Der erst 14jährige Heinz Abrahamsohn, später Zvi Aviram (1), hatte den damals schon 38jährigen Robert Georg Michel (2) Anfang der 1940er Jahre während der Zwangsarbeit bei den Deutschen Tachometer-Werken (Deuta-Werken) in Berlin-Kreuzberg kennengelernt. Seine Geschichte des Untertauchens wurde schon mehrfach publiziert, die seines älteren Freundes Robert Georg Michel ist dagegen nahezu unbekannt. Michel, Zwangsuntermieter in der Templiner Straße 17, bestärkte Heinz Abrahamsohn, mit ihm unterzutauchen, verweigerte aber im entscheidenden Moment, den gemeinsamen Plan zu realisieren.
Von Jeanette Jakubowski
Nach der 8. Klasse hatte Heinz Abrahamsohn 1941 eine Ausbildung zum Schlosser in einem Umschulungslager für jüdische Jugendliche begonnen. Doch schon wenige Wochen später wurde er im Juni 1941 zur Zwangsarbeit einberufen. Die Eltern wurden vom Arbeitsamt zur Arbeit in der Schuhmacherei der Jüdischen Gemeinde und in einer Schneiderei für Uniformen verpflichtet: Heinz sah sie seitdem wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten nur noch am Wochenende. Die jüngere Schwester Betty war schon im Sommer 1939 mit einem Kindertransport nach London und von dort nach Australien gelangt. Seiner Mutter war es nicht gelungen, auch Heinz noch auf die Liste für den Kindertransport zu setzen. Heinz‘ Lieblingsonkel, Kommunist und Jude, war bereits emigriert, eine geliebte Tante deportiert worden.
Die Zwangsarbeit entfernte Heinz zudem von Gleichaltrigen. In seiner Schicht von 22 Uhr bis 6 Uhr früh war er der jüngste. Er musste Messinstrumente für die Kriegsindustrie prüfen, eine Arbeit, die körperlich nicht schwer war, aber sehr anstrengend für die Augen. Eng schloss er sich an Robert Georg Michel an, der ihn „schnell ins Herz schloss“.(3) Sie verbrachten die Pausen zusammen und fassten zueinander Vertrauen.
Michel war einer von zwei Untermietern der dreiköpfigen Familie Lippmann im ersten Stock im Vorderhaus der Templiner Straße 17 in Berlin-Prenzlauer Berg.(4) Seit 1935 wohnte die Familie hier. Vater Artur Lippmann war Gärtner. Ein weiterer Untermieter bei Lippmanns war der sechs Jahre ältere Hermann David. Die Wohnung hatte nur „2 Stuben & Küche, oh. Komfort“ (5) also auch kein Bad für vier erwachsene Personen und Alfred, den 15jährigen Sohn der Lippmanns. Die Toilette befand sich, wie in vielen Berliner Altbauten, außerhalb der Wohnung. Für den starken Raucher und wahrscheinlich geh- und sehbehinderten Michel war dies sicherlich nicht einfach.
Michels Leben lässt sich aus seiner erhalten gebliebenen Akte aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden, den Prozessakten von 1937, zwei Erinnerungstexten Avirams, den biographischen Video- Interviews des Jüdischen Museums Berlin und der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sowie einzelnen Informationen aus dem Prozess um Franz Kaufmann recht gut rekonstruieren.(6)
Der Erste Weltkrieg und die nachfolgenden Wirtschaftskrisen belasteten nichtjüdische und jüdische Familien, führten zum Phänomen der „verwilderten Jugend“ und zu verstärkten Generationenkonflikten.(7) Michel war 1917 mit 14 Jahren von Berlin in die „Israelitische Fürsorgeanstalt Repzin“ (heute poln. Rzepczyno) gekommen, der einzigen Fürsorgeanstalt in Deutschland für schwererziehbare männliche jüdische Jugendliche mit zu dieser Zeit 60 Plätzen. Zwischen 1901 und 1923 durchliefen diese Anstalt 531 Kinder und Jugendliche zwischen sechs Jahren bis Anfang 20.(8)
Die Repziner Zöglinge kamen aus sogenannten schwierigen Familien, vor allem aus der Unterschicht. Schon in ihren Herkunftsfamilien hatten sie häufig Gewalt, Vernachlässigung und nicht selten sexuellen Missbrauch erfahren. Andere entsprachen nicht den Vorstellungen ihrer bürgerlichen, aufstiegsorientierten oder streng orthodoxen Eltern. Viele von ihnen waren bereits vorbestraft wegen Bettelei und Landstreicherei, die damals strafbar waren, Diebstahl und auch sexuellem Missbrauch. Besonders schwierige Fälle mussten das Heim verlassen.(9)
Ob es sich bei Robert Michels Herkunftsfamilie auch um eine solche Familie handelte, lässt sich an Hand der wenigen Quellen nicht entscheiden. Robert Michels Vater Johann war Kaufmann. Seine Mutter Adele starb schon 1913, da ist Robert erst 10 Jahre alt. Die Kriegs- und Nachkriegszeit mag die Belastungen in der Familie noch verstärkt haben.(10) Michel hatte vier ältere Geschwister und eine jüngere Schwester. Ein weiterer jüngerer Bruder starb kurz nach der Geburt. Michels ältester Bruder wurde 1928 per Gerichtsbeschluss für tot erklärt. Bis auf diesen und Robert Michel selbst hatten alle Geschwister eine moderne, städtische Berufsausbildung, ein Hinweis darauf, dass sie nicht in der Fürsorge landeten.
Repzin, fünf Stunden von Berlin mit dem Zug entfernt, abgelegen auf dem Land in Westpommern im heutigen Polen,(11) gehörte nicht zu den schlechtesten Fürsorgeanstalten der Zeit. Die Zöglinge sollten sich bessern, trafen aber auf ein hierarchisches System, in dem erneut Strenge, Strafen wie Essensentzug und – wie allgemein im Schul- und Fürsorgesystem der damaligen Zeit – insbesondere Schläge zur Disziplinierung eingesetzt wurden. Gewalt hatte jedoch häufig schon zuvor die Jungen aus ihren Familien vertrieben. Die meisten Schläge wurden in der Anstalt wegen Faulheit und Ungehorsam und Widerspruch ausgeteilt. Dazu kamen u.a. Diebstahl und Fluchtversuche, aber auch Onanie und homosexuelle Aktivitäten. Letztere waren im Kaiserreich und der Weimarer Republik strafbar. So konnte nicht die beklagte „Unehrlichkeit“ der Jungen gebessert, sondern bestenfalls der opportunistische Untertan herangebildet werden.(12)
Aspekte des Alltags der Anstalt enthielten gefängnisähnliche Züge, so z.B. die dauernde Kontrolle und Aufsicht, oder die Strukturierung des Alltags durch den langen neunstündigen Arbeitstag. Alle Maßnahmen sollten wie im Gefängnis der Besserung der Insassen dienen.(13) Wegen ihrer Stigmatisierung als Führsorgezöglinge waren die Jungen schwer in Lehrstellen zu vermitteln. Häufig gelang es ihnen dort nicht, den neuen Anforderungen zu genügen.(14) Auch Robert Michel beendete seine Ausbildung als Glaser in Berlin nicht.
Die Zöglinge blieben im Durchschnitt ein Jahr in Repzin, manche auch 2 bis 2 1/2 Jahre.(15) Michel war etwa 2 1/2 Jahre dort, ein Hinweis darauf, dass ihn seine Familie nicht aufnehmen konnte oder wollte, und dass er auch nicht die Voraussetzungen für ein selbständiges Leben hatte. Seine längere Anwesenheit im Heim weist aber auch darauf hin, dass er nicht zu den schwierigsten Fällen gehörte.
Nach der Fürsorgeerziehung kehrte Michel Anfang 1922 nach Berlin zurück, in ein Leben in prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen. Er arbeitete als Laufbursche und als Hausdiener in der Gastronomie. Ab 1929 war er arbeitslos. Vor seiner Verhaftung Anfang 1937 wohnte er gelegentlich bei dem nur wenig älteren Adolf Markowitz, ebenfalls ein ehemaliger Repziner Fürsorgezögling,(16) sowie zum Schluss im nichtjüdischen ‚Groß Berliner Männerheim „Zentrum“‘ in der Gormannstraße 22 in Berlin Mitte.(17)
Formen von Kasernierung, dann im Strafvollzug, begleiteten Michel auch in seinem späteren Leben. Von Zeit zu Zeit wurde er straffällig. 1920 war Michel wegen Unterschlagung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, 1926 als „arbeitsscheu“. In den wirtschaftlich schwierigen Zeiten Ende der 1920er Jahre wurde er erneut verurteilt: 1928 wegen Hausfriedensbruchs, so wie auch Markowitz, und 1929 wieder wegen Unterschlagung.(18)
Von 1930 bis Ende 1932 war Robert Michel, inzwischen fast 30 Jahre alt, Mitglied der Kommunistischen Partei und der „RH“(Roten Hilfe). In der KPD war er „Unterkassierer“. Vor der Machtübernahme verkaufte Michel die „Rote Fahne“, das Presseorgan der KPD.(19) Vom 12. März bis zum 31. Mai befand er sich wie viele deutsch-jüdische Kommunisten kurze Zeit in „Schutzhaft“. Es „schwebte“ ein Verfahren gegen ihn wegen der Verbreitung illegaler Schriften, das aber mangels Beweisen im Mai 1933 eingestellt wurde.(20) Danach nahm er seine Kontakte zur Roten Hilfe wieder auf.(21) 1935 arbeitete er einige Zeit auf dem Rittergut Brunow bei Bad Freienwalde.
Am 26.01.1937 kam er erneut in Untersuchungshaft in die Strafanstalt Berlin-Plötzensee.(22) Das Berliner Kammergericht fällte seit 1934 viele Urteile gegen Regimegegner.(23) In einem solchen Prozess wurde Robert Georg Michel im Frühjahr 1937 angeklagt und zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus und drei Jahren Ehrenrechtsverlust verurteilt.(24)
Von 1933 bis 1936 hätte er, so warf ihm die Anklage vor, mit dem verheirateten jüdischen Arbeiter Adolf Markowitz zur Vorbereitung des Hochverrats einen „organisatorischen Zusammenhalt“ hergestellt, um „die Massen durch Verbreitung von Schriften zu beeinflussen“.(25) Mitangeklagt war neben Michel und Markowitz ursprünglich auch der nichtjüdische Arbeiter Max Förster, der jedoch freigesprochen wurde. Ehemals Mitglied der KPD und des Rotfrontkämpferbundes war er im Herbst 1933 zur Gegenseite übergelaufen und hatte vermutlich beide bei der Gestapo angeschwärzt.(26) Mit dem nichtjüdischen „Portefeullier“, Gruppenkassierer der Roten Hilfe und „Stadtteilleiter“(27) Paul Böttcher,(28) der vor ihm abgeurteilt wurde, hatte Michel bis Anfang 1936 illegale Zeitschriften getauscht: „Tribunal“ und „Solidarität“ gegen die von dem „Juden Sobel“(29) erworbene Stettiner Zeitschrift „Hammer und Sichel“.(30) An Böttcher hatte er auch Spenden von 20 bis 50 Pfennig für illegale Sammlungen gezahlt. Die Zeitschriften gab Michel an die Mitangeklagten Markowitz und Förster weiter. Michel gab an, er hätte nicht den Mut gehabt, die oppositionellen Zeitungen zu verkaufen. Er hätte sie immer nur in Briefkästen gesteckt oder in andere Zeitungen gewickelt und auf Plätzen und Bänken abgelegt. Den Preis für die Zeitungen hätte er aus eigener Tasche gezahlt. Das glaubte ihm das Gericht jedoch nicht. Der ehemalige Verkäufer der Roten Fahne hätte sie sicherlich weiterverkauft.(31) Von Böttcher bekam Michel 1935 zudem vier Plaketten aus Aluminium, die er an Markowitz weitergab. Sie zeigten auf der einen Seite ein zerbrochenes Hakenkreuz, auf der anderen Hammer und Sichel.(32) Mit Markowitz und dessen Frau hatte Michel auch den „Moskauer Sender“ gehört.(33) Im Untersuchungsverfahren gestand er schließlich zwei weitere Unterschlagungen, die ihm drei Monate Haft zusätzlich einbrachten. Weil er als „rückfällig“ galt, war die Haft dafür weit länger als noch bei seinen Diebstählen in den 1920er Jahren.(34)
In seinem Urteil vom 12. Juni 1937 bezeichnete das Berliner Kammergericht Michel abschließend als „moralisch minderwertigen Menschen“: „Zu seinen Gunsten spricht lediglich sein Geständnis, durch das er zur Aufklärung des Sachverhaltes beigetragen hat. Mit Rücksicht auf die Ehrlosigkeit die sein heimtückischer Kampf gegen den Bestand des Staates verrät, erschien es erforderlich, ihm die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von drei Jahren abzuerkennen.“(35) Der Verlust der Ehrenrechte, seit der Kaiserzeit Kennzeichen einer besonders schweren oder langen Strafe, wie die Zuchthausstrafe, inklusive Veröffentlichung des Urteils, zielte in der NS-Zeit explizit auf die Beschämung und Brandmarkung der bestraften Person.(36) Entsprach die Formulierung von der „moralischen Minderwertigkeit“ des Angeklagten noch der bürgerlichen Einstellung gegenüber Angehörigen der Unterschicht, die nicht den bürgerlichen Normen entsprachen,(37) so waren die Begriffe „Ehrlosigkeit“ und „heimtückischer Kampf“ einerseits stereotype antisemitische Vorurteile, andererseits Standardvorwürfe gegen alle Regimegegner in der NS-Justiz.(38)
Im Gefängnis Plötzensee saß Robert Michel in „Zellenhaft“ und bekam „Zellenarbeit“.(39) Anfang August 1937 wurde er in das Zuchthaus Brandenburg-Görden überführt. Das Zuchthaus war zwischen 1933 und 1945 meistens überbelegt. Viele der Gefangenen galten als politische Gegner, wie auch Michel. „Der Strafvollzug war von Hunger, gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen und einer nach rassistischen Kriterien abgestuften Behandlung geprägt.“(40) Schon ab 1934 gab es hier antisemitische Verordnungen. Wie Michels Haftbedingungen genau waren, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Weil Michel im Zuchthaus als „mosaisch“ bekannt war, war er vermutlich im sogenannten „Judenflügel“ untergebracht und musste in den „Judenkolonnen“ arbeiten.
Im September 1939 wurde Michel entlassen.(41) In seinem Lebenslauf für das Zuchthaus hatte er geschrieben, dass er niemanden wüsste, der sich nach seiner Entlassung um ihn kümmern könne. Ins „Männerheim“, nun „Fremdenheim“ in der Gormannstraße, konnte er nicht zurückgehen. Die neuen antisemitischen Gesetze verhinderten jetzt, dass Juden bei Nichtjuden einzogen. Seine ältere Schwester Hertha Becker nahm ihn zunächst in ihrer Wohnung in Berlin-Schöneberg auf. Doch schon bald wurde er vermutlich Untermieter in der Templiner Straße 17.
Bis zu seiner Deportation verkaufte oder lieferte Michel Lebensmittelkarten u.a. an den Unterstützerkreis für untergetauchte Jüdinnen und Juden um Franz Kaufmann, eine Tätigkeit im grauen Bereich, für die es bei eingeschränkten Lebensmittelmarken und Einkaufszeiten für jüdische Menschen auch noch weitere Abnehmer gab. (42)
Wann genau Michel zur Zwangsarbeit bei den Deuta-Werken verpflichtet wurde, lässt sich nicht mehr herausfinden. In ihrer nächtlichen Arbeitspause dort erzählte Michel dem jungen Heinz, der sich als Einzelgänger empfand und seine Eltern und gleichaltrige Freunde vermisste,(43) von seinem Leben „früher“(44) und seinen Freunden und Genossen bei der KPD, mit denen er noch in Verbindung stünde. In Heinz‘ Alter hatte Michel in Repzin Kontakt zu anderen Jugendlichen gehabt. Hier hatten die älteren Fürsorgezöglingen einander und den neugierig lauschenden jüngeren von ihren „Landstraßen-, Herbergs-, und Gefängnisabenteuern“ berichtet, sehr zum Missfallen des Repziner Direktors A. Baronowitz, der vergeblich versuchte, dies zu unterbinden.(45)
Heinz Abrahamsohn gestand Michel seine illegalen Ausflüge allein ohne Judenstern mit dem Fahrrad ins Strandbad Wannsee und, nach dem er im November 1942 sein Fahrrad hatte abgeben müssen,(46) zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Kino. Selbst seinen Eltern hatte er nichts davon erzählt. Zusammen schmiedeten sie Pläne, wie sie der Deportation entkommen könnten und malten sich ihr Leben in der Illegalität aus.
Ob Heinz etwas von Michels Leben in Repzin und seinen Gefängnisaufenthalten erfuhr, ist nicht bekannt.(47) Offenbar konnte sich Michel aber gut in ihn einfühlen. Geborgenheit, einfühlsame Gespräche oder auch Tagträume fördern Resilienz in belastenden Situationen.(49) In ihren Gesprächen und Träumereien konnte sich Heinz zumindest im Mitempfinden und in der Phantasie typisch jugendliche Bedürfnisse nach Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung und Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen vorstellen.(49) Für sie gab es für jüdische Jugendliche in der damaligen Zeit kaum eine Möglichkeit. Dabei bekam er wohl auch einen ersten Eindruck vom Leben ohne Familie und am Rande der Legalität. Und auch Michel verlor sich in ihren Phantasien.(50) Was auch immer Michel seinem jungen Kameraden über sein Leben erzählt hat, seine Erzählungen haben Heinz in seiner kritischen Haltung und Rebellion bestärkt ohne ihn einzuschüchtern oder zu verängstigen.
Michel war für Heinz in dieser Entwicklungsphase zudem die einzige Person, die mit ihm offen über die politische Situation redete. Er besprach mit Heinz auch die Gerüchte, die seit Ende Oktober 1941 über die angeblichen Arbeitseinsätze im Osten entstanden. Ende 1942 waren sich beide sicher, dass es nicht mehr lange dauern könnte, bis alle Berliner Juden ausnahmslos deportiert würden. In Heinz reifte so der Entschluss, sich nicht deportieren lassen, und Michel versprach, mit ihm gemeinsam in die Illegalität zu gehen.
Am 27. Februar 1943, dem Tag der Fabrikaktion, kam Heinz am frühen Morgen von der Nachtschicht nach Haus und fand seine Eltern nicht mehr vor. Als er am nächsten Tag von einem Spaziergang zurückkehrte, war die Wohnungstür der Familie Abrahamsohn in der Zehdenickerstraße 2 versiegelt. Von einer befreundeten nichtjüdischen Nachbarin im Haus erfuhr er, dass die Eltern abgeholt und ins Sammellager in der Synagoge Levetzowstraße gebracht worden waren. Er solle nachkommen, ließen ihm die Eltern ausrichten. Heinz beschloss trotz Zweifel und Angst, nicht mit den Eltern mitzugehen, sondern fürs erste in Berlin zu bleiben. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass er ja, wenn nötig, noch später den Eltern nachfahren könne.(51) Zunächst besuchte er Verwandte, die in „Mischehe“ lebten. Sie konnten ihn nicht aufnehmen. Enttäuscht und verunsichert wollte er nun mit Michel untertauchen, suchte ihn zu Hause auf und warnte ihn vor der bevorstehenden Deportation. Der Lastwagen der Abholer stand schon in der Straße.
Michel erklärte, er säße gerade beim Essen.(52) Er wollte und konnte, chronisch krank, zur großen Enttäuschung von Heinz nicht mitkommen. In letzter Minute holte sich Heinz von Michel noch die Adresse eines KPD-Genossen, bei dem er zwei Wochen später Unterkunft fand. Für diesen Genossen verteilte er dann, bewaffnet mit einer Pistole, gelegentlich nachts in der S-Bahn, voller Angst, aber stolz über seinen Auftrag, illegale Flugblätter der KPD gegen den Krieg.(53) Inzwischen half ihm auch seine nichtjüdische Tante und ein bei ihr versteckt lebender jüdischer Onkel. Über einen Freund fand Heinz Anschluss an den von Edith Wolff und Jizchak Schwersenz geleiteten „Chug Chaluzi“ (Kreis der Pioniere), eine jüdische Jugendgruppe im Untergrund, und überlebte „mit dem Mut der Verzweiflung“.(54)
Michel wurde dagegen kurz nach ihrem letzten Treffen über das Sammellager in der Großen Hamburgerstraße 26 am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert; seine Mitbewohner folgten nur zwei Tage später. Keiner von ihnen überlebte.
Anmerkungen:
(1) Zvi Aviram, geboren 25.01.1927 in Berlin, gestorben 23.10.2020 in Israel.
(2) Robert Georg Michel Michel, geboren am 25.02.1903 in Berlin, deportiert nach Auschwitz am 02.03.1943. Er starb dort zu einem unbekannten Zeitpunkt. (BLHA, Robert Georg Michel, Rep. 36 A -ii- 26962, Bl. 29.)
(3) Zvi Aviram, Mit dem Mut der Verzweiflung. Mein Widerstand im Berliner Untergrund 1943-1945, hrsg. Von Beate Kosmala u. Patrick Siegele, Berlin 2015, S. 40.
(4) Zvi Aviram nannte die Choriner Straße als Michels Wohnadresse. Darin irrte er sich. Beide Straßen, von neoklassizistischen Mietshäusern bestanden, sehen sehr ähnlich aus, liegen nah beieinander und laufen teilweise parallel, so dass sie leicht verwechselt werden können. In Michels Vermögensakte und der Deportationsliste, ist die Templinerstraße 17 angegeben. (Siehe: BLHA, Robert Georg Michel, 36 A II, Nr. 26962, Bl.3; https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127212477; Siehe auch Adresse und Aussage der Nachbarin Herta Zauber, in: BLHA, 12C Staatsanwalt beim Sondergericht Berlin II Nr. 18617, Bl. 115, 116/I, 117); sowie: Katrin Rudolph, Hilfe beim Sprung ins Nichts. Franz Kaufmann und die Rettung von Juden und
„nichtarischen“ Christen, Berlin, 2. Aufl. 2017, S. 216 (Anm. Nr. 76))
(5) BLHA, Robert Georg Michel, 36 A -ii- 26962, Bl. 3.
(6) Zvi Aviram, Mit dem Mut der Verzweiflung. Mein Widerstand im Berliner Untergrund 1943-1945, hrsg. Von Beate Kosmala u. Patrick Siegele, Berlin 2015; Kroh, Ferdinand: Zvi Abrahamsohn – Zwei Jahre auf der Flucht; in: ders.: Ferdinand Kroh: David kämpft. Vom jüdischen Widerstand gegen Hitler, Hamburg, 1988, S. 183-190; Jüdisches Museum Berlin, Zeitzeuge im Gespräch: Zvi Aviram: https://www.jmberlin.de/zeitzeugengespraech-mit-zvi-aviram; Yad Vashem: My Rebellion: The Story of Zvi Aviram: https://www.yadvashem.org/education/testimony-films/zvi- aviram.html; BLHA, Rep. 29 Brandenburg, Nr. 15193; BArch R 3018/14143; BArch R 3017/28352; Rudolph, Hilfe
beim Sprung, 1. Aufl. 2005, S. 75 f.; S. 136 f.; 2. Aufl. 2017, S. 111, S. 215.
(7) Claudia T. Prestel, Die jüdische Familie in der Krise. Symtome und Debatten; in: Kirsten Heinsohn u. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 108 f., 115 f.
(8) Claudia Prestel, Jugend in Not. Fürsorgeerziehung in deutsch-jüdischer Gesellschaft (1901-1933), Wien, Köln, Weimar, 2003, S. 14-16, 71, 341, 397.
(9) Prestel, Jugend in Not, S. 97 ff, 137-139, 141, 395-398; Claudia Prestel, „Youth in Need“. Correctional Education and Family Breakdown in German Jewish Families, in: Michael Brenner u. Derek J. Penslar (Hg.): In Search of Jewish community. Jewish Identities in Germany and Austria, Bloomington and Indianapolis, 1998, S. 207 f.; Prestel: Die jüdische Famlie in der Krise, S. 108-114, 118 f.)
(10) Vgl.: Sharon Gillerman, The Crisis of the Jewish Family in Weimar Germany; in: Michael Brenner u. Derek J. Penslar (Hg.), In Search of Jewish community. Jewish Identities in Germany and Austria, Bloomington and Indianapolis, 1998, S. 180 f.)
(11) https://belgard.org/orte/Repzin/.
(12) Prestel, Jugend in Not, S. 139, 142-147, 149 f., 156-167, 214, 347, 350, 390.
(13) Prestel, Jugend in Not, S. 114 f., 119, 133-135, 144, 286 f., 347 f., 350. Vgl. Zu Formen der Überwachung: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 17. Aufl. 2019, S. 302 f., S. 305, 308 – 313.
(14) Claudia Prestel: Jugend in Not, S.368-370, 372-382.
(15) Claudia Prestel: Jugend in Not, S. 112.
(16) Markowitz, geb. 08.10.1902 in Gnesen (Gniesno), deportiert am 17.11.1941 nach Kauen (Kowno) Fort IX, dort gest. am 25.11.1941, war nach seinen Angaben bis 1918 in Repzin, nach Michels Angaben in seinem im Herbst 1937 im Zuchthaus Brandenburg-Görden geschriebenen Lebenslauf kam er selbst erst 1919 dorthin.
(17) BArch, R 3018/14143, Bl. 11.
(18) BLHA,Rep. 29 Brandenburg, Nr. 15193, Bl. 61.
(19) BArch, R 3018/14143, Bl. 9.
(20) BArch, R 3018/14143, Bl. 10.
(21) BArch, R 3018/14143, Bl. 3 f.
(22) BArch, R 3018/14143, Bl. 2.; BLHA,Rep. 29 Zuchthaus Brandenburg (Nr. 15193),Bl. 21, 55, 58.
(23) Siehe: Johannes Tuchel: Die Todesurteile des Kammergerichts 1943 bis 1945, Berlin 2016, S. 13 f.; https://www.lukasverlag.com/ebooks/titel/426-die-todesurteile-des-kammergerichts-1943-bis-1945.html.
(24) BLHA,Rep. 29, Brandenburg, Nr. 15193,Bl. 62, 48.
(25) BArch, R 3018/14143, Bl. 2
(26) BArch, R 3018/14143, Bl. 6, 12.
(27) BArch R 3017/28352, Bl. 22.
(28) Georg Paul Max Böttcher, geb. am 11.09.1875 in Berlin, verh. seit dem 26.05.1917 mit Gertrud Antonia Margarete, geb. Bösel, gest. 10.03.1951 in Berlin.
(29) BArch, R 3018/14143, Bl. 10. ; BArch, R 3017/28352, Bl. 20.
(30) BArch, R 3018/14143, Bl. 4.
(31) BArch, R 3018/14143, Bl. 10.
(32) BArch, R 3018/14143, Bl. 10, 11.
(33) BArch, R 3018/14143, Bl. 4-6.
(34) BLHA,Rep. 29 Brandenburg, Nr. 15193,Bl. 19. Vgl. zum Konzept der Rückfälligkeit im Strafrecht: Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S. 128. Vgl. für die Gegenwart: (https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%BCckfall_(Strafrecht); https://www.wikiwand.com/de/R%C3%BCckfall_(Strafrecht))
(35) BArch, R 3018/14143, Bl. 10 u. 2. Markowitz wird mit einem Jahr und neun Monaten bestraft .(BArch, R 3018/14143, Bl. 2.)
(36) Jede Strafe wurde ab 1935 zudem als Ehrenstrafe definiert. ( Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt am Main, 2017, S. 52, S. 61 ff.)
(37) Prestel, Jugend in Not, S. 141; Claudia Prestel, Praktisches Judentum, fürsorgliche Belagerung und moderne Sozialarbeit – die Versuche zur Integration von Randgruppen (1901-1933), in: Stefi Jersch-Wenzel, Francois Guesnet, Gertrud Pickhan, Andreas Reinke und Desanka Schwara (Hg.), Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa, Köln, Weimar u. Wien, 2000, S. 359, Anmerkung Nr. 8). In wie weit in dieser Formulierung Vorstellungen von „unerziehbar“ in einem rassistischen und eugenischen Sinn eine Rolle spielen, lässt sich nicht nachweisen. Seit dem Ende der 20er Jahre gewannen solche Vorstellungen an Einfluss, u.a. auch als Folge der ökonomischen Krisen.
(38) Für den Hinweis danke ich Dr. Beate Kosmalla, Berlin.
(39) BLHA, Rep. 29 Brandenburg, Nr. 15193, Bl.39.
(40) https://www.brandenburg-zuchthaus-sbg.de/ns-zuchthaus/
(41) BLHA,Rep. 29 Brandenburg, Nr. 15193, Bl. 25.
(42) Nach Michels Deportion übernahm Ernst Hallermann diese Tätigkeit für den Kreis um Franz Kaufmann, dann Heinz Abrahamsohn. (Rudolph, Hilfe beim Sprung, 1. Aufl., 2005, S. 75 f.; S. 136 f.; 2. Aufl., S. 111, S.215, vgl. zur kommunistische Herbert-Baum-Gruppe: Hans Fruck, 1964, in: Michael Kreutzer: Die Suche nach einem Ausweg, der es ermöglicht in Deutschland als Mensch zu leben. Zur Geschichte der Widerstandsgruppen um Herbert Baum; in: Wilfried Löhken/ Werner Vathke: Juden im Wiederstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion, Berlin 1939-1945, Berlin, 1993, S. 127.
(43) Jüdisches Museum Berlin, Zeitzeuge im Gespräch: Zvi Aviram, Take: 52:00 ff.; Yad Vashem: My Rebellion: The Story of Zvi Aviram, Take: 1:02:14 ff.
(44) Aviram: Mit dem Mut der Verzweiflung, S.40.
(45) Prestel, Jugend in Not, S. 140 f., 150 f., 347. Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 193 f., S. 302, S. 304f., S. 313., S. 326, S. 380.
(46) Aviram, Mit dem Mut der Verzweiflung, S. 42.
(47) Beate Kosmala meinte, dass Avirams Erinnerungen zum Zeitpunkt der Befragung für sein Buch nicht mehr ganz klar waren. Er hätte vermutlich aber auch nichts über Michels Vorleben erfahren. (Beate Kosmala, Email an die Autorin vom 14.12.2023)
(48) Boris Cyrulnik, wie werden wir resilienter? | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur – YouTube (https://youtu.be/pM- oBGH3OXA?si=XJZRMyzpSnqxPyOc), Take: 29: 88-34:45.
(49) Barbara Stambolis, Barbara, Bewegte Jugend – Jugendbewegung(en) im 20. Jahrhundert: Aspekte deutscher und deutsch-jüdischer Geschichte; in: Doron Kiesel (Hg.): Die jüdische Jugendbewegung. Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung, Leipzig, 2001, S. 15-17.
(50) Aviram, Mit dem Mut der Verzweiflung, S. 41.
(51) Aviram, Mit dem Mut der Verzweiflung, S. 45; Zu inneren persönlichen Konflikten vor den Deportationen: Walter Zwi Bacharach, Dies sind meine letzten Worte… Briefe aus der Shoah, Göttingen 2006, S. 65 f.
(52) Nach Avirams Erinnerung, sagte Michel, dass er mit seinen Eltern gerade frühstücke und sie nicht verlassen könne. Offenbar hatte Heinz, der mit der Trennung von seinen Eltern mental zu kämpfen hatte, Robert Michel falsch verstanden. Michels Eltern waren zu diesem Zeitpunkt schon tot. (Jüdisches Museum Berlin, Zeitzeuge im Gespräch: Zvi Aviram,Take: 1:06: 26 ff.; ähnlich auch: Yad Vashem: My Rebellion: The Story of Zvi Aviram, Take: 25: 29/1:02:16 ff.).
(53) Zur Art der Flugblätter: Regina Scheer, Die Herbert-Baum-Gruppe; in: Doron Kiesel (Hg.): Die jüdische Jugendbewegung. Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung, Leipzig, 2001, S. 246.
(54) Titel von Zvi Avirams Biographie, siehe Anmerkung Nr. 3.