Paraschat haSchawua: Dvarim

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Das 5. Buch Moses verdient wegen seiner überragenden Bedeutung eine besondere Einführung. Dass es das 5. ist, bedeutet nicht, dass die fünf Bücher der Tora eine fortlaufende Geschichte bilden. Im fünften Buch wiederholt Moses hauptsächlich, was bereits aus den vorhergehenden vier Büchern bekannt ist, übermittelt uns aber auch neue Erkenntnisse.

Dvarim 5. Moses Kap. 1 – 3, 20 Schabbat, 17. Juli 2021

Ein wichtiges Thema kann man mit „die Interpretation der Bibel“ überschreiben. Seit vielen Jahrhunderten wird darüber diskutiert, wie und ob die überhaupt, die Bibel interpretiert werden darf. Und siehe da, gleich zu Anfang des 5. Buches, Deuteronomium, (Kap. 1, Vers 5) bekundet die Tora, dass Moses selbst die Tora interpretiert.

Jenseits des Jordans im Lande Moab fing Mose an, dies Gesetz (die Tora) auszulegen. Warum er es noch vor dem Einzug in Kanaan für notwendig erachtete, die Tora neu zu erzählen und dabei auszulegen, wird nicht mittgeteilt, möglicherweise meinte er, nicht alle würden verstehen, was in der Schrift steht.

Ein ähnlicher Umstand ergab sich Jahrhunderte später, als die Israeliten aus der Babylonischen Gefangenschaft nach Judäa zurückkehrten (6. Jhd. v.). Die Umgangssprache der rückkehrenden und auch die der zurückgebliebenen Judäer war Aramäisch (die damalige Weltsprache in Mesopotamien). Die Bibel war bekanntlich in Hebräisch verfasst, also wurde am Schabbat in der Synagoge die Parascha (der Wochenabschnitt) in beiden Sprachen vorgetragen. Eine Übersetzung ist notgedrungen immer auch eine Interpretation.

Das Original und die Deutung müssen nicht immer genau übereinstimmen. Am krassesten wird das von Moses selbst im 5. Buch demonstriert. Moses führte das Volk der Israeliten vierzig Jahre durch die Wüste, durfte aber nicht mit in das ersehnte Land einziehen, obschon er nach dem Bericht der Tora zwar alt war, sich aber guter Gesundheit erfreute. Warum wohl? Es gibt dazu zwei Antworten, zwei Versionen. Im 4. Buch heißt es, dass er sich gegen Gott versündigt hatte: Und JHWH sprach zu Mose: Steig auf dies Gebirge Abarim und sieh auf das Land … Und wenn du es gesehen hast, sollst du auch zu deinen Vätern versammelt werden, wie dein Bruder Aaron … weil ihr meinem Wort ungehorsam gewesen seid als die Gemeinde haderte und ihr mich vor ihnen heiligen solltet (4. M., K. 27, V. 12 ff.). (Diese Stelle habe ich bereits in einer Parascha besprochen. Die Begründung schien mir nicht überzeugend.) Andererseits gibt es im 5. Buch eine andere Begründung für die Bestrafung Moses: Auch mir grollte JHWH euretwegen und sagte: Auch du sollst nicht in das Land hineinkommen (K. 1, V. 37). Und wiederholt einige Seiten weiter: Und JHWH war so erzürnt über mich wegen eures Tuns, dass er schwor, ich sollte nicht über den Jordan gehen noch in das gute Land kommen (K. 4, V. 21).

Laut der Version im 5. Buch der Tora hatte Moses nichts Schlimmes getan, er wurde im Zuge der Israeliten, also ihretwegen, sozusagen im Schlepptau bestraft. Beide Begründungen für solch eine schwerwiegende Bestrafung des treuen Hirten sind keineswegs überzeugend. Als ob Moses mit der Führung des Volkes nicht schon reichlich bestraft worden war!

Es gibt noch viel mehr Unstimmigkeiten in der Bibel, die hier nicht einzeln aufgeführt werden können. Die Gelehrten hatte im Laufe der Jahrhunderte Divergenzen auszugleichen, mindestens zu erklären. Denn das in der Tora geschriebene Wort ist bekanntlich heilig, und deshalb muss es auch notgedrungen richtig sein. Dabei mussten die Gelehrten ihren Verstand sehr anstrengen und ihren Sinn für Thesen und Hypothesen schärfen. (Vielleicht haben die Juden auf diese Art und Weise ihre Begabung für den Anwaltsberuf trainiert.) Abgesehen davon war es für das Überleben lebensnotwendig immer wieder, manchmal sogar in jeder Generation, das geschriebene Wort den sich geschichtlich ändernden Entwicklungen und Veränderungen in den Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen. So konnte die Tora in vielerlei Hinsicht aktuell bleiben.

Schabbat Schalom

Dr. Gabriel Miller absolvierte umfangreiche rabbinische und juristischen Studien, war Leiter der Forschungsstelle für jüdisches Recht an der Universität zu Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft. Außerdem gibt er die bei den Lesern von haGalil längst gut bekannte Website juedisches-recht.de heraus.

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