Tripolis, 5.-7. November 1945 – Ein vergessener Pogrom
Von Martin Klein
Simon Wiesenthal, der mehrere Konzentrationslager überlebt hatte und fortan in einem kleinen Büro in Wien bis zu seinem Lebensende Nazi-Verbrecher wie Adolf Eichmann aufspüren half, veröffentlichte 1988 ein „Gedenkbuch des Grauens“:
An jedem Tag jeden Jahres — vom 1. Januar bis zum 31. Dezember— wurde er mehrmals fündig! Am meisten haben dafür natürlich Deutsche gesorgt, aber nicht nur! Für den hier interessierenden Zeitraum 5.-7. November existieren 27 Vermerke: Daraus zwei Beispiele: Chmielnicki- Kosaken belagerten am 5. November 1648 die polnische Stadt Zamosc, viele der Einwohner, die meisten Juden, verhungerten. Am 7. November 1941 führten deutsche Polizeikräfte 15.000 Juden aus Wolhynien (heute Ukraine) in einen nahegelegenen Kiefernwald und erschossen sie.(1)
Nichts aber erfahren Leserinnen und Leser von dem oft grausamen Schicksal der in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas seit Urzeiten – und somit lange vor der Entstehung des Islam— lebenden etwa 800.000 misrahischen Juden, von denen über 99 % aufgrund unhaltbarer Zustände auswandern mussten, flohen oder vertrieben wurden. Die wenigsten dürften aus rein zionistischen Motiven gegangen sein, weil dies jeder Lebenserfahrung widerspricht.
Und hier sind die Ereignisse in Tripolis/Libyen am 4. bis 7. November 1945 ein wichtiges Beispiel – keineswegs das einzige.
Archäologische Ausgrabungen beweisen eine jüdische Existenz in Lybien schon vor der Zerstörung des ersten Tempels—also 586 vor Christus. 1911 okkupierte Italien Tripolis. Diskriminierende Rassengesetze von 1941 unter der jetzt faschistischen italienischen Regierung erwecken judenfeindliche Gefühle der muslimischen Bevölkerung. Im Februar 1942 deportieren die Deutschen 2600 Juden in die Wüste von Giado, 560 von ihnen verhungern. Manche Muslime allerdings halfen verfolgten Juden.(2)
1943 wurde klar, dass die alliierten Kräfte die Oberhand erreichen und den Krieg gewinnen würden, die “Befreiung“ Arabiens vom Zionismus und dem britischen und französischen Kolonialismus durch die Achsenmächte -im wesentlichen Deutschland und Italien- war illusorisch geworden. Bis zum Januar 1943 hatten die Briten Libyen besetzt, was die muslimische Feindschaft gegenüber Juden nicht milderte. Die Gründe hierfür bestanden wohl aus einer Mischung von arabischem Nationalismus und dem schon seit dem Koran religiös begründeten Antisemitismus (wobei nicht verschwiegen werden sollte, dass es im Koran auch positive Aussagen über Juden gibt). Allerdings waren diese in der muslimischen Welt und unter muslimischen Herrschern „schutzbefohlene“ unterdrückte Menschen zweiter Klasse, die zum Beispiel keine Waffen tragen durften und auch in anderer Hinsicht keineswegs gleichberechtigt waren.
Hinzu kam die italienische und vor allem deutsche faschistische Einflussnahme unter anderem in Form geschickter antijüdischer Propaganda. So sendete der „Weltrundfunksender Zeesen“ (bei Berlin), von 1939-1945-täglich Beiträge in arabischer Sprache, die antisemitische Elemente aus der islamischen Tradition mit nationalsozialistischer Ideologie verband und zum Mord an den Juden aufrief. Es ist davon auszugehen, dass diese tägliche braune Hetze viele Menschen in der arabischen Welt stark beeinflusste und den muslimischen Antisemitismus weiter akzentuierte.
In Ägypten hatten die ebenfalls den Nazis wohlgesinnten radikalen Muslimbrüder inzwischen 1 Million Mitglieder und die Palästina- Frage sorgte für zusätzliche antizionistische Kulmination. Die ersten Aufstände und Massendemonstrationen ereigneten sich am 2. November 1945 (Jahrestag der Balfour Deklaration von 1917) in Ägypten, einige Juden verloren in Alexandria ihr Leben.
Am 4. November 1945, also gerade einmal ein halbes Jahr (!) nach dem schlimmsten von Menschen begangenen Verbrechen an einer wehrlosen Minderheit, kam es am Abend zunächst zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe von Juden und einer arabischen Schlägerbande. Danach wurden das jüdische Viertel von Tripolis und die ganze Stadt von einem Pogrom beispielloser Barbarei heimgesucht. Von wahnsinnigen Gerüchten genährt (die Juden hätten den obersten Kadi getötet, den Sitz des Sharia Gerichts in Brand gesteckt … ) breitete sich die mörderische Welle anschließend auf benachbarte Orte aus und Tausende schlossen sich den Aufrührern an, die völlig ungehindert mordeten und vergewaltigten.
Von einem spontanen Aufstand konnte keine Rede sein, denn in den gemischten Wohngegenden hatten die „Aufständischen“ keine Schwierigkeit, jüdischen und anderen Besitz zu unterscheiden; die Türen waren vorher mit Kreide und entsprechenden Schriftzeichen („Jew, Italian, Arab“) markiert worden. Die Welle des Hasses hatte somit keine antikolonialistische Färbung, da nur Juden und jüdischer Besitz angegriffen wurde; es gab auch keine feindlichen Parolen gegen die britische Präsenz.
140 Tote, darunter 36 Kinder fielen dem Massaker zum Opfer. Das sind die offiziellen Angaben, vielleicht waren es aber auch weit mehr, denn die Vermutung liegt nahe, dass weder die Briten, noch arabischen Führer großes Interesse an der Veröffentlichung hoher Opferzahlen hatten. Ganze Familien waren gefoltert, lebendig verbrannt oder auf andere Art abgeschlachtet worden, Hunderte verletzt, zahlreiche Frauen vergewaltigt, man hatte so gut wie sämtliche Synagogen der Region geplündert, 4000 Juden wurden obdachlos.
Der Oberkadi und der Mufti von Tripolis bezeichneten das Massaker als ein „unangenehmes Ereignis“.
Die britischen Verantwortlichen blieben völlig untätig und verhängten viel zu spät eine Ausgangssperre. Der ihr unterstellten jüdischen Brigade verbot man, ihre Baracken zu verlassen, weil man wohl Angst hatte, die arabischen Massen gegen sich aufzubringen. Ein zorniger US-Air-Force Sergeant bezeugte in einem persönlichen Brief, dass die viel zu spät verhängte Ausgangssperre die Gewalt schließlich stoppte. Tatsächlich hätten nach seiner Meinung die Gefechte in exakt 5 Minuten (five minutes flat) beendet werden können; ein einziger Gewehrsschuss— nur um den Arabern zu zeigen, dass die Briten entschlossen waren, die Juden zu schützen, hätte das ganze Blutvergießen beendet … Er wiederholt diesen Satz —die Briten hätten leicht den Aufruhr in exakt 5 Minuten beenden können— in seinem Schreiben.(3)
Die militärische Verwaltung, die somit zu Beginn einen entsetzlichen Mangel an Betroffenheit demonstriert hatte, bewertete das Geschehen schlicht als Folge des zunehmenden Zionismus, dabei seine eigene antizionistische Propaganda vergessend.
Eine überlebende Augenzeugin des Massakers, Lillo Arbib, bekräftigte allerdings, dass die Engländer den Arabern 4 Stunden zugebilligt hätten, um das zu tun, was sie mit den Juden tun wollten…(4)
Vor 1948 lebten etwa 1 Million Juden in arabischen Ländern sowie der Türkei und dem Iran. 99 % mussten auswandern, fliehen oder wurden vertrieben, die meisten gingen nach Israel. Von da an konnten sie sich wenigstens verteidigen.
Anmerkungen:
(1) Simon Wiesenthal. Jeder Tag ein Gedenktag. Chronik jüdischen Leidens, Gerlingen 1988, S. 255-257.
(2) Moïse Rahmani, L´exode oublié. Juifs des Pays arabes. Éditions raphaël 2003, S.242-24).
(3) Nathan Weinstock. Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947 bis 1967. Freiburg 2020 S. 89f./ Norman Stillman. The Jews of Arab Lands in modern Times. Philadelphia 1991, 142-145.
(4) Moïse Rahmani, L´exode oublié. Juifs des Pays arabes. Éditions raphaël 2003, S.246-247).



