„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist ein französisch-deutscher Spielfilm über die Idee eines langsamen Verschwindens des KZ-Arztes Josef Mengele, der in Auschwitz Zehntausende in die Gaskammern schickte und gebrechlich gezeigt wird bis zu seinem einsamen Tod.
Von Gaston Kirsche
In einer kürzeren Version zuerst erschienen in: Jungle World v. 23.10.2025
Der „Todesengel von Auschwitz“, wie ihn Überlebende nannten, der Zehntausende an der Rampe von Auschwitz selektierte und in die Gaskammern, die Zwangsarbeit oder für seine Menschenversuche in die Baracken schickte, lebte 30 Jahre, bis zu seinem Tod, in Freiheit in Südamerika: SS-Hauptsturmführer Josef Mengele – im Film mit dem Changieren zwischen autoritärem Herrenrasse-Rigorismus und weinerlichem Selbstmitleid überzeugend gespielt von August Diehl, der schon in Inglourious Basterds den Gestapomajor Dieter Hellstrom darstellte. Viel wurde über Mengele geschrieben, spekuliert, jetzt kommt also der elfte Film in die Kinos: „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Kirill Serebrennikow.
Der Plot des Films folgt den Aufenthaltsorten von Mengele. Zuerst lebt er unter dem Namen Gregor in Buenos Aires. Unterstützt durch ein Netzwerk aus alten Nazis, Sympathisanten und finanziert von seiner reichen Familie, gelingt es ihm über Jahre hinweg, der internationalen Justiz zu entkommen. Und dem Mossad, vor dem er im Film am meisten Angst hat. Nachdem Adolf Eichmann 1961 vom Mossad in Argentinien gefasst und nach Israel entführt wird, wandert Mengele nach Paraguay aus, bis er von dort nach wenigen Jahren nach Brasilien geht, wo er zuletzt unter falscher Identität in São Paulo lebte. Dem körperlichen Alterungsprozess, der als Verfall dargestellt wird, steht das beharrliche Festhalten an der nationalsozialistischen Ideologie gegenüber.
Selbst sein 1944 geborener Sohn Rolf (Max Bretschneider) bekommt, als er Josef Mengele 1977 in São Paulo besucht, viel zu hören über den Auftrag der deutschen Herrenrasse, sich im Kampf der Völker zu behaupten, die großartige deutsche Kultur – Beethoven! Wagner! – verteidigen zu müssen gegen die „verrottete amerikanische Kultur mit ihren Hippies und Negern“. Als sein Sohn ihn um Tabletten gegen Schüttelfrost bittet, erklärt er nur kurz angebunden: Er habe keine, um dann fortzufahren mit seinem nationalsozialistischen Monolog. Recht dick aufgetragen das Ganze, aber Mengele wirft seinem Sohn auch immer wieder vor, ein Weichei zu sein, ohne Ehrgeiz und Ziele im Leben. Dabei ist der Sohn bei seiner Mutter Irene Mengele (Dana Herfurth) in Deutschland aufgewachsen, sie ist 1949 nicht mit auf die Flucht über die Rattenlinie nach Argentinien gegangen.
Der Sohn Rolf hat zwar den Kontakt zur Familie Mengele abgebrochen, ist aber zu seinem Vater nach Brasilien gereist, als der ihm schrieb, er überlege, sich umzubringen. Auf seine Frage, was hast du in Auschwitz gemacht, antwortet Josef Mengele nicht: „Du wirst doch nicht den Lügen der Juden glauben! Überhaupt, Juden … schau mal den Moskito da an der Wand – der will dich aussaugen. Den würdest du doch auch zerquetschen, wenn er sich an deinen Hals setzen würde.“ Den eliminatorischen Antisemitismus des Nazis propagiert Mengele unverdrossen. Ein andermal herrscht er seinen Sohn Rolf Mengele an: „Bist du etwa Kommunist?“ Um ihm dann einen Vortrag zu halten, die Abstammung sei das Wichtigste, und die Familie zu ehren.
Dann changiert er wieder ins Weinerliche, beklagt sich, in was für einem Drecksloch er wohnen müsse, die Familie würde ihn kaum noch mit Geld unterstützen. Zweimal sei er fast gestorben, der Mossad immer hinter ihm her, und dann die Arthritis, die Schmerzen.
Dabei hat der Film durch die Kameraführung von Vladislav Opelyants eine angenehm unkonventionelle Bildersprache: Alles wird angeschnitten, jeder Bildausschnitt ist wohl gewählt und passt zu dem, was gerade erzählt werden soll. Zwischen Nahaufnahmen und Halbnahen wird etwa schnell gewechselt, wenn Mengele einen Boulevard entlang hastet, dabei vor einer Gruppe jüdischer Passanten mit Kippa zurückschreckend. Bei der Filmmusik stören die dramatisierend-kommentierenden einzelnen dunklen Töne, welche die Inszenierung als sozialer Abstieg noch zusätzlich betonen.
Der Film übernimmt von dem gleichnamigen Roman von Olivier Guez, auf dem er basiert, die spekulative Darstellung des sozialen Abstiegs. Josef Mengele habe sich immer auf der Flucht vor dem Mossad gefühlt, gehetzt, und sei zusehends verarmt – von der herrschaftlichen Villa in Buenos Aires mit besten Kontakten in die lokale Bourgeoisie über eine Tätigkeit als Verwalter auf einer Fazenda in Araraquara, bereits in Brasilien, bis hin zu einem einfachsten Haus ohne fließendes Wasser, mit dreckigen Wänden, in einer Favela von São Paulo.
„Wir schauen dem Übermenschen bei seiner Auflösung zu“, erklärte Guez zu dem Film: „Er ist alt, er ist lächerlich. Und sein Körper verschwindet.“ Was vielleicht den Reiz des 2018 erfolgreichen Romans ausmacht, ist aber auch im Film – reine Fiktion – außer, dass auch Nazis altern. Der Film hat eine reine Täterperspektive, was weder über zwei Stunden lang trägt, noch versucht, den Opfern gerecht zu werden.
„Der Roman von Olivier Guez war unser Hauptleitfaden“, erklärte der Regisseur und Drehbuchautor Kirill Serebrennikow, aber es gäbe nur sehr wenig visuelle Dokumente über Mengele in Südamerika: „Den Rest mussten wir erfinden“.
Dabei gibt es einige Ungereimtheiten in dem Film: Josef Mengele kramt aus einer kleinen Schachtel zusammengefaltete Artikel über sich heraus, um seinem Sohn zu sagen: Alles Lügen! Ein Bücherregal fehlt völlig in dem ärmlichen, spartanisch eingerichteten Haus. Wie passt dies damit zusammen, dass Josef Mengele zahlreiche Tagebücher und über 3.500 Blatt biografische und allgemeinpolitische Aufzeichnungen hinterlassen hat?
Wer sich ein wenig mit der mächtigen deutschstämmigen Bourgeoisie und Oligarchie in Südamerika beschäftigt hat, weiß außerdem: Die halten zusammen, besonders die ehemaligen Nazis unter ihnen. In São Paulo nahm etwa 1961 Wolfgang Gerhard vom „Kameradenwerk“ Mengele auf und beschäftigte ihn in seiner Druckerei – nur fand der die Arbeit dort nicht abwechslungsreich genug und so wurde er Verwalter einer landwirtschaftlichen Fazenda. Diese kommt in dem Film ausführlich vor, allerdings auch ebenso spekulativ wie ambivalent: Einerseits unterstützen ihn seine Nazi-Kameraden dabei, sich dort zu etablieren, andererseits kann Mengele es nicht lassen, der ungarischen Familie gegenüber, der das Landgut wie ihm zur Hälfte gehört, den nationalsozialistischen Herrenmenschen zu geben – und beendet durch seinen NS-Fanatismus die Kooperationsbereitschaft der ungarischen Familie.
Im Film ein weiterer Meilenstein seines unaufhaltsamen sozialen Abstiegs. Bei der Vehemenz, mit der diese Entwicklung inszeniert wird, irritiert die Ungenauigkeit, mit der die Gesellschaft in Argentinien und Brasilien dargestellt wird: Da wird der Militärputsch in Argentinien, der im März 1976 stattfand, auf die Fernsehnachrichten während des Besuchs von Rolf Mengele 1977 verlegt. Den Dialogen in der Landessprache ist anzumerken, dass Spanisch und Portugiesisch dabei munter durcheinanderpurzeln. Was auch nicht verwundert, wurden doch diese Sequenzen allesamt im – spanischsprachigen – Uruguay aufgenommen. Seine stärksten Szenen hat der Film da, wo Mengele mit Deutschen unter seinesgleichen ist: Bei der Nachfeier seiner zweiten Hochzeit 1958 in Buenos Aires, wo sich alte Kameraden selbstsicher gegenseitig versichern, wie erfolgreich sie mit ihren Geschäften in Argentinien seien – und auf eine Wiederauferstehung des Deutschen Reichs hoffen.
1956 konnte Mengele unbehelligt bei der Botschaft der BRD einen neuen Reisepass auf seinen richtigen Namen bekommen und nach Westdeutschland einreisen, weil noch kein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Sehr überzeugend wird der Besuch von Josef Mengele bei seiner Familie in der bayrischen Kleinstadt Günzburg gezeigt: Du kannst ruhig zurückkommen, wir haben die Stadt unter Kontrolle. Niemand sagt hier in Günzburg etwas gegen einen Sohn aus der Familie, welche der Stadt Arbeit gibt. Mengele Agrartechnik war nach dem Anschub durch die NS-Zwangswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland sehr erfolgreich. 1958 wurde etwa der Miststreuer Doppel-Trumpf vorgestellt, der das erfolgreichste Produkt von Mengele wurde und im Vorstellungsjahr zur Verdoppelung des Umsatzes führte.
Die Kamera wechselt beim Zusammentreffen der Männer der Mengeles auf ihrem Familiensitz in die Totale. An einem großen Tisch im dunkel getäfelten Esszimmer wird schneidig kurz gesprochen. Kein überflüssiges Wort. Abfragen, Ansagen, Vergewisserung. Der Name Bundesrepublik sei doch lächerlich, für das, was das Deutsche Reich war, verkündet der Patriarch Karl Mengele (Burghart Klaußner) seinen Söhnen. Du, Josef, wirst Martha heiraten, die Witwe deines verstorbenen Bruders. Zum Glück bist du das Luder Irene losgeworden.
Vier Bedienstete laufen um die paar Männer herum, bieten eilfertig Essen und Trinken an, werden mit knappen Gesten herrisch dirigiert. Die Machtverhältnisse, sie sind eindeutig. Deutschnationale Bourgeois, die den Nationalsozialismus unterstützt haben. Josef, du hast doch nur deine Pflicht getan im Lager.
Was er dort getan hat, wird neben den Dialogen in den ansonsten nüchtern wie harten schwarz-weißen Bildern in einer zehnminütigen Farbsequenz überdeutlich: Der Raps blüht gelb, die Sonne leuchtet. Ein Kamerad filmt Josef und Irene Mengele dabei, wie sie an einem Strand herumalbern. Vielleicht kann ich ja heute früher von der Arbeit kommen, meint er. Ich mache dir auch Rippchen, meint sie. Dann stehen Josef Mengele und der filmende Kamerad an der Rampe von Auschwitz, ihre Arbeit. Mengele selektiert. Ein Häftlingschor muss dazu singen. Zwei Menschen mit Verwachsungen im Rückgrat wählt Mengele aus. In seinen Arzträumen vermisst und fotografiert er sie, dann erschießt er sie routiniert im Innenhof. Es wird gezeigt, wie er ihnen die Eingeweide entfernt. Sie werden in große Töpfe gesteckt. Und gekocht wie Tiere, „um das Fleisch zu lösen“, wie Mengele selbst es ausdrückt. Nur die Skelette bleiben übrig. Die werden in Holzkisten verpackt, etikettiert und an das Institut für „Rassenhygiene“ ausgeliefert. Es sind grausame Bilder in einer Splatterfilmästhetik. Unnötig und falsch, dass sie im Film sind. Aus einer Täterperspektive wird gefilmt, wie die Opfer zu namenlosen Objekten entwürdigt werden, keine Persönlichkeiten sind. Zwar problematisiert der Film selbst dies andeutungsweise dadurch, dass der SS-Mann beim Filmen gefilmt wird. Aber der Film würde gewinnen, wenn diese zehnminütige Farbsequenz wegfiele. Die beginnt nach einer Stunde, nachdem Rolf zum zweiten Mal gefragt hat: Was hast du gemacht in Auschwitz.
Das Verschwinden des Josef Mengele (La Disparition de Josef Mengele), Frankreich/Mexiko/Deutschland/Großbritannien/Spanien, 2025, 135 Min., Regie/Buch: Kirill Serebrennikow, Kamera: Vladislav Opelyants; Montage: Hansjörg Weißbrich, Musik: Ilja Demutsky, mit: August Diehl, Max Bretschneider, Dana Herfurth, Friederike Becht, Burghart Klaußner, Mirco Kreibich, David Ruland, Annamária Lang, Tilo Werner. FSK: Ohne Angabe. Seit 23. Oktober im Kino.



