Vor 50 Jahren gründete der bekennende Anthroposoph Götz W. Werner den Drogeriekonzern »dm«. An Rudolf Steiners krudem, teils antisemitischen Weltbild scheint er sich nicht gestört zu haben.
Von Thomas Tews
Am 28. August 1973 eröffnete Götz W. Werner (1944–2022) den ersten »dm«-Laden in Karlsruhe. Einige Jahre später präsentierte »dm« mit der Kindertextilmarke »Alana« seine erste Eigenmarke. Heute ist »dm« Deutschlands umsatzstärkster Drogeriekonzern, in dessen deutschlandweit über 2.000 Filialen täglich bis zu zwei Millionen Menschen einkaufen.
Firmengründer Werner war ein überzeugter Anhänger der von Rudolf Steiner (1861–1925) begründeten Anthroposophie. In seiner 2013 erschienenen Autobiografie beschrieb er die Bedeutung der Anthroposophie für sein Unternehmertum: »Ich entdeckte die Anthroposophie als eine Fundgrube für meine Tagesproblematik, aber auch für meine mittel- und langfristigen Überlegungen. … Die Anthroposophie wurde für mich als Unternehmer das, was dem Architekt die Statik ist.«
Laut seiner Autobiographie erkannte Werner in »Reinkarnation und Karma« die Antwort auf die großen Fragen des Lebens: »Seit ich mich das erste Mal damit beschäftigt habe, war mir klar, dass es gar nicht anders sein kann, als dass wir wiedergeboren werden, dass das Leben sonst gar keinen Sinn hat. Dinge wie Schuld und Sühne, Glück und Pech, Krankheit und Wohlsein etc. könnte man sich sonst nicht erklären.« Um den von Werner geteilten anthroposophischen Reinkarnationsglauben zu illustrieren, soll später noch ein konkretes Beispiel ausgeführt werden.
Sein Steinerlektüreerlebnis beschrieb Werner in seiner Autobiografie wie folgt: »Man kann die Erkenntnisse Steiners nicht nachmessen, nachwiegen oder nachzählen wie Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Aber man kann diese Sätze zur Kenntnis nehmen, man liest und lässt die Worte quasi gegen sein Bewusstsein und seine Seele schlagen.«
Auch in seinem 2014 im anthroposophischen Verlag Freies Geistesleben erschienenen Buch »Wann fällt der Groschen?« bezieht sich Werner positiv auf Steiner: »Es geht um ›die von Weisheit erleuchtete und von Liebe erwärmte Tat des Menschen‹, wie es Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, so pointiert formulierte.« Das von Werner gewählte Steinerzitat suggeriert Menschenfreundlichkeit. Aber war Steiner, von dem das rechtsextreme »Compact«-Magazin im Coronajahr 2021 schrieb, dass er »für viele Querdenker, Impf-Kritiker, Patrioten und Gegner des Great Reset … ein Leitstern« sei, wirklich ein Menschenfreund? Dieser Frage soll im Folgenden am Beispiel von Steiners Verhältnis zum Judentum nachgegangen werden.
Steiner schrieb 1888 in der »Deutschen Wochenschrift« von der angeblichen Überlebtheit des Judentums, das ein Entwicklungshemmnis für die »abendländischen Kulturideen« darstelle, und forderte, ganz im Fahrwasser des deutschnationalen Antisemitismus, die kulturelle Eliminierung des Judentums durch Assimilation: »Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. … Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt haben, sollten doch am besten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat.«
1897 verharmloste Steiner in einem anlässlich des ersten Zionistenkongresses in Basel geschriebenen Aufsatz die Gefahr des Antisemitismus und sah das Problem stattdessen in der entstehenden zionistischen Bewegung: »Viel schlimmer als die Antisemiten sind die herzlosen Führer der europamüden Juden, die Herren Herzl und Nordau. … So ungefährlich der Antisemitismus an sich ist, so gefährlich wird er, wenn ihn die Juden in der Beleuchtung sehen, in die ihn die Herzl und Nordau rücken.«
Am 28. April 1905 schrieb Steiner in einem Brief an seine spätere zweite Ehefrau Marie von Sivers: »Wir sind noch nicht ganz christlich, und die Einschläge semitischer Art von früher sind noch da, aber sie sind eben das Zersetzungsferment. … Die Zersetzung ist ja schon zum Kindergift pädagogisch in den Kindergärten geworden.« Die Verwendung von Begriffen wie »semitisch« und »Gift« spricht eine deutliche Sprache.
In einem am 16. Mai 1908 in Berlin gehaltenen Vortrag erklärte Steiner seinen Zuhörer*innen den fantasierten Zusammenhang zwischen spiritueller Entwicklung und rassischer Höherentwicklung und insinuierte unter Rückgriff auf die alte christlich-antijüdische Legende vom »ewigen Juden« Ahasver (der der Legende nach auf ewig dazu verflucht sein soll, unstet und flüchtig über die Erde hasten zu müssen, weil er als Jerusalemer Schuster dem kreuztragenden Jesus eine Ruhepause vor seinem Haus verweigert habe), dass die Juden deshalb nicht rassisch aufsteigen könnten, weil sie Christus die Gefolgschaft verweigert hätten: »Und wenn andere Menschen, welche auf die großen Führer der Menschheit hören und die Seele mit dem ewigen Wesenskern bewahren, in einer vorgeschrittenen Rasse wiedererscheinen, so wird der, der von dem großen Lehrer nichts hat wissen wollen, der den großen Menschheitsführer von sich stößt, immer in derselben Rasse wiedererscheinen, weil er nur die eine Gestalt hat ausbilden können. Das ist die tiefere Idee des Ahasver, der immer in derselben Gestalt wiederkehren muß, weil er die Hand des größten Führers, des Christus, von sich gewiesen hat. So ist die Möglichkeit für den Menschen vorhanden, mit dem Wesen einer Inkarnation zu verwachsen, den Menschheitsführer von sich zu stoßen, oder aber die Wandlung durchzumachen zu höheren Rassen, zu immer höherer Vervollkommnung.«
In einem am 8. Mai 1924, knapp ein Jahr vor seinem Tod, in Dornach gehaltenen Vortrag erhob Steiner den aus dem gnostisch-pantheistischen Gehalt der Anthroposophie folgenden Vorwurf, die Juden leugneten als Monotheisten, dass Naturerscheinungen von »geistigen Wesenheiten« belebt seien. Zudem hätten ihr Monotheismus zu »Volksegoismus« und ihr Bilderverbot zu fehlender »bildhafter Veranlagung« geführt.
Im selben Vortrag klagte Steiner über jüdischen Einfluss auf die Medizin, der er die esoterische anthroposophische Heilkunde gegenüberstellte: »Man weiß nicht mehr, wie das eine Mittel wirkt, geradesowenig wie man im Judentum gewußt hat, wie die einzelnen Naturgeister sind. … Und erst hier in der Anthroposophie, wo man wieder zurückgeht auf die einzelnen Naturgeister, erkennt man auch wieder, was in den einzelnen Kräutern und Steinen an Naturkräften enthalten ist.« Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass im »dm«-Sortiment verschiedene »Heilerden«, »Gua-Sha-Steine« aus Bergkristall oder Rosenquarz sowie eine Creme mit »Sonnenstein-Pulver« zu finden sind.
Anschließend bezichtigte Steiner die Juden, den Antisemitismus durch ihr Beharren auf den Monotheismus selbst hervorzurufen. Zudem sprach Steiner sich gegen die Idee eines jüdischen Staates aus und dem Judentum gänzlich die weitere Existenzberechtigung ab, da seine spirituelle Mission, den Monotheismus zu entwickeln, erfüllt sei: »Da alles dasjenige, was die Juden getan haben, jetzt in bewußter Weise von allen Menschen zum Beispiel getan werden könnte, so können die Juden eigentlich nichts Besseres vollbringen, als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so daß das Judentum als Volk einfach aufhören würde. … Und daher ist diese jüdische Mission als solche, als jüdische, nicht mehr notwendig in der Entwickelung, sondern das einzig Richtige ist, wenn die Juden durch Vermischung mit den anderen Völkern in den anderen Völkern aufgehen.« Hier findet sich also wieder die These von der Überlebtheit des Judentums, die bereits der junge Steiner verbreitet hatte.
1997 erschien im anthroposophischen Perseus-Verlag in Basel die Autobiografie der Schwedin Barbro Karlén, die behauptet, in ihrem früheren Leben Anne Frank gewesen zu sein. Im Nachwort schreibt der Anthroposoph und Gründer des Perseus-Verlages Thomas Meyer: »Insofern das Deutschtum in diesem Jahrhundert seine spirituelle Aufgabe vergaß, wurde sie zum Teil von Menschen übernommen, die in ihrer letzten Inkarnation am undeutsch gewordenen Deutschtum zugrundegehen mußten. Wäre die Reinkarnationsidee im Deutschtum wirklich verbreitet worden, so hätte es keinen Holocaust gegeben«. Schuld an der Shoah war also nicht der (von Steiner teils verharmloste) Antisemitismus der Deutschen, sondern ihr undeutsch gewordenes Deutschtum, das seine spirituelle Aufgabe vergessen hatte. Wem bei der Lektüre dieses kruden, geschichtsrevisionistischen Weltbildes übel geworden sein sollte, findet im »dm«-Markt seines Vertrauens die passende Heilerde gegen Magenbeschwerden.
Zum Thema:
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners
Bild oben: Rudolf Steiner um 1905, Foto: Abbildung übernommen aus Wolfgang G. Vögele, Der andere Rudolf Steiner – Augenzeugenberichte, Interviews, Karikaturen, 2005, S. 116 –