Die Kapitulation Deutschlands ist für viele Inselbewohner*innen im Spielfilm „Amrum“ ein Grund zur Freude – andere trauern. Dazwischen der 12-jährige Nanning, Sohn der fanatischen Nationalsozialistin Hille Hagener.
Von Gaston Kirsche
Eine kürzere Version erschien zuerst in: Jungle World v. 09.10.2025
Sterne, so weit das Auge reicht, bis runter an die Wasserkante von Kniepsand, dem weiten Sandstrand der nordfriesischen Insel Amrum zur offenen See hin. Ein sternenklarer Nachthimmel über der Nordsee, wolkenfrei, der Vollmond geht auf. Der 12-jährige Nanning (Jasper Billerbeck) hat keinen Sinn für dessen Schönheit, er sucht Treibholz, mit dem der Herd befeuert kann. Seine Mutter Hille Hagener (Laura Tonke) ist hochschwanger und kann jede Unterstützung gebrauchen. Im April 1945 sind die 1200 Menschen, die auf Amrum leben, angesichts des beginnenden Zusammenbruchs des Deutschen Reiches noch mehr auf sich selbst angewiesen als sonst.
Ihre Villa in Hamburg wurde von alliierten Bomben getroffen, deshalb ist Hille Hagener mit ihren drei Kindern ins Elternhaus auf Amrum gekommen. Im großen, gut ausgestatteten Kapitänshaus wohnt noch ihre Schwester Ena (Lisa Hagmeister), die den Haushalt schmeißt und die Kinder versorgt. Als Hille aus dem Volksempfänger vom Tod Hitlers erfährt, platzt ihre Fruchtblase, die Wehen setzen ein. Nach der Geburt weigert sie sich, zu essen, beklagt, in was für einer desolaten Welt ohne den Führer ihre Kinder jetzt aufwachsen müssten. Als Ena daraufhin das Hitlerporträt von der Wand nimmt und im Herd verbrennt, beschimpft und beleidigt Hille ihre Schwester, will sie aus dem Haus werfen. Die kontert nur: Dann musst du schon gehen, mir gehört das Haus zur Hälfte.
„Amrum“ nimmt die Perspektive von Nanning ein, wie er sich bemüht, es seiner Mutter recht zu machen, aber sich auch in der Inselgesellschaft zu behaupten. Nicht nur in der Schule, wo er als „Festländer“ ausgegrenzt wird – alles Schlechte kommt vom Festland, erklärt ihm der alte Arjan (Lars Jessen), Opa seines gleichaltrigen Freundes Hermann (Kian Köppke). Sondern auch dabei, sich selbst zu versorgen, andere Amrumer um Unterstützung zu bitten, Lebensmittel zu tauschen. Zusammen mit seinem Freund Hermann hilft er der Bäuerin Tessa (Diane Kruger) bei der Feldarbeit.
Während sie Saatkartoffeln in die von Tessa mit einem Pflug gezogenen Ackerfurchen legen, wird ein Brummen immer lauter: Eine Staffel alliierter Bomber fliegt über sie hinweg auf dem Weg zum deutschen Festland. Als sie kurz vor Amrum etwas in die Nordsee abwerfen, meint Hermann zu Nanning: Ist nur Ballast. Die Szene ist auf einem der wenigen Äcker auf Amrum gedreht, zwischen den Dörfern Norddorf und Nebel. Die Kameraführung ist großartig, die Weite von Landschaft und Himmel kontrastieren wunderbar mit der Feldarbeit. Kurz darauf kommen Flüchtlinge auf einem Sandweg an ihnen vorbei. Die Russen stehen fünfzig Kilometer vor Berlin, die Leute hier kommen aus dem Osten, erklärt Boy Kröger (Siemen Rühaak), der sie mit seinem Trecker anführt, auf Friesisch zu Tessa. Können die den überhaupt deutsch, fragt Tessa auf Friesisch zurück. Zur Begrüßung wird ins Deutsche gewechselt. Dann ist Hitlers Scheiß-Krieg hoffentlich bald vorbei, ruft Tessa noch zu Boy Kröger rüber.
Beim Abendbrot fragt Nanning seine Mutter, ob sein Vater den jetzt kommen würde, der Krieg sei doch bald vorbei? Seine Mutter Hille Hagener empört sich, von wem er das denn gehört habe – so wird den Frontsoldaten in den Rücken gefallen! Willst du das etwa! Nanning windet sich, will Tessa, die ihn unterstützt, nicht verraten. Jasper Billerbeck spielt ebenso wie der andere Junge, Kian Köppke, nicht nur in dieser Szene überzeugend gut, dabei leicht zurückgenommen, selbst wenn es um zwiespältige Gefühle und Ambivalenzen geht.
Die Mutter weiß, dass Nanning mit der Bäuerin Tessa gearbeitet hat – und rennt los, um sie beim NSDAP-Ortsgruppenleiter zu denunzieren. Der kommt am nächsten Tag schneidig in Uniform aufs Feld und kündigt an, Tessa vor ein Standgericht zu bringen. Die verjagt danach wütend Nanning: Für Petzer ist hier kein Platz.
Die Filmhandlung stellt die gegenseitige Hilfsbereitschaft und Kooperation auf der Insel dem das Soziale zerstörenden nationalsozialistischen Fanatismus von Hille Hagener gegenüber. Sprachlich findet das seine Entsprechung darin, dass die Festländer Hochdeutsch sprechen, und die Amrumer unter sich meist Öömrang – die nur auf dieser Insel gesprochene Variante der friesischen Sprache. Die Dialoge dafür hat Jan Quedens geschrieben, der Vorsitzende des Öömrang Ferian, des Amrumer Vereins. Im Kino deutsch untertitelt, ist es eine seltene Gelegenheit, Öömrang zu hören.
Alle Außenaufnahmen, die in der Natur spielen, wurden auf Amrum gedreht. So sind auch die Salzwiesen hinter der ehemaligen Teestube Burg zu sehen, wo im Frühling viele Austernfischer und Gänse brüten. Passenderweise im Vogelschutzgebiet Wriakhörnsee bei Wittdün klaut Nanning einer Gans ihre Eier, um sie einzutauschen. Die Panoramabilder der Natur wie die Nahaufnahmen begeistern mit ihren satten Farben und ihrem Sinn für das Schöne. Wenn Nanning und Hermann hinter einer Düne längs laufen, sind blühende Kartoffelrosen zu sehen, als Nanning durchs Watt zur Nachbarinsel Föhr läuft, um Zucker zu besorgen, leuchtet der Strand im klaren Sonnenschein.
Die einladenden Bilder von Amrum sind zwar etwas geschönt – es regnet nie – passen aber zum Drehmonat Mai. Der Kameramann Karl Walter Lindenlaub hat so im Zusammenspiel mit dem Szenenbildner Seth Turner einen Film gedreht, der einen Kinogang lohnt.
Das prächtige Kapitänshaus, in dem Nannings Familie wohnt, mit einem beeindruckenden Eingangstor aus den Rippen eines Blauwals davor, dem mächtigen Kirchturm aus roten Ziegelsteinen nahe hinter dem Haus, hat der Szenenbildner in Süddänemark gefunden. Warum die Familie ein reicht eingerichtetes Kapitänshaus als Zweitwohnsitz nutzt, wird nicht erklärt. Der Großteil der Bevölkerung Amrums war früher bitterarm, die Inselböden sind zum Großteil für Ackerbau zu sandig. Die wenigsten Amrumer wurden Kapitäne, die meisten mussten sich schon früh als Schiffsjungen verdingen, verrichteten als einfache Besatzung harte, gefährliche Arbeit für wenig Geld auf den Walfangschiffen, um überhaupt einen Lebensunterhalt zu haben. Viele blieben auf See.
Das Drehbuch zu „Amrum“ stammt ursprünglich von Hark Bohm, der in der Coronazeit seine eigene Familiengeschichte aufgeschrieben und sich mit seinen realen Nazi-Eltern auseinandergesetzt hat – geboren in Hamburg, Kindheit in Norddorf auf Amrum. An diesem Ausgangsdrehbuch näher dran als der Film ist wohl der von Hark Bohm mit dem Koautoren Philipp Winkler verfasste Roman „Amrum“, der 2024 erschien. Ausgangspunkt für diesen Roman war die Auseinandersetzung mit dem Vater Hark Bohms. Der heißt in Roman und Film Wilhelm Hagener, real Walther Bohm: 1928 trat er in die NSDAP ein, 1933 in die SS. Er plädierte in hoher Funktion für Straffreiheit bei Kindesmord, sofern der Mord „aus Verzweiflung darüber [erfolgte], bastardiertes Blut ins Leben gesetzt zu haben.“
Während im Buch der Vater nach der Kapitulation nach Amrum flüchtet, ist er im Film unbestimmt abwesend, irgendwo in Haft und nur durch seine rassistischen Bücher präsent. Im Buch kann er, der Blut-und-Boden-Bauernfunktionär, sich am wirklichen Landleben blamieren, etwa wenn das einzige Schwein ausgebüxt ist und er es nicht mit einfangen will. Oder er nicht versteht, was Amrumgold ist, geräucherte Schollen, die einen hohen Tauschwert haben. Im Buch kommen auch Onkel Martin und Onkel Theo nach Amrum – sie sind als Besatzungssoldaten der US-Army in Bremerhaven stationiert und kommen zu Besuch. Nur einer von ihnen taucht im Film kurz auf – Onkel Theo, im Traum, in Zivil. Dessen jüdische Freundin hätten die Nazis im KZ umgebracht, erzählt Sam Gangster (Detlev Buck) Nanning, Theo deshalb nach New York ausgewandert. Im Buch ist Theo selbst als Jude verfolgt worden – und kommt in der Uniform der Sieger zurück. Die schon um 1864 einsetzende Auswanderung von der armen Insel nach „Little Amrum“ in New York hatte und hat eine große Bedeutung. Bei einer Veranstaltung im Öömrang Hus in Nebel auf Amrum hieß es, 1864 fing das ganze Elend an: Nach dem deutsch-dänischen Krieg stand Amrum nicht mehr unter der toleranten dänischen Verwaltung, sondern gehörte seitdem zu Preußen. Viele, die nicht zum preußischen Militärdienst wollten, wanderten nach New York aus. Wo es im Film heißt, in New York leben mehr Amrumer als auf der Insel, da steht im Buch: In der US-Army haben mehr Amrumer gekämpft als in der Wehrmacht.
Dies kommt im Film zu kurz, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wird trivialisiert. Da wundert es nicht, dass Regisseur Fatih Akin in Interviews zum Film gerne schnell von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Volksgemeinschaft überspringt zur heutigen AfD, die er aber immerhin als Nazis bezeichnet. Fatih Akin hat den Drang, es in seinen Filmen plakativ knallen zu lassen. Als Nanning etwa am nächtlichen Strand Treibholz sucht, stößt er auf einen als Wasserleiche entstellten abgeschossenen alliierten Piloten. Eine Szene, die drüber ist, nichts zur Handlung beiträgt, nur spektakelig ist. Davon gibt es leider einige. Dem gegenüber bleibt der Vater durch seine Abwesenheit diffus. So verflacht im Film die im Buch zentrale Auseinandersetzung mit dem Nazivater. Stattdessen wird eine im Buch nicht existente verhinderte Liebesgeschichte angedeutet.
Läuft in vielen Kinos, und täglich bis 2. November im Lichtblick Inselkino, Triihuk 1, 25946 Norddorf auf Amrum.
Amrum, Deutschland 2025, 93 Minuten, Regie: Fatih Akin, Drehbuch: Fatih Akin/Hark Bohm, Kamera: Karl Walter Lindenlaub, Szenenbild: Seth Turner, Schnitt: Andrew Bird, Musik: Hainbach, Schauspieler: Jasper Billerbeck, Laura Tonke, Lisa Hagmeister, Kian Köppke, Lars Jessen, Detlev Buck, Diane Kruger. FSK: 12. Kinostart auf Amrum: 25. September, in Deutschland: 09. Oktober 2025.