„Bitte ergebenst mir nicht meine Wohnung zu kündigen“

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Plakat zur Ausstellung „Zwangsräume“ in Berlin, Foto: aus dem besprochenen Band

Antisemitische Wohnungspolitik in Berlin 1939-1945

„Keine Hausgemeinschaft mit Juden“, lautet die Schlagzeile im „Völkischen Beobachter“ vom 18. September 1938. Rund ein halbes Jahr später wurde diese Forderung formaljuristisch wirksam. Mit dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ konnte nun allen jüdischen Mietern grundlos gekündigt werden. Eine Unterbringung unter beengten Verhältnissen in sogenannten Judenwohnungen, in Gebäuden die sich noch in jüdischem Besitz befanden, wurde angeordnet. „Meine Eltern und wir zwei Kinder bewohnten nun zu viert ein Zimmer. Es war Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer, in einem“, erinnert sich eine Zeitzeugin.

Ab 1939 waren etwa die Hälfte aller Juden und Jüdinnen in Berlin gezwungen, ihr angestammtes Zuhause zu verlassen. Die von ihnen bewohnten Unterkünfte waren nun oft ihre letzten Wohnorte vor der Deportation und Ermordung. Mit diesen Menschen und den rund 800 Häusern, in denen sich diese Zwangswohnungen befanden, beschäftigt sich die Publikation „Zwangsräume – Antisemitische Wohnungspolitik in Berlin 1939–1945“. Der Band basiert auf einem mehrjährigen Forschungsprojekt, das vom „Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e. V.“ zusammen mit der „Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin“ durchgeführt wurde. Die Ergebnisse flossen zunächst in eine digitale Ausstellung (https://zwangsraeume.berlin/de) ein, die 2023 in deutscher und englischer Sprache online ging. Mit der nun vorliegenden Publikation wird der historische Sachverhalt auf breiter Quellenbasis in sechs Kapitel vertiefender und detaillierter dargestellt und kontextualisiert. Auf einige Beiträge sei näher eingegangen.

Da die administrative Vorgeschichte der Shoa, die Zwangsräumungen von jüdischen Wohnungen, bislang nur wenig thematisiert wurde, geben zwei einführende Texte sowohl einen kurzen historischen Überblick zur spezifischen Situation der Berliner Juden als auch eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse wieder. Im nächsten Kapitel werden die staatlichen Stellen vorgestellt, wie etwa Stadtverwaltung, Gestapo und der Fiskus, die mit den Zwangsräumungen, den späteren Deportationen und der damit verbundenen Verwertung von Mobiliar und anderen Vermögenswerten befasst waren. Das Vorgehen der Finanzbehörden, die sich „im Kampf gegen das Judentum in vorderster Front“ befanden, wie ein Beamter in einem Artikel in der „Deutschen Steuerzeitung“ schrieb, wird in dem Artikel mit der Formulierung „fiel der Finanzverwaltung auch immer wieder Immobilienbesitz aus jüdischem Vermögen zu“, leider etwas euphemistisch umschrieben.

Anschließend werden mit einem Bilderreigen deutlich die „Entmietungen“ im öffentlichen Raum mit Plakaten, Hinweisen und Fotos an Häusern dokumentiert, während in der Abteilung „Häuser, Wohnungen und Biografien“ Detailstudien von einzelnen Gebäuden und den Lebensgeschichten der todgeweihten jüdischen Bewohner erzählt werden. Ihre „freigemachten“ Wohnungen wurden anschließend den deutschen Volksgenossen zugewiesen, die nach den letzten Habseligkeiten der Deportierten gierten: „In der Wohnung der Juden befinden sich einige Sachen, die ich gut gebrauchen könnte“, schrieb etwa eine „arische“ Hausfrau an die Finanzbehörde. „Vor allem lege ich Wert auf die Betten einschl. Kinderbett.“ Ein hoher Beamter aus dem Reichfinanzministerium kommentierte dieses maßlose Verlangen sarkastisch: „Die Volksgenossen stürzen sich wie die Aasgeier auf die warmen Judensemmeln.“

Die Einweisung von Juden in Zwangswohnungen, „Judenhäusern“ oder Sammelunterkünften wurde reichsweit durchgeführt. Gleichwohl unterschieden sich die Situationen und das konkrete Vorgehen in den einzelnen Städten wie anhand der Beiträge zu Köln, Dresden und Wien dargestellt wird.

Das vorletzte Kapitel gibt Einblick in die Quellen, widmet sich den methodischen Ansätzen des Forschungsprojektes und ihrer Umsetzung, die sich über Social Media, als digitale Ausstellung und letztlich als Buchprojekt an ein breites Publikum wendet. Im Epilog werden im Gespräch mit den Historikern Norbert Frei und Steffen Jost die Ergebnisse des Projektes reflektiert und diskutiert.

Die reichbebilderte und mit vielen faksimilierten historischen Dokumenten versehene Publikation stellt einen gelungenen und äußerst informativen Abschluss des Projektes „Zwangsräume“ dar. Gewöhnungsbedürftig ist leider das durchgängige Gendern, das insbesondere bei Texten, die sich auf die Zeit des Nationalsozialismus beziehen, zu Irritationen führen und den Lesefluss beeinträchtigen kann. – (jgt)

Akim Jah/Christoph Kreutzmüller (Hg.), Zwangsräume. Antisemitische Wohnungspolitik in Berlin 1939–1945, 376 Seiten, 130 Abb., Metropol Verlag Berlin 2024, 34,00 €, Bestellen?

Das Buch steht auch im Open Access als PDF zur Verfügung, siehe:
https://metropol-verlag.de/texte-zum-download/