Lemberg ist Poesie  –  wie alle Heimat

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Adam Zagajewski at Kulturhuset in Stockholm February 25, 2014 , Frankie Fouganthin / CC BY-SA 4.0

Jetzt ist Lemberg gestorben, jetzt ist es Gedicht. Der Tod mit 75 ist ein zu früher Tod. Immer sterben Dichter zu früh, auch Übersetzer, wenn sie denn Nach-Dichter sind und waren, eben wie Karl Dedecius (1921-2016) und Henryk Bereska (1920-2005). Adam Zagajewski starb am 21. März 2021 in Krakau, in jener Stadt, die ihren Habsburger Charme hinüberweht nach Lemberg, das einst zu den K und K-Kronländern gehörte. Dort wurde er 1945 geboren. Der Krieg zerstörte ihm die Heimat, die stalinistische Sowjetunion holte sich Lemberg in die Sowjetrepublik Ukraine und machte aus der von 1921 bis 1939 zu Polen gehörenden Stadt eine kommunistische. Und die Familie wurde weggeschoben, vertrieben, dorthin, wo einst die Deutschen wohnten und der Zweite Weltkrieg begann, nach Gleiwitz. Die Westverschiebung Polens bestimmte dieses Schicksal. 1,5 Millionen Polen ging es so…

Von Matthias Buth

Macht erobert und bestimmt das Land. Dagegen schreiben Lyriker an, denn diese leben in der Internationalität der Dichter und in den globalen Staaten des Geistes. Und vier Sprachen beherrschte der Pole aus Galizien und hatte somit Belesenheit, Bildung und Horizont. Er war neben Polen in Deutschland, Frankreich und in den USA zu Hause, kannte die Dichtersprachen anderer und schöpfte aus den Quellen seiner Empfindungen, durch Ratio und Widerspruch gesteuert.

„Nach Lemberg fahren. Von welchem Bahnhof / nach Lemberg, wenn nicht im Traum, bei Tagesanbruch, / wenn Tau die Koffer bedeckt und Schnellzüge und Torpedos / eben geboren werden…“. So beginnt „Nach Lemberg fahren“, jene große Elegie aus und für die Stadt seiner Geburt und „Den Eltern“ gewidmet, denen die Stadt ja nur durch deren Leben und Wirken erfahrbare Heimat gewesen war. Insofern ist es ein doppeltes Liebesgedicht. Übersetzt, nein: nachgedichtet wurde es im selben Geiste von Karl Dedecius (der in Lodz geboren wurde), dem Grand Seigneur der polnisch-deutschen Literatur.

…“ich werde dich nie wiedersehen. So viele Tode / warten auf dich, warum muss jede Stadt zum Jerusalem werden und jeder Mensch zum Juden, und jetzt nur in Eile / packen, ständig, täglich / atemlos fahren nach Lemberg, es ist ja / vorhanden, ruhig und rein wie / ein Pfirsich. Lemberg ist überall.“

So endet das Poem und sogleich beginnt man wieder, es zu lesen. Es endet nie. Denn es ist Dichtung, die bewahrt und verlässt in einem. Das Unbehaustsein, das Heimat sein kann – im Text. Zagajewski mischt in seinen Gedichten rhetorische und metaphorische Elemente, so sind seine Texte den Essays nah und die Essays den Gedichten. Der Massenmord an den Twin Towers am 11.9.2001, der den NATO-Krieg „gegen den Terror“ auslöste, erschütterte den Lemberger im Gedicht und er fand die poetische Sprache dazu, die in Polen und Galizien wurzelt. „Besinge die verstümmelte Welt / und die graue Feder, die die Drossel verlor /und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet/ und wiederkehrt.“ Das sind Zeilen, die in den USA dankbar aufgenommen wurden, sie kommen aber aus den Grundmotiven seiner Gedichtbände und Essaysammlungen: der Verlust an Welt und die Zerstörung der Freiheit.

1979 hatte der Dichter Polen verlassen, ging nach Berlin (West), bis ihm Paris sicheres Exil wurde, denn in Krakau, wo er seit 1963 lebte, herrschten kommunistischer Zwang und literarische Bevormundung, Solidarnosc war noch fern. Dies verstärkte seine melancholische Grundstimmung, die sich zur inneren Zerrüttung und Depression auswuchs und die er auch in der Seine-Stadt zwar nicht ablegen, aber besser ertragen konnte. Zagajewski war freundschaftsbegabt und so mit allen Autoren von Rang im Gespräch, mit Dedecius sowieso und mit den Landsleuten wie Zbigniew Herbert oder Wislawa Szymborska und Ursula Koziol. Zu Joseph Brodsky – er nannte ihn den „metphysischen Rowdy“ – bestand eine tiefe Freundschaft. Er war ein literarischer Großbürger, auch im Persönlichen und im Auftreten seiner Texte, souverän, bestimmt, kenntnisreich. Mit ihm durch Karl Corinos Musil-Biographie zu schlendern und seine fast süffisant hohe Wertschätzung von Gottfried Benn zu lesen, sind ein intellektuelles Vergnügen. Zu den Heroen der deutschen Lyrik, zu Kunze, Kirsch oder Huchel kam er weniger. Vielleicht lag das auch an seinem eher rhetorischen Impetus seiner Verse. Die Welt im Fingerhut, so wie bei Kunze, war nicht so sehr seine Sache. Er wollte „ein Zeitgenosse der Griechen“ sein, fühlte sich Hölderlin und auch Nietzsche näher als die deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts, erst recht der Gegenwart.

Und zudem hatte er Zugang zu einem Dichter, der meist übersehen wird und der seiner Lebens-Vanitas doch sehr entsprach: Nikolaus Lenau. In dessen Schilfliedern spiegelte er sich. Und Lenau kam auch aus K-Kanien, aber aus dem ungarischen Teil, der heute zu Rumänien gehört. Er flüchtete sich einige Zeit nach Amerika, aber musste und wollte dann wieder zurück auf den alten Kontinent. Dieser Weltschmerz-Dichter lag auf Zagajewskis literarischem Horizont. Als er 1996 in Esslingen von der Künstlergilde den eher schmalen Nikolaus-Lenau-Preis (zusammen mit Karl Dedecius als seinem Nach-Dichter) bekam, machte er seine Affinität deutlich. Der nun posthum erschienene Essayband „Poesie für Anfänger“ weist ihn einmal mehr als Dichter von Format, Sprache und Wärme aus.  Seine vorzüglichen Übersetzer, so auch Renate Schmidgall (sie schreibt schöne eigene Lyrik) und der Dedecius-Freund Henryk Bereska sollten immer mitbenannt werden, wenn seine Gedichte in Deutschland gelesen werden. Sie leuchten uns ins Herz. Denn nun wissen wir: Lemberg lebt und bleibt Poesie. „Polen, trockenes Fieber auf / Emigrantenlippen, Polen, / Landkarte, gebügelt von den schweren Eisen / der Fernzüge…“, schrieb er 1980 im Gedicht „Fieber“. Verse, die in die Gegenwart Polens reichen.  Es endet: „Der strenge Geruch des Frühlings weht herbei. / ein schreckliches Zeichen.“ Gedichte wissen mehr.

Foto: Adam Zagajewski 2014 in Stockholm, Frankie Fouganthin / CC BY-SA 4.0