob dergleichen jetzt auch schon in Europa vorhanden ist.“

„Wollen Sie vielleicht jar sagen, daß so ’ne neue Jesellschaft auch anderswo möglich ist?“

„Ja, das will ich sagen. Diese neue Gesellschaft könnte überall existieren, in jedem Lande, ja, es kann in jedem Lande mehrere solcher Genossenschaftskartelle geben. Der Übergang zu dieser Form der Wirtschaft ist ja denkbar, wenn es Genossenschaften und Kartelle gibt. Dabei braucht der alte Staat keineswegs aufzuhören, er besteht vielmehr fort und schützt die Entwicklung der neuen Gesellschaft, die ihm ja zugute kommt, die ihn stärkt und erhält. Das ist die Koexistenz der Dinge, und daran glaube ich…“

Da waren sie in Tiberias angelangt.

Sie eilten vom Bahnhof nach der Villa des alten Littwak. Ein Diener, der sie an der Tür empfing, antwortete auf ihre Frage nach dem Befinden von Davids Mutter mit einem traurigen Kopfschütteln. Zugleich übergab er Kingscourt eine dringende Depesche, sie war soeben eingetroffen.

Kingscourt riß das Papier auf, indem er Friedrich bedeutsam anblickte. Und wirklich, da stand es zu lesen:

„David Littwak ist vom Kongresse mit 363 von 395 abgegebenen Stimmen zum Präsidenten der neuen Gesellschaft gewählt worden. Reschid.“

Sie stiegen die Treppe hinan und kamen in den Salon, an den das Krankenzimmer grenzte. Im Salon saß der alte Littwak mit Frau Sarah. Die Tür stand offen, und sie konnten in die Leidensstube blicken. Sie sahen Davids Mutter im Bett liegen. Das Antlitz der Dulderin war schon so bleich wie das Kissen, von dem es sich abhob, doch sie lebte noch. Ihre sanften Augen waren mit einem unendlich liebreichen Ausdruck auf ihre Kinder gerichtet, die am Fußende des Bettes standen und leise mit ihr sprachen. Der Arzt saß an der Seite des Bettes und betrachtete sie aufmerksam.

Kingscourt gab wortlos die eben erhaltene Depesche dem alten Littwak. Dieser nahm das Papier teilnahmslos, starrte darauf, dann gab es ihm einen Ruck. Er wischte sich die Augen mit dem Handrücken und las nochmals. Dann reichte er es seiner Schwiegertochter, seine Stimme zitterte:

„Sarah, les‘ mir das vor!“

Frau Sarah überflog das Telegramm mit den Blicken. Sie wurde blutrot, es schössen ihr die Tränen in den Augen, dann las sie es mit erstickter Stimme dem Alten vor. Dann sprang sie auf, schwang das Blatt hoch und winkte damit ihren Mann heran.

David kam auf den Fußspitzen heraus. Er sah Kingscourt und Friedrich im Hintergrunde stehen, da nickte er ihnen kurz und ernst zu. Er wandte sich an Sarah und sagte mit leisem Unwillen:

„Was gibt es denn?“

Sein Vater war aufgestanden und ging mit schwankenden Schritten auf ihn zu:

„David, mein Kind — David, mein Kind!“

Die Frau hatte ihm das Telegramm gereicht. Er las es ruhig und runzelte die Stirn:

„Nein, daß Reschid solche Scherze macht, hätte ich nicht geglaubt! Ich bin wahrlich dazu nicht aufgelegt.“

„Es ist kein Scherz!“ erklärte Friedrich und berichtete den Hergang, soweit er dessen Zeuge gewesen war.

„Nein, nein!“ sagte David. „Wie komme ich dazu? Es ist ja gar nicht möglich. Ich habe mich nicht beworben.“

„Eben darum!“ bestätigte Kingscourt.

„Ich eigne mich nicht dazu. Hundert andere sind eher berufen als ich. Und ich nehme es auch nicht an. Bitte, telegraphieren Sie gleich an Marcus, daß ich es nicht annehme.“

Da sagte sein Vater stark:

„Du wirst es annehmen, David! Du mußt es annehmen — wegen deiner Mutter. Es ist die letzte Freude, die du deiner Mutter machen kannst.“

David bedeckte sich die Augen.

Mirjam trat aus dem Krankenzimmer:

„Was geht hier vor? Die Mutter ist unruhig; sie will wissen, was hier vorgeht.“ Und sie gingen an das Lager der Sterbenden.

„Mutter!“ sagte der alte Littwak, „der Herr Doktor Löwenberg hat uns etwas Gutes gebracht.“

„Ja?“ hauchte die Dulderin, ihre Züge verklärten sich. „Wo ist er? Ich will ihn sehn. Man soll mich aufrichten.“

Der Arzt holte Friedrich aus dem Salon, während Mirjam und David ihre Mutter aufsetzten und ihren schmalen Rücken mit Kissen stützten.

Nun stand auch Friedrich an dem Bett. Die Mutter blickte ihn so gut an. Sie murmelte:

„Ich — hab‘ — mir’s — gleich gedacht — damals — wie ihr — am Balkon war’s… Da draußen… Kinder!…“ Sie tastete schwach in der Luft herum. „Mirjam hat mir — nichts gesagt… Aber — eine Mutter — sieht das … Kinder!… Ihr sollt euch — die Hand geben… Meinen Segen — meinen Segen!“

Und so geschah es, daß Mirjam und Friedrich einander die Hände reichten. Aber sie taten es so zögernd und verlegen, daß es ihr auffiel. Da blickte sie mit Angst von einem zum anderen und flüsterte:

„Oder — oder? …“

„O ja!“ sagte Friedrich warm und drückte die Hand des Mädchens fester. „Ja“, sagte auch Mirjam leise.

So wahr ist es, daß eine Mutter, auch wenn sie schon ganz schwach und hilflos ist, noch immer die Kraft hat, ihres Kindes Glück zu schaffen.

Sie lehnte nach dieser großen Anstrengung mit geschlossenen Augen in den Kissen und atmete kaum noch. Da erschrak der Alte, daß sie entschlummern könnte, bevor er ihr die Größe ihres Sohnes gemeldet hätte.

„Mutter!“ schrie er laut. Sie öffnete noch einmal die Lider, und es war ein Bedauern in ihrem Blick, daß man sie in dem schönen Traum störe, den sie fein hinüberspinnen wollte — hinüber …

„Mutter!“ rief der Alte. „Wir müssen dir sagen etwas Großes. Weißt du, wer geworden ist der Präsident von der neuen Gesellschaft? … Unser David ist geworden der Präsident! Mutter, unser David!…“

Da lag David wie als Knabe auf den Knien vor seiner kranken Mutter und weinte bitterlich auf ihre wachsbleiche, erkaltende Hand. Sie aber zog die Hand hervor und streichelte ihm sanft das Haar, als ob sie ihn hätte im voraus trösten wollen.

„Mutter!“ rief der Alte noch einmal angstvoll, „hast du gehört?“

„Ja!“ hauchte sie, „mein — mein David…“

Und ihre Augen brachen.

Man begrub sie.

Man sang die alten hebräischen Gesänge, und der gute Rabbi Samuel von Neudorf sprach die Gebete. Es wurde keine Grabrede gehalten. David hatte es nicht gewünscht.

Aber als er mit den Freunden vom Friedhofe kam und im Trauerzimmer niedersaß, da hielt er selbst ihr den Nachruf:

„Sie war meine Mutter. Sie war für mich die Liebe und das Leiden. Die Liebe und das Leiden waren in ihr verkörpert, so daß mir die Augen übergingen, wenn ich sie nur sah. Ich werde sie nicht mehr sehen, und sie war meine Mutter. Sie war unser Haus und unsere Heimat, als wir nicht Haus noch Heimat hatten. Sie hielt uns aufrecht, als wir im Elend waren, denn sie war die Liebe. Sie lehrte uns Demut, als es uns besser ging, denn sie war das Leiden. Sie war in bösen und guten Tagen die Ehre, die Zierde unseres Hauses. Als wir so arm waren, daß wir auf Stroh lagen, da waren wir doch reich, weil wir sie hatten. Sie dachte immer an uns, und nie an sich. Unser Haus war nur eine kümmerliche Stube, und es barg einen Schatz. Mancher Palast hat keinen solchen Schatz. Das war sie, die Mutter. Sie war eine feine Dulderin. Das Leiden beugte sie nicht, es erhöhte sie. Da habe ich sie manchmal angeschaut als das Judentum in der Zeit der Leiden. In ihrer Gestalt sah ich es. Sie war meine Mutter — und ich werde sie nicht mehr sehen. Nie mehr, Freunde! Nie mehr. Und ich muß es tragen…“

Die Freunde hörten seinem Schmerze zu, und sie schwiegen.

Allmählich kamen ihrer mehr herein in das Trauergemach. Es waren alle da, welche David Littwak und seinem Hause näherstanden.

Dr. Marcus begann das Gespräch hierhin und dorthin zu führen. Es war erkennbar, daß er Davids Gedanken ablenken, ins Leben zurückgeleiten wollte. Die Reden hatten einen ernsten und hohen Zug.

In dieser Stimmung warf Friedrich Löwenberg die Frage auf, die sie nacheinander beantworteten. Jeder tat es in seiner Weise.

Dies aber war die aufgestellte Frage:

„Wir sehen hier eine neue, eine glücklichere Form des Zusammenlebens von Menschen — wer hat das nun geschaffen?“

Der alte Littwak sagte: „Die Not!“

Architekt Steineck sagte: „Das wiedervereinigte Volk!“

Kingscourt sagte: „Die neuen Verkehrsmittel!“

Dr. Marcus sagte: „Das Wissen!“

Joe Levy sagte: „Der Wille!“

Professor Steineck sagte: „Die Naturkräfte!“

Der englische Prediger Hopkins sagte: „Die gegenseitige Duldung!“

Reschid Bey sagte: „Das Selbstvertrauen!“

David Littwak sagte: „Die Liebe und das Leiden!“

Der alte Rabbi Samuel aber stand feierlich auf und sagte: „Gott!“

Ende.

 

Nachwort des Verfassers

… Wenn Ihr aber nicht wollt, so ist es und bleibt es ein Märchen, was ich Euch erzählt habe.

Ich gedachte, eine Lehrdichtung zu verfassen. Mehr Dichtung als Lehre! werden die einen sagen – mehr Lehre als Dichtung! die anderen.

Denn jetzt, nach drei Jahren der Arbeit, müssen wir uns trennen, und es beginnen deine Schmerzen, du mein liebes Buch. Durch Feindschaften und Entstellungen hindurch wirst du deinen Weg nehmen müssen, wie durch einen finsteren Wald.

Wenn du aber zu freundlichen Leuten kommst, so grüße sie von deinem Herrn Vater. Er meint: das Träumen sei immerhin auch eine Ausfüllung der Zeit, die wir auf der Erde verbringen. Traum ist von Tat nicht so verschieden

 

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