Der „ehrbare Antisemitismus“ kehrt zurück

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Jéan Amery warnte vor einem „ehrbaren Antisemitismus“ seit Ende der 1960er Jahre, womit der „Antizionismus“ von links gemeint war. Heute erweisen sich seine damaligen Beobachtungen erstaunlich aktuell. Anlass zur Auseinandersetzung mit ihnen liefert eine Neuedition seiner Texte.

Von Armin Pfahl-Traughber

Der Artikel beginnt mit folgenden Sätzen: „Wird der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig? Die Frage wäre noch vor fünf Jahren als ziemlich absurd erschienen oder auch – wenn von Juden gestellt als Ausdruck leicht paranoider Gemütsverfassung. Dies hat sich, so will mir scheinen, radikal geändert. …“ (S. 73). Die Aussagen könnten aus der Gegenwart stammen, entsprechen sie doch aktuellen Einschätzungen und Wahrnehmungen. Indessen handelt es sich um den Beginn eines Essays aus dem Jahr 1976. Geschrieben hat ihn Jean Améry, ein bedeutender Intellektueller in den 1960er und 1970er Jahren. Allgemein erinnert man an ihn nicht nur in der Antisemitismusforschung aufgrund einer besonderen ironischen Formulierung: „der ehrbare Antisemitismus“. Gemeint war damals der Bezug auf eine neue Gruppe, welche durch ihre Aktivitäten die Judenfeindschaft propagierte: die neue Linke. Améry, der sich selbst als politischer Linker verstand, nahm diesen Sachverhalt verbittert wahr. Dies erklärt wohl mit seinen 1978 erfolgten Selbstmord.

Nun liegt ein schmaler Band mit sieben Essays aus den Jahren 1969 bis 1978 vor. Aufgrund der zeitgenössischen Bezüge wirken sie auf den ersten Blick inhaltlich veraltet, auf den zweiten Blick könnten sie aber auch wie gegenwärtige Statements wirken. Inhaltlich kreisen alle um die Frage, wie es bezogen auf Israel, Juden und Linke um das Verhältnis steht. Amérys autobiographische Betrachtungen „Mein Judentum“ (1978) stehen dabei an erster Stelle, entgegen der Chronologie für die jeweilige Erstpublikation, aber um des besseren Verständnisses willen berechtigterweise. Dort zeigt sich der Autor als jemand, der dem Judentum sowohl fern wie nahe steht. Ferne ergab sich dadurch, dass er in christlichen Kontexten aufwuchs. Nähe ergab sich daraus, dass ihm von außen ein „Judesein“ aufgetragen wurde. Er sah sich wohl immer irgendwie zwischen den Stühlen, was auch die folgenden Essays veranschaulichen: „Der ehrbare Antisemitismus“ (1969), „Die Linke und der Zionismus‘ (1969), „Juden, Linke – linke Juden“ (1973).

Die bereits erwähnte Formulierung, eben „Der ehrbare Antisemitismus, bezieht sich nicht auf die traditionelle Judenfeindschaft. Es geht um die Aversionen, die sich als Israelfeindlichkeit artikulieren. Améry schrieb: „Fest steht: der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Antizionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar“ (S. 42). Er artikuliere sich etwa in der Rede vom „Verbrecherstaat Israel“, die von Einseitigkeiten und Verzerrungen geprägt sei. Diese Ausrichtung konnte man gerade auf der Linken ausmachen, was Améry aufgrund seiner eigenen linken politischen Identität besonders empörte. Ganz entschieden betonte er: „Die Linke muss redlicher sein. Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus“ (S. 50). Dabei gehörte Améry keineswegs zu Israels unkritischen Verehrern. Immer wieder betonte er seine Distanz zur damaligen israelischen Politik, sei es bezogen auf die „Besatzung“, sei es bezogen auf die Orthodoxen, sei es bezogen auf die Repression. Kurzum, Améry konnte man schwerlich eine blinde Apologie unterstellen.

Er betonte dann in den folgenden Artikel „Der neue Antisemitismus“ (1976), „Der ehrbare Antisemitismus“ (Rede) (1976) und „Grenzen der Solidarität (1977) immer wieder gegenüber der Linken, wie wichtig die Existenz Israels eben für jeden Juden sei: „Er weiß aber noch mehr: Nämlich, dass, wenn immer es ihm, wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen“ (S. 68). Genau für diese Auffassung fehle eben der Linken nicht nur die Sensibilität, ein Antisemitismus erwachse aus ihrem Antizionismus mit innerer Konsequenz. Améry stand somit zwischen den Fronten, kritisierte er doch die linke Israelfeindlichkeit wie die israelische Politik. Eine bemerkenswerte Differenzierung durchzieht denn auch seine Kommentare, womit er dann auch zwischen den Extrempositionen einen schwierigen Standpunkt einnahm. So etwas bringt einem in polarisierten Debatten nicht unbedingt Freunde ein, bestärkt aber hoffentlich den genauen Blick und ein konstruktives Unterscheidungsvermögen. Amérys Essays regen dazu bis in die Gegenwart an.

Jean Améry, Der neue Antisemitismus. Mit einem Vorwort von Irene Heilderberger-Leonard, Stuttgart 2024 (Klett-Cotta), 126 S., 18 Euro, Bestellen?