Von Klárka Kopytková
Die Schwelle zu etwas Neuem bringt ein Gefühl der Unsicherheit mit sich, da wir nicht wissen, was sich auf der anderen Seite verbirgt. Martin Buber sagt, dass das Gefühl der Unsicherheit mit dem Dialog zusammenhängt. Wir befinden uns an einer Schwelle, auf der wir mit uns selbst, mit unserer Umgebung, aber auch mit Gott kommunizieren. Nach Martin Buber ist es für einen Dialog notwendig, offen zu sein und zuzuhören – das ruft Unsicherheit hervor, da wir uns auf eine Konfrontation vorbereiten. Dialog ist in seinem Verständnis nicht nur ein Gespräch. Es ist ein transformativer Moment, der eine gewisse Transzendenz berühren kann.
Nach Midrasch und Talmud wurde die Welt am 25. Elul (הרת עולם) erschaffen. Auf Rosch ha-Schana, den 1. Tischri, fällt also der sechste Schöpfungstag, an dem der Mensch erschaffen wurde. Wir erinnern uns damit sowohl an den Geburtstag der Welt als auch des Menschen.
In der Hebräischen Bibel gibt es viele Hinweise auf die Schöpfung, der markanteste in Bereschit (Vers 27): „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde – männlich und weiblich schuf er sie.“
Eine weitere Erwähnung von Adam und Eva lässt uns verstehen, dass es sich um ein Paar handelt, die ersten Menschen der Welt, die Protagonisten der Menschheit. Der Bibelprofessor am Schechter Institut für Jüdische Studien in Jerusalem und Rabbiner, David Frankel, hebt jedoch die Idee hervor, dass das Wort „adam“ nicht nur für den Menschen im Sinne des Individuums stehen kann, sondern auch für den Menschen im Sinne der Menschheit. Wenn wir genauer auf die Sprache in diesem Abschnitt schauen, finden wir Namen anderer Geschöpfe wie „Vogel“ (עֹוף), „Schwarm“ (ֶשֶרץ), „Wildtiere“ (ַחַית ָהָאֶרץ) und „Vieh“ (ַהְבֵהָמה). Im Hebräischen sind sie im Singular, bezeichnen aber eine kollektive Entität. Man stellt sich auch vor, dass Gott viele Tiere erschuf, nicht nur ein Paar, damit sie sich vermehren und die Erde füllen. Dieselbe Linguistik gilt hier für das Wort „adam“/ „Mensch“, das eine der Kategorien der Schöpfung ist, die nach dem Bilde Gottes erschaffen wurde.
Wenn wir das Wort „adam“ also im Plural verstehen, dann ist die Gemeinschaft im jüdischen Sinne eine heilige Angelegenheit, da sie nach dem Bilde Gottes erschaffen wurde. Was kann uns eigentlich die Gemeinschaft geben? Wir sind soziale Wesen, die sich durch die Gemeinschaft entwickeln und voranschreiten können und zugleich Kraft und Halt finden, mit dem wir dann der harten Welt entgegentreten. Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein und mit eigener Kraft und Energie zu ihr beizutragen, ist jedoch nicht einfach, denn es ist nicht bequem. Es erfordert Fürsorge, Empathie, Mitgefühl mit anderen, besonders mit jenen in schwierigen Situationen, auf die wir oft nicht zu reagieren wissen. Wie Hillel sagte: U’ch’scheani le’azmi, ma ani? – Wenn ich nur für mich selbst bin, was bin ich dann? (Pirkei Awot 1:14)
Integrität, seelische Ungeteiltheit, Ganzheit – auf Hebräisch Schalom – ist ein Wort, das in uns angesichts der heutigen Welt gemischte Gefühle hervorruft. Schalom bedeutet jedoch mehr als nur Nicht-Krieg. Es bedeutet Ganzheit, dass nichts fehlt und nichts zerbrochen ist. Es bedeutet Zusammenhalt und keinen Krieg mit sich selbst, keine zerrissene Seele, denn das macht uns unruhig. Es bedeutet, unsere Anstrengungen und Wünsche in eine Richtung zu bündeln, denn so können große Dinge erreicht werden. Menschen mit Integrität setzen sich ein Ziel des Richtigen und verfolgen es konsequent.
Was aber motiviert uns, das Richtige zu tun, und wo finden wir die innere Kraft, trotz aller gesellschaftlichen Zwänge richtig zu handeln? Ein Vorbild finden wir zum Beispiel im Propheten Jeremia, der die Zerstörung des salomonischen Tempels in Jerusalem durch die Babylonier miterlebte. Viele Menschen wurden in die Gefangenschaft verschleppt. Schon viele Jahre zuvor hatte er versucht, seine Umgebung zu warnen, dass Gott die Stadt nicht mehr schützen würde, wenn sie ihren Lebensstil nicht ändern, nicht aufhören würden, die Armen zu unterdrücken und heidnische Götzen statt des einen Gottes zu verehren. Dafür wurde Jeremia gehasst und sogar inhaftiert, da die Leute fürchteten, er stünde auf der Seite der Babylonier und wünsche sich deren Sieg. Doch er sagte nicht die Zukunft voraus, sondern sprach die Wahrheit. Er konnte nicht anders. Hätte er nicht gesagt, dass die Zerstörung des Tempels eine göttliche Strafe und nicht die Folge der militärischen Übermacht Babylons war und nicht auf die notwendige Herzens- und Verhaltensänderung hingewiesen, hätten die Juden im Exil vielleicht geglaubt, dass die Götter Babylons stärker seien als der Gott Israels.
Doch Jeremia musste in sich eine Stimme erkennen, die sich von allen anderen Stimmen und Gedanken unterschied und die ihm als innerer Kompass diente. Er beschreibt seine Erfahrung mit folgenden Worten: „Du hast mich überredet, Ewiger, und ich ließ mich überreden. Du hast mich bezwungen und überwältigt. Ich sagte: Ich will ihn nicht mehr erwähnen, nicht mehr in seinem Namen reden. Doch es war in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen; ich ermüdete, es zu ertragen, ich konnte nicht mehr.“ Joshua Heschel kommentierte diese Worte: „Damit ein Mensch ein Prophet wird, wird er nicht nur eingeladen. Es bedeutet, wider Willen einer Übermacht zu erliegen.“ Was auch immer die Stimme Gottes für eine Eingebung ist – sie ist mehr als nur ein Wunsch. Sie ist wie ein brennendes Feuer im Herzen, das sich nicht einfach löschen lässt. Vielleicht ist es wie die plötzliche klare Antwort in einem moralischen Dilemma oder die passende Formulierung, die uns beim Schreiben in den Sinn kommt.
Um unsere Kräfte zu erneuern und in Integrität und Ganzheit auch im kommenden jüdischen Jahr fortfahren zu können, ist es notwendig, unsere Richtung zu überdenken und uns von allen Interaktionen zu reinigen. Während des ganzen jüdischen Jahres wird unsere Seele nicht nur durch die unzähligen Entscheidungen belastet, die wir im Laufe des Jahres getroffen haben, sondern auch durch eine Dimension, die oft die nonverbale Kommunikation und den Kontakt mit Menschen betrifft – seien es unsere Nächsten oder auch nur Vorübergehende.
Im Jahr 2022 erhielten drei Physiker den Nobelpreis für Experimente mit einem wirklich bemerkenswerten Phänomen, das „Quantenverschränkung“ genannt wird. Es ist ein Phänomen, bei dem zwei Quantenpartikel (z. B. Photonen) ein gemeinsames Schicksal teilen. Ihre Zustände sind so miteinander verbunden, dass die Veränderung des Zustands eines Teilchens sofort den Zustand des anderen beeinflusst, selbst wenn sie sehr weit voneinander entfernt sind – vielleicht sogar auf der anderen Seite des Universums. Dieses Wissen findet Anwendung etwa in der Quanteninformatik.
In einem weiteren Kontext denke ich, dass es auch so etwas wie eine „geistige Quantenverschränkung“ geben muss. Zum Beispiel beeinflussen sich Israel und die Diaspora, obwohl sie weit voneinander entfernt sind, auf bemerkenswerte Weise gegenseitig. In gewöhnlichen zwischenmenschlichen Begegnungen überträgt sich manchmal die Stimmung oder Verfassung einer anderen Person auf uns, wenn wir in ihrer Nähe sind, und wir tragen diese Stimmung weiter mit uns. Und wenn sie negativ ist, ist es schwer, sie einfach loszuwerden. Ebenso kann es auch mit der ausgestrahlten Qualität des Verhaltens oder Denkens eines anderen Menschen sein, die uns entweder belastet oder erhebt.
Eine Unterbrechung und Reinigung von all diesen Störungen können wir durch Teschuwa vollziehen. Das Wort Teschuwa hat denselben Wortstamm wie va-jaschaw – „zurückkehren“, was wir auch in der Geschichte von Reuben finden können.
Reuben beobachtet, wie seine Brüder beschließen, Josef zu töten. Er schlägt vor ihn in die Grube zu werfen, um sein Leben zu retten. Das machen die Brüder und entscheiden sich dann, Joseph an eine vorbeigehende Gruppe der Midianiter zu verkaufen. Wir wissen dabei nicht, ob sich auch bei dieser Entscheidung Reuben zu Wort meldet, da der nächste Vers uns nur sagt: „Als Reuben zu der Grube zurückkam und Joseph nicht da war, zerriss Reuben seine Kleider.“ Das heißt: Ruben bereute, revidierte und wollte alles zurücknehmen, obwohl es schon zu spät war. Nach einem Midrasch (Midrasch Bereschit Rabba) sagte Gott, dass Reuben der Erste war, der sein Handeln überdachte und wirklich aufrichtig bereute.
Neben den Momenten, die wir bereuen, sollten wir uns jedoch auch an die guten Momente erinnern, in denen wir gute Entscheidungen getroffen haben, denn auch diese sind Teil von Cheschbon Nefesch (Rechenschaft der Seele).
Ich hoffe, dass es uns gelingt, Stabilität zu finden, uns bewusst zu werden, wo wir gerade stehen und wohin wir gehen. Treten wir in das nächste Jahr ein mit Integrität in uns selbst, die gewiss auch Auswirkungen in unseren Gemeinschaften haben wird.
In Psalm 27, der typischerweise vom Beginn des Monats Elul bis Hoschana Rabba (dem siebten Tag von Sukkot) rezitiert wird, spiegeln sich Vertrauen in Gott, Flucht, Zweifel, aber auch Hoffnung. Die meisten Psalmen beginnen mit der Schilderung einer bedrängten Situation und gehen über in Rettung und Erlösung. Dieser Psalm unterscheidet sich jedoch von anderen dadurch, dass er mit dem Vertrauen in Gott beginnt, mit dem Gefühl der Einsamkeit und der Suche nach einem sicheren Ort fortfährt und mit Hoffnung endet:
„Hoffe auf den Ewigen, sei stark und dein Herz sei mutig.“
Mit offenem Herzen, Ganzheit und Bereitschaft zum Dialog seien wir am echad we lev echad (ein Herz, ein Volk) – in unseren Gemeinschaften, aber auch in der weiteren Gesellschaft.
Schana towa u’metuka
Klárka Kopytková ist Rabbinerstudentin am Abraham-Geiger-Kolleg und hat im vergangenen Jahr in der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom hospitiert.