Wir sind da!

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Wir sind da!

Das Buch zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“

Von Justyna Michniuk

Bei dem Wort „Jude“ denken die meisten an die Shoa oder den Nahostkonflikt. Die Allerwenigsten denken an jüdische Künstler, Philosophen, Musiker, Nobelpreisträger oder an die Kaufleute, die die Geschichte Deutschlands über Jahrhunderte mitgestaltet haben und es immer noch tun. Obwohl die Vergangenheit schmerzhaft ist und die Wunden noch nicht geheilt sind und niemand weiß, ob sie überhaupt irgendwann einmal heilen, jüdisches Leben im heutigen Deutschland ist einfach eine Tatsache. „Wir sind da!“, das Buch zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ stellt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland vor, ihre Geschichte und ihre Fragen an die Zukunft. 

Das Buch zeigt die große Vielfalt der jüdischen Kultur und der jüdischen Gesellschaft, denn nicht alle Juden sind heutzutage gläubig oder haben mit der Religion überhaupt etwas zu tun. Die Publikation weist auch auf die jahrhundertlange Diskussion über die ‚Jüdischkeit‘ hin und diskutiert mit, dadurch dass sie verschiedene Argumente und Meinungen dem antworthungrigen Leser serviert. ‚Wer ist ein echter Jude?‘ haben sich die Gelehrten schon vor Jahrhunderten gefragt. Die Frage blieb aber bis heute offen, obwohl mir orthodoxe Juden dabei nicht recht geben werden. Heute wird vermehrt über sofg. Vaterjuden diskutiert und die Frage, wer Jude ist, bleibt weiter umstritten. Miriam Weiss, eine 1971 geborene ‚jüdische Aktivistin‘, die nach der Halacha keine Jüdin ist, berichtet im Buch über sich selbst so: ‚Die Nazis hätten mich als Jüdin in die Gaskammer geschickt, und die orthodoxen Rabbiner behandeln mich als Goj“.

Ist ‚ein normales jüdisches Leben in Deutschland möglich‘, fragt Uwe von Seltmann. Jüdische Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben erzählen ihre Ansichten dazu und nennen zahlreiche Beispiele als Argument. Am Ende aber muss jeder Leser selber nachdenken, ob die genannten Zahlen und Fakten ein Beweis für ein normales jüdisches Leben darstellen. Und was heißt eigentlich ‚normal‘? Auf der Straße ohne Angst Davidstern oder die Kippa tragen zu können? Oder sich vor nichtjüdischen Freunden, die Judenwitze erzählen, ohne Bedenken als Jude/Jüdin outen zu können? Oder am Shabbat in die Synagoge gehen zu dürfen, die keine bewaffneten Männer schützen? Wir sind da, aber sind wir sichtbar? Das ist die Frage, die ich mir immer wieder stelle, wenn ich judenfeindliche Kommentare und Statements höre. Oder wenn mich jemand schief im Bus anguckt, weil er/sie nicht entziffern kann, was meine Kette darstellt (es ist das Wort ‚chai‘).

Das Buch enthält auch ein Kapitel mit sieben Porträts von völlig unterschiedlichen Jüdinnen und Juden, darunter auch Personen, deren Namen die ganze Welt gehört hat, aber die nicht mehr für sich selber sprechen können, wie Anne Frank oder Moses Mendelssohn.

Wer über die jüdische Geschichte in Deutschland etwas mehr lernen möchte, hat mit dem Buch eine richtige Publikation für sich gefunden. Sie bietet eine zuverlässige Quelle kompakten Wissens über die jüdische Geschichte in den letzten 1700 Jahren in Deutschland, die sich angenehm liest. Zahlreiche Begriffe werden am Rand in einem Kasten erläutert. Im Anhang findet man zudem eine Zeittafel.

Wir sind da und wir sind unterschiedlich, kommen aus verschiedenen Länder, sprechen oft unterschiedliche Muttersprachen, sind streng gläubig oder kennen gar keinen Gott. Was uns aber verbindet, sind unsere Wurzeln. Wir sind oft volens nolens Teil der großen Familie Namens Judentum. Wir waren da, sind da, und werden wahrscheinlich trotz aller Hindernisse weiterhin da sein… Und es ist auch gut so, denn das Judentum gehört nicht nur zu Deutschland, sondern auch zur Welt und trägt zur Vielfalt der Kulturen, Traditionen, Sprachen und Religionen bei. Das Buch von Uwe Seltmann nimmt seine Leser mit auf die Reise durch jüdische Vergangenheit und Gegenwart.

Uwe von Seltmann, Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, homonculus Verlag 2021, 344 S., Euro 29,00, Bestellen?

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