Durch shoahrelativierende und israeldämonisierende Äußerungen hat sich Masha Gessen – (nicht-binäre*r) russisch-amerikanische*r Autor*in und Journalist*in – als würdige*r Hannah-Arendt-Preisträger*in disqualifiziert.
Von Thomas Tews
Am Freitag, den 15. Dezember, sollte Masha Gessen den renommierten »Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken« im Bremer Rathaus verliehen bekommen. Der rechtliche und politische Träger des Preises ist der »Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.« mit Sitz in Bremen, wobei das Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Senat der Freien Hansestadt Bremen gestiftet wird.
Als Kritik an Gessens am 9. Dezember im Magazin »The New Yorker« erschienenen Essay »In the Shadow of the Holocaust. How the politics of memory in Europe obscures what we see in Israel and Gaza today« (»Im Schatten des Holocaust. Wie die Erinnerungspolitik in Europa verdunkelt, was wir heute in Israel und Gaza sehen«) laut wurde, erklärte die Heinrich-Böll-Stiftung (Bremen/Bund) am 13. Dezember ihren Rückzug aus der Veranstaltung zur Preisverleihung. Daraufhin entzog der Bremer Senat die Erlaubnis zur Benutzung der Oberen Rathaushalle für die Preisverleihung. Letztere und das Symposium zu Ehren Gessens sollen nun am Samstag, den 16. Dezember, in einem kleineren Rahmen stattfinden.
In dem umstrittenen Essay berichtet Gessen, bei einem Besuch des Jüdischen Museums Berlin im November beim Anblick einer Shoahgedenkinstallation an die Tausenden von Bewohner*innen des Gazastreifens, die von Israel als Vergeltungsmaßnahme getötet worden seien, gedacht haben zu müssen. Der naheliegendere Gedanke, dass es sich bei dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober um das größte antisemitische Massaker seit der Shoah handelt und nun der jüdische Staat, dessen Gründung durch die Shoah zu einer historischen Notwendigkeit geworden war, vor der schwierigen Aufgabe steht, sein Schutzversprechen, ein sicherer Hafen für Jüdinnen*Juden weltweit zu sein, einzulösen und sicherzustellen, dass die Hamas nie wieder vom Gazastreifen aus die jüdische Zivilbevölkerung Israels massakrieren kann, scheint Gessen beim freien Assoziieren im Jüdischen Museum leider nicht gekommen zu sein.
Die Situation des Gazastreifens in den letzten 17 Jahren vergleicht Gessen mit jener jüdischer Gettos in den von NS-Deutschland besetzten mittel- und osteuropäischen Ländern. Dabei verkennt Gessen das spezifische Charakteristikum der nationalsozialistischen Gettos, das der Historiker Dan Diner wie folgt beschreibt:
»Im Getto, dem von den Nazis hermetisch abgesonderten Judenbezirk, wurden dessen Insassen durch Inszenierung lebensweltlicher Normalität über ihre tatsächliche Lage getäuscht. Es sollte so scheinen, als habe sich nichts Einschneidendes ereignet. Dabei kam dem Getto eine dramatische Bestimmung zu: Es diente als Stau- und Warteraum des Todes.«[1]
Dessen ungeachtet treibt Gessen den absurden Gettovergleich noch weiter auf die Spitze mit der Behauptung, Gaza werde wie die nationalsozialistischen Gettos »liquidiert«.
Um sich gegen die erwartbare Kritik an dem NS-Vergleich zu immunisieren, verweist Gessen auf einen 1948 anlässlich eines USA-Besuches Menachem Begins, des Gründers der israelischen »Freiheitspartei«, von Hannah Arendt und anderen Intellektuellen verfassten offenen Brief an die »New York Times«. Darin heißt es zu Beginn:
»Zu den beunruhigendsten politischen Phänomenen unserer Zeit gehört das Auftauchen der ›Freiheitspartei‹ (Tun’at Haherut) im jüngst geschaffenen Staat Israel. Diese Partei ist in ihrer Organisationsstruktur, ihren Methoden, ihrer politischen Philosophie und ihrer sozialen Anziehungskraft nationalsozialistischen und faschistischen Parteien eng verwandt.«[2]
Dass jedoch zwischen dem Vergleich einer einzelnen israelischen Partei mit nationalsozialistischen und faschistischen Parteien und dem Vergleich der Lage im Gazastreifen mit der nationalsozialistischen Gettoisierung und anschließenden Auslöschung jüdischen Lebens, die auf eine Shoahrelativierung und Israeldämonisierung hinausläuft, ein eklatanter Unterschied besteht, sollte Gessen bewusst sein.
Zudem verkennt der Verweis auf Arendts offenen Brief ihre nichtsdestotrotz ungebrochene Israelsolidarität, zu der Thomas Meyer, der Herausgeber der Studienausgabe von Arendts Werken im Piper-Verlag, in seiner in diesem Jahr erschienenen Arendt-Biografie Folgendes anmerkt:
»1967 und 1973, als Israel zwei Kriege austragen musste, war Hannah Arendt nicht ›nur‹ emotional auf der Seite des angeblich von ihr bekämpften Staates, sondern auch politisch.«[3]
Wie ausgeprägt Arendts Verbundenheit mit Israel trotz aller Kritik war, dokumentiert eindrücklich ein an ihre Freundin Mary McCarthy adressierter Brief vom 17. Oktober 1969, in dem Arendt schreibt:
»Aber ich weiß auch, daß jede wirkliche Katastrophe in Israel mich tiefer berühren würde als fast alles andere.«[4]
Angesichts dieser klaren Worte darf zumindest bezweifelt werden, dass Arendt mit den politischen Ansichten Gessens einverstanden wäre. Ihre Instrumentalisierung für Gessens politische Agenda ist daher entschieden zurückzuweisen. Hier dürfen weder die Politik noch der Kulturbetrieb indifferent bleiben, denn, um noch einmal Arendt zu zitieren: »Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist.«[5]
Foto: Masha Gessen, 2015, (c) Bengt Oberger / CC BY-SA 4.0
[1] Dan Diner: Über kognitives Entsetzen, in: Saul Friedländer/Norbert Frei/Sybille Steinbacher/Dan Diner/Jürgen Habermas: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust. C.H.Beck, München 2022, S. 69–86, hier S. 80.
[2] Übersetzung zitiert nach Hannah Arendt: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Wagenbach, Berlin 1991, S. 117.
[3] Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie. Piper, München 2023, S. 243.
[4] Hannah Arendt/Mary McCarthy: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975. Hrsg. und mit einer Einführung von Carol Brightman. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz und Hans Moll. Piper, München 1995, S. 366.
[5] Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlass hrsg. von Jerome Kohn. Aus dem Englischen von Ursula Ludz. Nachwort von Franziska Augstein. Piper, München 2007, S. 150.